Von Amelie Schenk
Bozen, 15. März 2002
Die Spuren
der zwei letzten harten Winter sind noch im Spätherbst 2001
in den Bergen des hohen Altai im äußersten Westen der
Mongolei krass sichtbar. Vielerorts sieht man die verblichenen
Knochen der verendeten Tiere. Nicht genug: aufgrund der
großen Dürre und der mageren Weiden des letzten
Sommers sagen viele einen wiederum extremen Winter mit
Tierverlusten voraus, denn die Tiere haben kaum Reserven.
Dort leben im wesentlichen zwei Völker: die Tuwa, deren
ursprüngliche Heimat die Bergwelt des Altai ist und die
Kasachen, die etwa vor hundert Jahren zugewandert sind und nun
die geschäftig-dominierende Mehrheit darstellen und die
Tuwa, die etwas schwerfälliger sind, mehr und mehr
zurückdrängen. Es hat ein Aussterben der Kultur der
Tuwa, ihrer Sprache und ihrer nomadischen Lebensform eingesetzt,
das nun noch zusätzlich durch die Naturkatastrophen der
letzten zwei Winter, in denen übermäßig viele
Tiere verendet sind, beschleunigt wird.
Die Tuwa hat man durch rigorose Politik, die damit einsetzte,
dass 1959 der Tuwa-Nationalkreis Zengel Hairhan dem kasachischen
Kreis einverleibt wurde, zu einer weitestgehend rechtlosen
Minderheit im eigenen Land gemacht. Es kam zu Reibereien und die
meisten Tuwa wanderten ab. Heute leben drei Viertel
außerhalb ihres Gebietes. Inzwischen kehren hin und wieder
Familien zurück, aber für viele bedeutet es einen
Neuanfang, ohne Jurte und ohne Vieh. Dieses kleine alte Volk, die
Nachfahren des einst großen Toba-Reiches in Zentralasien
kennt man in der 1800 km entfernten Hauptstadt der Mongolei erst
gar nicht als solches. Und so bekommen sie auch keine Hilfe.
Obwohl die Nomaden sich genügsam in ihr Schicksal fügen
und nicht wirklich klagen, leben viele in den letzten Jahren
ärmer als je zuvor, ja menschenunwürdig.
Ich kenne zwei
Familien - kürzlich wieder aus der Zentralmongolei
zugewandert - die leben in den Ruinen einer alten Genossenschaft,
ohne Fenster, ohne eine richtig verschließbare Tür.
Wir sind dort über 2.000 Meter und winters sinken die
Temperaturen auf minus 40 Grad und mehr. Nach den Ursachen zu
suchen - es könnte die Politik der letzten Jahrzehnte, die
Marktwirtschaft und das sich wandelnde Klima sein - macht in
dieser menschlichen Notlage und angesichts des Winters wenig
Sinn. Die übervollen Läden und was und wie alles
reichlich konsumiert wird, das stößt mir dieses Mal
beim Nach-Hause-kommen ins fette Europa besonders auf. Denn in
den Bergen dort haben die Menschen nicht einmal warme Schuhe und
Kleider, kaum Brennstoff und wenig zu essen. Vieh ist die
Lebensgrundlage. Ohne Vieh kein richtiges Leben, denn alles
Lebensnotwendige kommt davon: Milch und Milcherzeugnisse,
Fleisch, Wolle und Filz, Felle und Leder. Ich habe viele Familien
erlebt, die in den letzten Wintern einen Großteil, wenn
nicht alles Vieh verloren haben. Sie gehören zu den
Ärmsten der Armen, sind in Listen geführt und doch tut
der Staat nichts für sie. Gibt es Hilfsgüter, so bisher
zweimal in jüngster Zeit, dann sind das Gaben des Roten
Kreuzes, z.B. ein 50-kg-Sack Mehl, der einer
fünfköpfigen Familie zwei bis drei Wochen reicht. Aber
die Tuwa bekommen in den seltensten Fällen davon. Der
Gouverneur des Kreises ist Kasache und bevorzugt seine eigenen
Leute. Offiziell heißt es, man lebe Seite an Seite und man
lebe friedlich.
Und noch ein trauriges Kapitel.
Seit 1991 gibt es eine Tuwa-Schule, die jetzt als Grundschule
geführt wird. Vor 1991 war den Kindern das Sprechen ihrer
Muttersprache verboten. Und ohne Sprache keine Kultur. Aber bei
so einem kleinen Volk - es sind etwa 2000 Leute - droht die
sprachliche Verwahrlosung und damit der Untergang. Diese Schule
nun vermittelt Tuwa-Kultur und -Sprache neben dem Mongolischen.
Aber sie ist in einem derart heruntergewirtschafteten
Gebäude untergebracht und hat kaum Geld um Nahrungsmittel
für die 40 Kinder, die dort als Internatschüler leben,
zu beschaffen. Das Frühstück und das Abendessen besteht
aus milchlosem Tee und trockenem Brot. Viel schlimmer aber ist,
dass es keine Heizung gibt. Vor 1990 war dieses Gebäude mit
anderen im Kreiszentrum zentralgeheizt. Nun sind die
Heizkörper kalt, der untere Stock des zweistöckigen
Gebäudes muss, sobald es kalt wird geräumt werden und
im oberen werden in jedem Klassenzimmer und den
Schlafräumen, in denen die Kinder nun noch enger auf ihren
ärmlichen Metallrosten zusammenrücken müssen,
Jurtenöfen eingebaut, die mit Holz und Dung geheizt
werden.
Bis in den November hinein - und die Nächte waren schon sehr
frostig - gab es keinen geheizten Raum, außer in der
Küche. Und noch etwas: Viele Kinder haben keine warmen
Kleider, ich sah sie mit blauen Händen und Näschen
dasitzen. Manche Eltern schicken aus Scham ihre Kinder erst gar
nicht in die Schule, weil sie nicht die 30 US Dollar aufbringen
können, die Hefte, Bücher und Kleider kosten. Es gibt
viele 11-12jährige Mädchen, die nicht in die Schule
gegangen sind. Und das in einem Land, das als eines der
bestausgebildetsten zu Zeiten des Sozialismus galt. Nun
möchten wir dort helfen, den Winter besser zu
überstehen: vor allem mit Direkthilfe von Kleidern, Schuhen,
Essen und Brennstoff, die wir selbst verteilen werden an die
Ärmsten der Armen und in der Tuwa-Schule mit ihren 180
Schülern. Und gleichzeitig möchten wir dabei Impulse
geben, wie es weitergehen kann - mit Hilfe zur Selbsthilfe. Und
im kommenden Sommer soll dort mit dem Gemüsebau begonnen
werden.
Mongolei: Hilfe
für die Tuwa in den eisigen Bergen des Altai
Die Schweizer Ethnologin und bekannte Schamanismusforscherin
Amélie Schenk hat mehrmals längere Zeit bei den Tuwa
in der Westmongolei gelebt und die dramatische Verschlechterung
der Lebensbedingungen buchstäblich hautnah miterlebt. Im
Spätherbst 2001 ist sie kurz nach Europa zurückgekehrt
und hat die GfbV gebeten, für die Tuwa eine Hilfsaktion zu
starten. Seit dem 20. Dezember hat sie bis in den März
hinein unter widrigsten Umständen (bis zu 50 Minusgrade,
Eisstürme) die Verteilung der Nahrungsmittelhilfe vor Ort
koordiniert.
Erfolgreiche GfbV-Spendenaktion für die
Tuwa
Nach Abzug aller Kosten und eines Anteils für die
Menschenrechtsarbeit in Österreich konnten wir bis dato EUR
14.535 für die Tuwa-Hilfe zur Verfügung stellen. Unter
widrigsten Bedingungen (siehe Auszüge aus ihren E-mails
unten) hat für uns die Ethnologin Amélie, die
über Jahre durch längere Aufenthalte zu vielen Tuwa,
ein inniges Vertrauensverhältnis aufgebaut hat, insbesonders
zum Schriftsteller Galsan Tschinag, die Hilfe koordiniert. Ein
herzliches Danke an alle SpenderInnen und an Amélie
Schenk!
E-mails von Amélie Schenk in der Zeit der
Organisation der Hilfsaktionen Jänner-März 2002 an die
GfbV:
28.1.2002: Ich bin sprachlos vor Freude und
Dankbarkeit. Ich war sieben Tage durch Eis und Schnee in die
Westmongolei unterwegs. Der dritte noch härtere Winter hat
angefangen, über großes Tiersterben. Temperaturen
unter minus fünfzig Grad auf der Steppe. Pferde fallen aus
dem Stand um, den Kühen frieren die Hörner ab vor
klirrender Kälte. Ich war die letzten Tage in entlegenen
Berggegenden (...) Der Dzud (Eissturm) ist so schlimm, von
hundert Tieren sind sechzig schon krepiert...Das Geld werde ich
sofort in Kraftfutter und Brennstoff und Mehl umwandeln. Ich
danke Euch und allen lieben Leute so sehr.
10.2.2002: Ich komme gerade von einem Einsatz in den Bergen bei viel Schnee und Eis zurück. Bin nun selbst krank und habe fast die Schneeblindheit. Aber es wird schon gehen. Neujahr ist am 13. Februar. Jetzt habe ich schon Tierfutter gekauft, werde noch Mehl, Öl, Zucker und mehr Tierfutter kaufen, aber erst nach Neujahr. Ich werde Euch dann schreiben. In etwa zehn Tagen - so hoffe ich. Inzwischen ist es auch mit der Mail schwierig, die ist heute schon viermal zusammengebrochen.
19.2.2002: Es ist so schön, dass ich gar nicht weiss was sagen. (Anm: direkte Reaktion auf unsere Nachricht, dass wir nach ATS 50.000 weitere 150.000 ATS zur Verfügung stellen konnten). Bin für einen Tag aus den Bergen gekommen, um einen weiteren Transport zu bewerkstelligen und neue Maßnahmen zu überlegen. Viel Zeit und leider auch Geld (im Verhältnis) geht für den Transport drauf. Wir überlegen jetzt auch Vorbeugemaßnahmen; auf ausdrücklichen Wunsch der Tuwa-Älteren. Und ich denke, ich werde einen Teil des Geldes dafür einsetzten. Der Winter wird bis in den Juni hinein dauern, wenigstens hat es jetzt nicht mehr geschneit, so dass sich der Eispanzer nicht vergrößert. Aber es gibt einfach kein Futter, und das Tiersterben geht weiter. Gestern bin ich bei einem Winterlager vorbeigefahren, bei dem fast alle Tiere verendet waren. Was wird diese Familie jetzt in Zukunft machen? So voller Hoffnung ich bin, denke ich manchmal, diese Arbeit hier wird noch Jahre beanspruchen und es ist nicht immer einfach, in einer fremden Welt alleine dazustehen und richtige, machbare Entscheidungen zu treffen. Die Herzlichkeit der Menschen hier, wenn sie auch noch so arm sind, trägt mich. Voll guter Gedanken an Euch und alle lieben Spender, die uns helfen, Amélie.
Buchtipps:
Im Land der zornigen Winde - Bei den Nomaden und Schamanen im
Altai der Mongolei
Nomaden erscheinen uns oft als die "letzten freien Menschen"; wir
vergessen dabei, welchen Preis diese Freiheiten fordern, wie
gefährdet sie durch Wirtschaft, Politik, Globalisierung und
Umweltveränderungen sind. Die letzten todbringenden Winter
in der Mongolei stellen eine zusätzliche Existenzbedrohung
dar. Der tuwinische Autor Galsang Tschinag und die Schweizer
Ethnologin Amélie Schenk erzählen vom Leben dort,
ihrer Begegnung mit Schamanen, den Weiten der Bergsteppe, von der
Achtung der Ahnen und Eltern, der Naturverehrung der Nomaden, dem
Umgang mit den Zusammenhängen in den Sippen und zuletzt auch
vom harten Winter, der Mensch und Tier bedroht.
Die Schweizer Ethnologin Dr. Amélie Schenk ist hervorragende Kennerin des Schamanentums. Sie lebte bei Indianern Nordamerikas und Mitte der 80-er Jahre in Indien, wo sie an der Benares Hindu University lehrte und von wo aus sie Forschungsreisen in den Himalaja unternahm. Seit der Wende in der Mongolei ist dieses Land Forschungsschwerpunkt. Dem Nomadentum und dem schamanischen Lebensgefühl der Naturvölker, dem archaischen Gefühl um die inneren Kräfte von der Seele und vom Jenseits widmet sie einen Großteil ihrer Zeit. Ihr Anliegen ist es, die Vermittlung von Wissen und Kulturtechniken der alten Völker zu fördern und das Lernen von anderen Kulturen möglich zu machen. Neben ihrer Forschungsarbeit betreut sie Entwicklungsprojekte in entlegenen Gebieten der Mongolei.