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Syrien: Trügerische Hoffnung

Hat das autonome Rojava/Nordsyrien eine Perspektive?

Wolfgang Mayr

Bozen, 2. Mai 2017

Abseits des syrischen Gemetzels herrscht in Rojava Frieden. Ein jedoch von außen bedrohter und brüchiger Frieden. Die autonome kurdische Region Rojava ist eine multinationale und multireligiöse selbstverwaltete Schutzzone. Kann diese Form der Autonomie eine Rolle in der Lösung des Konflikts in Syrien und in anderen Regionen des Nahen Ostens spielen? Welche Schwachpunkte hat diese Verwaltungsform? Diese Fragen erörterten Experten aus dem In- und Ausland auf der Tagung "Demokratischer Konföderalismus: Entwicklungen und Perspektiven der Autonomieerfahrungen in Rojava/Nordsyrien" am 21. April in Bozen/Südtirol, die das Institut für Minderheitenrecht von Eurac Research, die Gesellschaft für bedrohte Völker Südtirol, und das Kurdische Informationsbüro in Italien (UIKI Onlus) organisiert haben. Angeregt zu dieser Tagung hatte die Südtiroler Landesregierung.

Experten aus dem In- und Ausland setzten sich im April 2017 in Bozen/Südtirol mit der Lage in der autonomen Region Rojava (Nordsyrien) auseinander. Foto: Annelie Bortolotti / EURAC. Experten aus dem In- und Ausland setzten sich im April 2017 in Bozen/Südtirol mit der Lage in der autonomen Region Rojava (Nordsyrien) auseinander. Foto: Annelie Bortolotti / EURAC.

Die kurdische Partei PYD setzt auf den Ausgleich der verschiedenen Nationalitäten, verfolgt nicht die verhängnisvolle, nationalstaatliche Assad-Politik "Eine Nation, eine Sprache, ein Land". Zu diesem Schluss kam Kamal Sido, Nahostreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker,in seinem Report "Rojava - A protection zone". Die Sprachen Kurdisch, Arabisch oder Aramäisch sind gleichberechtigt. Jeder kann seinen Glauben frei ausüben und Frauenrechte werden besonders geachtet. Das ist einmalig in diesem vom Bürgerkrieg erschütterten Land Syrien. Die Region wird von Räten regiert, ähnlich wie von 1936 bis 1939 die katalanische Region in der spanischen Republik.

Karl Kössler von der Euracwürdigte das Konzept des demokratischen Konföderalismus als zukunftsträchtig. Die Autonomie grenzt keine Gruppe aus, alle sind das Volk, die in der Region leben. Ein sogenannter Sozialver-trag garantiert die politische Teilhabe aller. Das absolute Gegenstück also zu der in dieser Region verfolgten Politik. Für Kamran Matin von der Universität Sussex ist der demokratische Konföderalismus von Rojava ein mutiges Modell, lässt es doch Differenzen zu, weil es von Differenzen lebt.

Ghadi Sary von der britischen Denkfabrik Governance House analysierte den demokratischen Konföderalismus als ein solidarisches Netzwerk, das Dialekte, Sprachen, Kulturen und Religionen in einem Territorium verbindet. Das könne Genozid verhindern, meint Sary. Die Frankfurterin Dilak Dirik, kurdisch-arabischer Abstammung aus Nordsyrien und Doktorandin an der Universität Cambridge, sieht in Rojava ein spannendes Labor. Im Bürgerkriegsland Syrien kämpfen Frauen verschiedener Nationalität und Religion gegen den IS-Eroberungskrieg. Diese Frauen haben auch die Teilnahme der Frauen am gesellschaftlichen und politischen Leben erzwungen - festgeschrieben im bereits erwähnten Sozialvertrag.

Kritische Solidarität

Kamal Sido plädierte für eine kritische Solidarität mit Rojava. Das Autonomieexperiment ist mutig, Menschenrechtsorganisationen sind aber aufgerufen, diesen Weg kritisch zu begleiten. Die westlichen Vorwürfe, in Rojava und in den angrenzenden südlichen Gebieten betreiben die kurdischen Milizen ethnische Säuberungen, kann Sido nicht bestätigen. Bei seinem Besuch in Rojava forderte Sido die politische Führung auf, die Menschenrechte zu achten. "Wir dürfen nicht die Fehler der Vergangenheit begehen", sagte er selbstkritisch. Die GfbV sei immer solidarisch gewesen mit Eritrea und mit dem Südsudan, aber zu wenig kritisch. Dies gilt auch für das autonome Irakisch-Kurdistan, wo sich eine führende Partei wie die Demokratische Partei Kurdistan von Masud Barzani im Konflikt mit der PYD in Rojava befindet.

Die norwegische Bildungswissenschaftlerin Kariane Therese Westrheim lobte das Bildungswesen in Rojava, denn es spiegelt die verschiedenen Sprachen der Region im Unterricht wider. Professor Joseph Marko, österreichischer Verfassungsrechtler und Leiter des Minderheiteninstituts an der Eurac, bettete Rojava in andere Erfahrungen ein. Er präsentierte gescheiterte Konfliktlösungen: Zypern, Bosnien und Kosovo. In diesen drei Ländern wurde ethnisch "gesäubert", profitiert haben jedoch die Täter. Vernachlässigt wurden die Aus- und Versöhnung, es gibt keine Anreize für eine Zusammenarbeit, verfolgt wird eine Politik der Trennung und Teilung. Markos Präsentation konnte als Appell verstanden werden: Setzt nicht auf ethnisch oder religiös "reine" Territorien!

Das Assad-Regime und die islamistische Opposition betreiben inzwischen die von Marko kritisierten Säuberungen. In den Kriegsgebieten wurde ein Bevölkerungsaustausch in Gang gesetzt. Aus den von Assad-Militärs kontrollierten Gebieten werden Menschen aus- und umgesiedelt, die den Rebellen nahe stehen bzw. nahe stehen sollen. Auch islamistische Rebellen tun dies mit (mutmaßlichen) Assad-Anhängern. So werden religiös und auch ethnisch "reine" Zonen geschaffen.

Alle gegen Rojava

Die Europäische Union interessiert sich indes kaum für Syrien, sondern in erster Linie nur für jene, die die Grenzen überschreiten: für Flüchtlinge und islamistische Terroristen. Für den Westen ist Rojava keine Alternative im Friedensprozess. Um die Türkei nicht zu provozieren? Die EU lässt die Türkei gewähren. Dieser islamische Staat, der seine eigenen Bürger terrorisiert und einen Krieg gegen die Kurden führt, will ein autonomes Kurdengebiet vor der Haustür verhindern. Die Türkei interveniert deshalb immer wieder militärisch in Rojava und unterbindet humanitäre sowie Wiederaufbauhilfe.

Der Westen geht in die Knie. Auf Druck der Türkei und des Iran, die Paten der islamistischen Terrormilizen in Syrien, wurde Rojava nicht in die Genfer Friedensverhandlungen einbezogen. Ein Signal auch an das AssadRegime, das die kurdische Autonomie strikt ablehnt. Auch die syrische Opposition, hier stimmen die innersyrischen Feinde überein, wendet sich gegen Rojava. Beide Kriegsparteien setzen auf Zentralismus, nicht auf den von Rojava geforderten Föderalismus. Zudem verbindet sie ein radikalarabischer Nationalismus, beschreibt Dilar Dirik die ungewöhnliche AntiRojava-Allianz aus Assad-Regime und islamistischen Oppositionellen. Eine zusätzliche Gefahr für Rojava sieht Ghadi Saryin in einer möglichen Unabhängigkeitserklärung der autonomen kurdischen Region im Irak. Die Erdogan-Türkei unterstützt die irakischen Kurden, um den schiitschen Irak zu schwächen. Die Führung Irakisch-Kurdistans ist Rojava feindlich gesinnt, es gibt keine solidarische Zusammenarbeit, an der irakisch-kurdisch/syrisch-kurdischen Grenze wird scharf kontrolliert. Stichwort Solidarität: Erst nachdem PKKKämpfer aus der Türkei der vom IS eingeschlossenen Stadt Kobane erfolgreich zu Hilfe eilten, setzten sich aus dem Irak auch kurdische Peschmerga in Marsch. Diese hatten bereits bei der Verteidigung der Yeziden in Sinjar versagt. Sido kritisierte auf der Tagung diese innerkurdischen Konflikte: Sie seien die größte Gefahr für die Zukunft von Rojava.

Südtiroler Landtag - Solidarisch mit Rojava

Der Südtiroler Landtag hat im Sommer 2016 beschlossen, die autonome Region Rojava zu unterstützen. Die Botschaft: Solidarität zwischen dem autonomen Südtirol und dem vom Assad-Regime nicht anerkannten multikulturellen und multireligiösen Rojava. Mit seiner Resolution schließt sich der Südtiroler Landtag der italienischen Abgeordnetenkammer an, die Italien und die UN bereits im September 2014 aufgefordert hatte, in Rojava humanitäre Hilfe zu leisten und die Zugänge dafür über die Türkei zu öffnen. Auch der Europarat hatte sich damals diesem Aufruf angeschlossen.

Der Landtag ruft die Landesregierung auf - alle Landesräte haben den Antrag unterzeichnet -, sich zum Schutz des Gebiets und zur Förderung der Autonomie einzusetzen. Südtirol soll sich für die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Kooperation im Rahmen seiner Entwicklungszusammenarbeit einsetzen. Mit einem Soforthilfeprogramm für den Mittelmeerraum und den Nahen Osten wird das Land demnächst konkrete Hilfsprojekte in Rojava unterstützen. Der Beschlussantrag des Südtiroler Landtages muss weiter gereicht werden: an das italienische Parlament und die Regierung von Italien sowie an das Europaparlament. Denn die Frage ist, was macht Italien, was macht die EU, um das freie, autonome Rojava vor dem Staatsterror des Erdogan-Regimes zu schützen?

Wolfgang Mayr, Journalist und Mitarbeiter der Gesellschaft für bedrohte Völker - Südtirol, lebt und arbeitet in Bozen (Südtirol).

Aus pogrom-bedrohte Völker 299 (2/2017).