Von Andreas Bummel
Bozen, Göttingen, 18. Dezember 2003
Bis zum Ende des Kalten Kriegs sind die Blauhelm-Einsätze
der Vereinten Nationen (UN) zu einem wichtigen Pfeiler der
internationalen Friedens- und Sicherheitspolitik geworden. Die
Langzeitmissionen und mandatsgemäß abgeschlossene
Operationen sind Ausdruck der konstruktiven Rolle, die
UN-Friedenstruppen in Konflikten spielen können. Zum 31. Mai
2003 waren 34.941 Soldaten und Polizisten sowie 3.215 Mann
internationales Zivilpersonal aus 89 Ländern an den 14 zur
Zeit laufenden UN-Einsätzen zur Friedenssicherung beteiligt.
Das klassische Modell des neutralen, auf dem Friedenswillen der
beteiligten Parteien aufbauenden Peacekeeping hat in den 1990er
Jahren inmitten zerfallender Staaten, ethnischer
Auseinandersetzungen, systematischer Menschenrechtsverletzungen
und Bürgerkriege allerdings versagt. Die Einsätze in
Somalia, Ruanda, Bosnien und Sierra Leone haben das drastisch vor
Augen geführt. Vordringlich ist nicht mehr der Ausbau von
Normen, sondern vielmehr der Institutionen zur Durchsetzung der
Menschenrechte und der friedlichen Streitbeilegung. Nach dem
historischen Inkrafttreten des Statuts des Internationalen
Strafgerichtshofes (IStGH) zum 1. Juli 2002 muss jetzt die
nachhaltige Professionalisierung der UN-Friedenseinsätze
unterstützt werden. Vor allem aber gehört die
Einrichtung einer stehenden und ständig abrufbereiten
UN-Eingreiftruppe auf die globale Agenda.
Das Versagen in Ruanda, Bosnien und Sierra Leone
Die Staatengemeinschaft sah praktisch untätig zu, als in
Ruanda in der Zeit von April bis Juli 1994 über 800.000
Menschen von extremistischen Bahutu niedergeschlachtet und
weitere vier Millionen in die Flucht getrieben wurden. Die zur
Unterstützung und Überwachung des im August 1993
abgeschlossenen Friedensabkommens von Arusha in das Land
entsandte UN-Mission UNAMIR kollabierte zu Beginn des
Völkermords praktisch vollständig. Die Soldaten waren
weder in der Lage sich selbst, geschweige denn die
Zivilbevölkerung zu schützen. Die personelle
Sollstärke von 2.548 Mann wurde wegen des Unwillens der
UN-Mitgliedsländer, Truppen oder Material zu stellen, erst
nach Monaten erreicht. Als angesichts der Massaker schnell
gehandelt werden musste, nahmen die Beratungen im
UN-Sicherheitsrat drei Wochen in Anspruch. Die Prämisse der
Unparteilichkeit ist noch während des Völkermords
aufrechterhalten worden. Einige Regierungen weigerten sich, die
Massentötungen überhaupt als Völkermord
anzuerkennen, einige zogen ihre UNAMIR-Kontingente vor Ort
eigenmächtig ab. Am 21. April beschloss der Sicherheitsrat,
die zerbröckelnde UNAMIR-Präsenz offiziell auf 270
Personen zu reduzieren, um sie knapp vier Wochen später auf
5.500 zu erhöhen. Es dauerte allerdings sechs Monate, bis
die UN-Mitgliedsländer die Verstärkung zur
Verfügung stellen konnten - viel zu spät für die
Opfer.
Unter dem Eindruck schwerer Völkermordverbrechen durch
serbische Einheiten wurden die von serbischen Truppen
eingekesselten Städte Sarajevo, Bihac, Gorazde, Zepa und
Srebrenica von den UN zu "Schutzzonen" erklärt. Am 11. Juli
1995 wurde Srebrenica von serbischen Truppen unter dem Kommando
von General Ratko Mladic eingenommen. Die so genannte
Schutztruppe der UNPROFOR-Mission aus den Niederlanden leistete
keinen Widerstand. Auf die Besetzung Srebrenicas folgte eines der
schwersten Massaker des Bosnienkrieges, bei dem
schätzungsweise 8.000 muslimische Bosnier ermordet wurden.
Der Ende 1999 vorgelegte UN-Bericht zum Fall Srebrenicas und eine
im April 2002 vorgelegte Untersuchung des Niederländischen
Instituts für Kriegsdokumentation (NIOD) kommen unter
anderem zu dem wenig überraschenden Schluss, dass Mandat und
Ausrüstung der Mission in Bosnien vollkommen mangelhaft
gewesen seien.
Auch die Ende 1999 entsandte UN-Mission für Sierra Leone
(UNAMSIL) wurde "nicht mit den notwendigen Mitteln ausgestattet,
um [ihre] Arbeit professionell zu erledigen", beklagte
UN-Sprecher Fred Eckhard. Die zunächst auch nur mit einem
friedenserhaltenden Mandat ausgestattete UNAMSIL war mit der
Bürgerkriegssituation überfordert und konnte nicht
einmal sich selbst schützen. Im Mai 2000 wurden rund 500
UN-Soldaten der Friedenstruppe von der berüchtigten
RUF-Guerilla unter Foday Sankoh als Geiseln genommen.
Der Brahimi-Bericht: Weiterentwicklung der
UN-Einsätze
Im August 2000 legte UN-Generalsekretär Annan den
Ergebnisbericht der "Sachverständigengruppe für die
UN-Friedensmissionen" unter Lakhdar Brahimi vor, das wichtigste
Dokument zum Peacekeeping seit Boutros-Ghalis "Agenda für
Frieden". Der vorgefundene, desolate Zustand des Peacekeeping
wird an einigen Zahlen deutlich: mit nur 32 Offizieren musste die
Peacekeeping-Abteilung (DPKO) in New York die 27.000 Blauhelme in
aller Welt betreuen, für die 8.000 Polizisten war ein Stab
von nur 9 Personen zuständig. Für die Hauptverwaltung
und die logistische Unterstützung wurden nur 1,25 Prozent
des Gesamtetats der Friedenseinsätze aufgewandt. Und dieser
ist mit 2,77 Milliarden US-Dollar für den Zeitraum von Juli
2001 bis Juni 2002 nur um ein Fünftel höher als
beispielsweise der reguläre Jahresetat der Feuerwehr von
Tokio. Die Aufstockung des Personalbestands in der DPKO ist eine
zentrale Forderung des Brahimi-Berichts, die bereits konkrete
Früchte getragen hat. Die Anzahl der Dienstposten wurde von
der Generalversammlung 2000 und 2001 um insgesamt 184
erhöht.
Um schneller auf Truppen und anderes Personal zurückgreifen
zu können, hat die DPKO ein Stand-by-Register (UNSAS)
eingerichtet. Die Verbesserung dieses Systems ist ein weiteres
Hauptanliegen des Brahimi-Reports. Seinerzeit hatten 87 Staaten
genau 147.900 Mann als prinzipiell verfügbar angemeldet.
Eine beeindruckende, aber irreführende Zahl.
Erfahrungsgemäß reagieren die Mitgliedsstaaten meist
hinhaltend oder ablehnend, wenn es um einen konkreten Einsatz
geht. Das Recht "einfach nein" zu sagen, bleibt ihnen
vorbehalten. Der von der Kommission unterstützte Ansatz,
dass sich Staaten im Rahmen des UNSAS zusammentun,
Peacekeeping-Kontingente trainieren und für Einsätze
bereithalten, zielt in die richtige Richtung. Ein Beispiel
hierfür ist die Bereitschaftsbrigade SHIRBRIG. Ein 2000 vom
Sicherheitsrat angefragter Einsatz der Brigade im Südlibanon
wurde allerdings abgelehnt, da einige Teilnehmerstaaten dort
nicht aktiv werden wollten. Das grundsätzliche Problem der
Abhängigkeit von den Staaten bleibt auch bei diesem Modell
offensichtlich bestehen. Die zentrale Aussage des Berichts lautet
entsprechend: "Die von der Gruppe empfohlenen Veränderungen
werden keine dauerhafte Wirkung haben, solange die
Mitgliedsstaaten nicht den politischen Willen aufbringen, die
Vereinten Nationen politisch, finanziell und operativ dazu in die
Lage zu versetzen, als Friedenskraft wirklich glaubwürdig zu
sein."
Partei für Opfer ergreifen
Die Experten fordern außerdem ein Überdenken des
Konzepts der Unparteilichkeit. Halte sich eine Partei nicht mehr
an ein Friedensabkommen und verletze seine Bedingungen, dann
bedeute eine dessen ungeachtete Fortsetzung der Gleichbehandlung
der Parteien durch die UN im schlimmsten Fall
Mittäterschaft. Bei Gewalt gegen Zivilisten müssten
Blauhelme vor Ort prinzipiell zum Eingreifen autorisiert und in
der Lage sein. Werde eine UN-Truppe entsandt, dann müsste
sie darauf vorbereitet sein "gegen die noch vorhandenen
Kräfte von Gewalt und Krieg vorzugehen, mit der
Befähigung und der festen Absicht, diese zunichte zu
machen". In der Praxis müsste dies eine stärkere
Ausrichtung einer UN-Operation und ihres Mandats an den Risiken
im Einsatzgebiet bedeuten, vor allem eine stärkere
Berücksichtigung von worst-case-Szenarios. Die Einsätze
müssen folglich militärisch robuster sein. Der
UN-Sicherheitsrat muss außerdem, so der Bericht, "klare,
glaubwürdige und erfüllbare" Mandate erteilen.
Problemursache Sicherheitsrat
"Der Sicherheitsrat und insbesondere seine fünf
ständigen Mitglieder [...] erfahren eine erstaunliche
Schonung", so der Völkerrechtler Winrich Kühne mit
Blick auf den Brahimi-Report zutreffend. Zumeist versagte die
UNO, weil der Sicherheitsrat nicht oder jedenfalls nicht
rechtzeitig fähig war, militärisch wirksam vorzugehen.
Das Einlegen eines Vetos eines der ständigen Mitglieder
führt dazu, dass die UNO untätig bleibt, wenn es zu
keinem konsensfähigen Mandat kommt. Dieses auszuhandeln
benötigt angesichts akuter Konfliktsituationen allerdings
kostbare Zeit und führt zu verwässerten und unklaren
Formulierungen. Der Völkerrechtler Hans Köchler weist
darauf hin, dass "das Veto-Privileg von Anfang an als
machtpolitisches Haupthindernis bei der Verwirklichung des
Konzeptes kollektiver Sicherheit erkannt worden [ist]." Das
Abstimmungsverfahren im Sicherheitsrat ist durch Abschaffung des
Vetorechts an die Erfordernisse der Friedenssicherung und des
Menschenrechtsschutzes anzupassen. Ein Beschluss könnte als
angenommen gelten, wenn drei Viertel der Mitglieder ihre
Zustimmung erteilen. Dieser an sich konsequenten Folgerung werden
sich die Vetomächte allerdings nicht
anschließen.
Als Alternative kommt das Instrument der "Uniting for
Peace"-Resolution der Generalversammlung vom November 1950 in
Betracht. Demnach kann sie mit Zweidrittelmehrheit
Kollektivmaßnahmen und den Gebrauch bewaffneter Kräfte
empfehlen, "falls der Sicherheitsrat mangels Einstimmigkeit
seiner ständigen Mitglieder es in einem Fall einer
offenbaren Bedrohung des Friedens, eines Friedensbruches oder
einer Angriffshandlung unterlässt, seine erstgegebene
Verantwortung für die Aufrechterhaltung des internationalen
Friedens und der Sicherheit auszuüben". Die
Rechtmäßigkeit der Resolution wird mehr als
fünfzig Jahre nach ihrer Verabschiedung kaum mehr
angezweifelt. Ein Beschluss auf seiner Grundlage kann
völkerrechtliche Legitimität beanspruchen.
Einsätze, die vollkommen an der UNO vorbei geführt
werden, bergen dagegen die Gefahr, das völkerrechtliche
Gewaltverbot der Charta zu untergraben.
Ständige UN-Eingreiftruppe
Nach Art. 43 UN-Charta sind Abkommen zwischen der UNO und den
Mitgliedsstaaten vorgesehen, durch die Kontingente nationaler
Streitkräfte dem direkten Befehl der Weltorganisation
unterstellt werden sollen und damit eine UN-Truppe bilden. Solche
Abkommen sind allerdings nie abgeschlossen worden. Der Versuch,
das von der Charta vorgesehene Sicherheitssystem zu
verwirklichen, findet eben aus diesem Grund auf Ad-hoc-Basis
statt. Einsatzkräfte müssen auf Fall-zu-Fall Basis auf
Grundlage schwer voraussehbarer Bereitstellungen von
Mitgliedsstaaten spontan zusammengestellt werden. Als Grundlage
für die Aufstellung einer ständig einsatzbereiten
UN-Truppe könnte ein Beschluss des Sicherheitsrates in
Betracht kommen. Realistischer ist ihre Einrichtung durch einen
völkerrechtlichen Vertrag gleichgesinnter Staaten. Das
Statut einer ständig einsatzbereiten UN-Friedenstruppe,
bestehend aus international rekrutierten Freiwilligen,
könnte sich in den Einsatzvoraussetzungen an die UN-Charta
koppeln und dem UN-Generalsekretär das Oberkommando
einräumen. Vergibt der Sicherheitsrat ein Mandat,
könnte der Generalsekretär unmittelbar auf die Truppe
zurückgreifen. Vorausgesetzt wird hier der Wille der
Vertragsparteien, unabhängig von ihrem nationalen
Militär eine selbständige militärische Komponente
zur Friedenssicherung der UN zu schaffen.
Vollzugsorgan des IStGH und der ad-hoc Tribunale
Eine ständige UN-Eingreiftruppe könnte nicht nur
für friedensschaffende und friedenssichernde Maßnahmen
eingerichtet werden, sondern - wenn nötig - insbesondere den
internationalen Strafgerichtshöfen als Vollzugsorgan
für die Verhaftung angeklagter Individuen direkt beiseite
gestellt werden. Die SFOR zum Beispiel hat sich als permanent
unfähig oder unwillig erwiesen, die Haftbefehle des
Jugoslawien-Tribunals gegen Karadzic, Mladic und andere
Angeklagte auszuführen. Mitte Mai 2001 standen immer noch
insgesamt 38 flüchtige Männer aus Bosnien-Herzegowina
auf der Fahndungsliste. Die Chefanklägerin, Carla del Ponte,
hält die Situation für untragbar und sieht die
Einrichtung eines unabhängigen, internationalen
UN-Einsatzkommandos als Lösung. "Eine solche Polizei
wäre auf die Unterstützung anderer Staaten nicht
angewiesen und müsste auf politische Entscheidungen keine
Rücksichten nehmen. Heute stellen wir einen Haftbefehl aus
und warten auf die Ausführung durch die SFOR", so del Ponte.
In ihrem am 31. Januar 2000 vorgelegten Bericht forderte auch die
internationale Untersuchungskommission zu Ost-Timor die
Einrichtung einer internationalen Untersuchungs- und
Strafverfolgungseinheit, die eine unabhängige
Identifizierung und Verfolgung der Verantwortlichen
gewährleisten könnte. Gegen den damaligen Armeechefs
Wiranto z.B. ermittelt die indonesische Justiz nicht.
Folgerungen
Die im Brahimi-Report formulierten Empfehlungen weisen den Weg zu
einer professionelleren und an den Opfern von
Menschenrechtsverletzungen orientierten Friedenssicherung und
sind sehr zu begrüßen. Den konsequenten Schritt, die
Einrichtung einer ständigen UN-Eingreiftruppe zu fordern,
macht die Expertengruppe leider nicht. "Wir sind noch nicht so
weit, ein stehendes UN-Heer zu entwickeln", sagte schon Kofi
Annan bei einem Australien-Besuch im Februar 2000. Genau das ist
allerdings in dem von der UN-Charta konzipierten System
kollektiver Sicherheit angelegt und stellt eine konsequente
Antwort auf die grundlegenden Mängel der auf ad-hoc-Basis
stattfindenden UN-Einsätze dar. Als Zwischenlösung
bietet sich an, etwa die entstehende EU-Eingreiftruppe oder
andere Bereitschaftsbrigaden von Fall zu Fall in den Dienst der
UN zu stellen. Die Bemühungen zu einer Stärkung der
UN-Fähigkeiten zur Friedenssicherung bewähren sich in
der Praxis allerdings noch nicht. Während der Massaker und
Kämpfe im April und Mai 2003 im Kongo beispielweise waren
nur rund 700 Blauhelm-Soldaten im Rahmen des MONUC-Einsatzes in
der Stadt Bunia stationiert. Sie waren sowohl
zahlenmäßig als auch von ihrer Ausbildung,
Ortskenntnis und von ihrem begrenzten Mandat her nicht in der
Lage, die völkermordähnlichen Übergriffe vor Ort
abzuwenden. Im Dezember 2002 hatte der Sicherheitsrat eine
Vergrößerung der Truppe im Kongo auf 8.700 Soldaten
beschlossen. Bis Mitte Mai 2003 waren erst 4.314 davon im
Einsatz. Der Weg bis zur Einrichtung einer ständigen und
schnell einsatzbereiten UN-Eingreiftruppe und einem angemessenen
Abstimmungsverfahren im Sicherheitsrat, so steht zu
befürchten, wird mit weiteren Tragödien gepflastert
sein.
Aus "pogrom / bedrohte Völker" (Nr. 221 - 5/2003).