Bozen, 5.11.2001
Sehr geehrter Herr Staatspräsident,
mit Entsetzen und Trauer
haben wir auf die brutalen Terroranschläge in New York und Washington
D.C. reagiert. Die USA brauchen unsere Solidarität, was jedoch nicht
heißt, dass man alle außenpolitischen Aktivitäten der
USA von vornherein billigt, was vor allem nicht heißt, dass man über
die Fehler dieser Politik in der Vergangenheit wie auch in der Gegenwart,
schweigt – und was vor allem nicht heißt, dass man die Ungerechtigkeiten
der Weltwirtschaft widerspruchslos hinnimmt.
Es war oft die Rede von einem
"Angriff auf die zivilisierte Welt". Der Westen muss aber erst belegen,
dass er zur zivilisierten Welt gehört. Die Antwort auf Terrorismus
kann nicht Terrorismus sein; Gewalt ist keine angemessene Antwort auf die
Gewalt. Jede Antwort, die zivile Opfer zur Folge hat, verliert ihre Rechtfertigung.
Terrorismus kann nicht stillschweigend hingenommen werden, wenn der Westen
einen kommerziellen oder politischen Nutzen davon hat. Es kann nicht sein,
dass die russische Regierung ihren Völkermord in Tschetschenien jetzt
als Teil der "Anti-Terror-Koalition" mit westlicher Unterstützung
fortsetzt. Es kann nicht sein, dass die chinesische Regierung ihre blutige
Unterdrückung der muslimischen Uiguren in der Provinz Xinjiang nun
mit Billigung des Westens fortsetzt. Wir erinnern daran, dass Diktaturen
wie in Irak, Iran und Sudan, die ebenfalls schwere Verbrechen begangen
haben, von westlichen Regierungen mit Waffen hochgerüstet wurden;
wir erinnern daran, dass Italien Waffen an die Kriegsparteien im Bosnienkrieg
geliefert hat, dass das serbische Regime von Italien technologische Unterstützung
erhalten hat.
Aus diesem Grund fordern
wir Sie dazu auf, die Durchsetzung der Menschenrechte zum festen Bestandteil
der Bekämpfung von Terrorismus zu machen, wie wir Sie auch auffordern,
sich dafür einzusetzen, dass die Ungerechtigkeiten der Weltwirtschaft
beseitigt werden und nicht ganze Erdteile in einem parakolonialen Zustand
der Ausbeutung gehalten werden. Solange der Westen diese Ungerechtigkeiten
trägt und zur täglichen Gewalt gegen ganze Völker schweigt,
hat er keine Berechtigung, sich als "zivilisiert" zu bezeichnen.
Mit freundlichen Grüßen
Gesellschaft für bedrohte
Völker
Siehe
auch: