Ein Jahr nach Kriegsende im Kosovo
Lage der Minderheiten nach GfbV-Recherchen dramatisch effektiverer Schutz ist gefordert
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Bozen, Göttingen, 14.6.2000

Zum ersten Jahrestag des Kriegsendes im Kosovo (9.Juni) hat die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) die Bundesregierung dringend dazu aufgefordert, als Schutz- und Besatzungsmacht gemeinsam mit den anderen im Kosovo engagierten Ländern Maßnahmen für einen effektiveren Schutz der im Kosovo verfolgten Roma, Aschkali und Kosovo-Ägypter zu treffen und für eine bessere Versorgung mit humanitärer Hilfe zu sorgen. In Schreiben an Bundesaußenminister Joschka Fischer, Bundeskanzler Gerhard Schröder und Verteidigungsminister Rudolf Scharping erinnerte die GfbV an die besondere Verantwortung, die Deutschland gegenüber der Minderheit der Sinti und Roma nach deren Teilausrottung im Dritten Reich trage. "Nach Milosevics Kriegsverbrechen an den bosnischen Roma sind die Angriffe albanischer Extremisten gegen Roma und Aschkali im Kosovo die schlimmsten seit den Verbrechen der Nationalsozialisten", heißt es in dem Schreiben von GfbV-Generalsekretär Tilman Zülch an die Politiker. "Wenn nicht schnell Gegenmaßnahmen ergriffen werden, wird die planmäßig durchgeführte kollektive Vertreibung dieser Volksgruppen bald ganz abgeschlossen sein."

Der Kosovo-Beauftragte der GfbV, Paul Polansky, der seit Mitte Mai 2000 die Situation der Roma, Aschkali und Kosovo-Ägypter vor Ort zum zweiten Mal detailliert recherchiert, zog in seinem Zwischenbericht eine erschreckende Bilanz: In den meisten der von ihm bisher besuchten 18 Siedlungen dieser Minderheiten sei vor allem die Versorgungslage katastrophal. So erhielten etwa drei Viertel dieser Siedlungen überhaupt keine oder nicht ausreichend Nahrungsmittel. Besonders beschämend sei, dass den Familien praktisch keine Milch für die Kinder zur Verfügung stehe. Nach monatelangem Darben seien die Betroffenen nun in einem Zustand, in dem Kürzungen der humanitären Hilfe fatale Folgen für ihre Gesundheit hätten.

Die meisten Roma, Aschkali und Kosovo-Ägypter lebten in ihren Ortschaften nach wie vor wie im Gefängnis. Zwar suchten KFOR-Soldaten regelmäßíg die Dörfer auf und bemühten sich nach dem Bericht von Polansky inzwischen, die Sicherheit der Minderheitenangehörigen zu gewährleisten. Aber es komme dennoch immer wieder zu Übergriffen und Attentaten von Seiten extremistischer Albaner. Verlassen könnten die Betroffenen ihre Siedlungen in der Regel nicht, da sie außerhalb an Leib und Leben bedroht seien. Wenn die medizinische Versorgung vor Ort nicht ausreiche, seien sie jedoch auf Hilfe in größeren Städten angewiesen.

"Es muss dafür gesorgt werden, dass ständig – Tag und Nacht - fünf Soldaten in jede Siedlung von Roma, Aschkali und Kosovo-Ägyptern abgeordnet werden, damit gegen albanische Extremisten schärfer vorgegangen werden kann", forderte Zülch. Außerdem müsse die humanitäre Hilfe besser koordiniert und systematisch daraufhin überprüft werden, ob die Minderheiten ausreichend berücksichtigt werden. Statt Mittel zu kürzen und zu streichen, müssten die Hilfsorganisationen für Ortschaften mit Roma, Aschkali und Kosovo-Ägyptern ihre Lieferungen aufstocken.

Den meist sehr engagierten serbischen Ärzten, zu denen Roma, Aschkali und Kosovo-Ägypter gehen könnten, stünden in der Regel nur wenig Medikamente zur Verfügung. Sie seien für eine so große Anzahl von Menschen zuständig, dass sie vollkommen überfordert seien. Dazu kommt laut Polansky, dass die im Kosovo verbliebenen Roma, Aschkali und Kosovo-Ägypter seit Juni 1999 praktisch ohne Hygiene-Artikel auskommen müssten. Dies leiste der Ausbreitung von Krankheiten Vorschub. Die Minderheitenangehörigen – meist Bergleute und Kleinbauern - beklagten vor allem, dass fast niemand von ihnen Arbeit bekomme. Daher könnten sich die meisten keine zusätzlichen Produkte kaufen. Dieser Zustand zementiere die totale Abhängigkeit der Roma, Aschkali und Kosovo-Ägypter von Hilfsorganisationen. Wenn diese ihre Leistungen einstellen, was in sechs der 18 von Polanksy besuchten Siedlungen bereits der Fall sei, komme dies einer Vertreibung in Flüchtlingslager gleich, erklärte Zülch.

Die kollektive Vertreibung dieser Minderheiten hat die GfbV durch Recherchen in 300 Siedlungen des Kosovo schon im vergangenen Jahr dokumentiert. Schon damals waren 14.000 von 19.000 Häusern der Roma, Aschkali und Kosovo-Ägypter zerstört, 76 ihrer Dörfer dem Erdboden gleichgemacht und 80 Prozent der Minderheitenangehörigen vertrieben worden.
 

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