Offener Brief an
Ministerpräsident Massimo D'Alema
Aussenminister Lamberto Dini
Drei kurdischstämmige Bürgermeister nach Rückkehr von europäischer Konferenz in der Türkei verhaftet
Gelten europäische Werte nur für Österreich?
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Bozen, Göttingen, 22.2.2000


Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
sehr geehrter Herr Aussenminister,

mit grossem Schrecken hat die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) zur Kenntnis genommen, dass die drei kurdischstämmigen Oberbürgermeister der südosttürkischen Städte Diyarbakir, Siirt und Bingöl, Feridun Celik, Selim Özalp und Feyzullah Karaarslan, am 19. 2. 2000, kurz nach ihrer Rückkehr von einer von der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) betreuten Lobbyreise nach Deutschland, in der Türkei verhaftet worden sind. Dieser schwere Rückschlag für die türkisch-kurdische Aussöhnung, die durch die EU-Kandidatur Ankaras angeblich näher rücken sollte, gefährdet auch die Projekte, die von Bundesentwicklungsministerin Wieczorek-Zeul in der Südosttürkei gefördert werden.

Die drei Oberbürgermeister gehören der gemässigt prokurdischen HADEP-Partei an, die in der Türkei nicht verboten ist. Sie sind Teil einer Sechser-Delegation, die auf Initiative der GfbV an der Dritten Europäischen Konferenz über Zukunftsbeständige Städte und Gemeinden vom 9. bis 12. Februar in Hannover teilgenommen hat. Sie haben dort zusammen mit ihren Amts- und Parteikollegen aus Batman und Hakkari sowie dem Bürgermeister der Kleinstadt Dikmen (Provinz Mardin, Anap-Partei) ihren Wunsch nach Wiederaufbau und nachhaltiger Entwicklung ihrer Heimat etwa 300 Amtskollegen aus ganz Europa vorgetragen. Sie haben mit der GfbV einen "Runden Tisch" bestritten und eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht. Sie unterzeichneten die "Charta von Aalborg", eine kommunale Agenda 21, und wurden Mitglieder weiterer europaweiter Initiativen in den Bereichen Ökologie und nachhaltige Stadtentwicklung.

Die beiden Gastgeber der Konferenz, Hannovers Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg und die niedersächsische Sozialministerin Heidrun Merk, haben sich eingehend mit den Oberbürgermeistern unterhalten und ihnen ihre Unterstützung zugesichert - ebenso die ehemalige Bundestagspräsidentin Prof. Rita Süssmuth bei einem weiteren Treffen im Göttinger Bundesbüro der GfbV.

Herr Celik wurde am Samstag, den 19. 2. um 15.30 aufgrund eines Erlasses des Staatsicherheitsgerichtes Diyarbakir auf offener Strasse verhaftet, nachdem er eine Delegation der kanadischen Botschaft empfangen und in Begleitung eines Vertreters der türkischen Menschenrechtsstiftung (Türkiye Insan Haklari Vakfi) die HADEP-Zentrale in Diyarbakir besucht hatte. Ihm und seinen Kollegen Özalp und Karaarslan, die etwa zur selben Zeit verhaftet wurden, wird Zusammenarbeit mit der PKK im In- und Ausland vorgeworfen.

Tatsache ist, dass Oberbürgermeister und die HADEP-Partei längst eine gegenüber der PKK eigenständige, auf eine friedliche und demokratische Entwicklung innerhalb der Türkei abzielende Position einnehmen. Sie haben in Deutschland keine einzige Forderung erhoben, für die sie nach rechtsstaatlichen Massstäben belangt werden dürften. Dies kann durch schriftliche Dokumente sowie durch Zeugen aus ganz Europa bestätigt werden.

Noch vor drei Wochen waren die HADEP-Oberbürgermeister von Staatspräsident Süleyman Demirel empfangen worden und hatten von diesem die Zusicherung "Kommen Sie mit Ihren Problemen zu mir, meine
Tür ist immer für Sie offen" erhalten. Die Heuchelei der türkischen Staatsführung zeigt sich auch darin, dass seit der Gefangennahme vonPKK-Führer Öcalan vor genau einem Jahr kein einziger türkischer Hauptverantwortlicher für Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Krieges in der Südosttürkei von 1984 bis 1999 angeklagt und verurteilt worden ist.

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrter Herr Aussenminister: Sie haben der Türkei den EU-Kandidatenstatus zugestanden, obwohl eine offen faschistische Partei, die MHP, in der Regierungskoalition sitzt. Deren 128 Parlamentsabgeordnete stellen u.a. den Vize-Premierminister. Die Partei, deren Jugendorganisation die berüchtigten "Grauen Wölfe" sind, deklariert ganz offen die Überlegenheit der türkischen Rasse, verlangt die Vereinigung aller Turkvölker in einem Grossreich "Turan" von der Adria bis an die Tore Chinas und ist für 5.000 politisch motivierte Morde mitverantwortlich. Somit arbeiten Sie mit politischen Verbrechern zusammen, die an der gnadenlosen Verfolgung des kurdischstämmigen Viertels der türkischen Bevölkerung mitwirken!

Wir bitten Sie dringend, schnell die Freilassung der drei verhafteten südostanatolischen Oberbürgermeister zu veranlassen, andernfalls würde nicht nur in Italien der Eindruck entstehen, dass europäische Werte nur gegenüber dem kleinen Österreich, nicht aber gegenüber einem EU-Kandidaten mit 60 Millionen Einwohnern durchgesetzt werden.
 

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