Offener Brief an die Europäische Volkspartei
Nizza macht eine europäische Verfassung notwendig!
Gfbv Logo
Bozen, 10.1.2001
Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herrn,
Wir nutzen das Berliner Treffen für einen Offenen Brief. SVP-Obmann Siegfried Brugger, Kammerabgeordneter der SVP zum italienischen Parlament, hat sich bereit erklärt, Ihnen unser Schreiben zukommen zu lassen.

Als Südtiroler Sektion der Gesellschaft für bedrohte Völker-international haben wir erfreut festgestellt, mit welcher Vehemenz die EVP die dürftigen Ergebnisse des EU-Gipfels von Nizza kritisiert hat. Erfreut auch deshalb, weil Sie auch nicht mit Kritik an der dünnen EU-Grundrechtecharta gespart haben. Für uns als Menschenrechtsorganisation ist es bedauerlich, das EU-GRC nicht bindend ist. Damit werden zwei vorgegebene Schritte, das Diskriminierungsverbot und das EU-weit gültige Asylrecht, reine Absichten bleiben. Zum Schaden der Integration der Zuwanderer und der Flüchtlinge. Nicht einmal als Absicht angeführt wurde die Anerkennung der autochthonen Sprachenvielfalt in der EU. Damit blieb die EU weit hinter dem Europarat mit seiner Charta der Regional- und Minderheitensprachen und der Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten zurück. Die EU nahm nicht einmal zur Kenntnis, daß auch die UNO im Artikel 27 des Internationalen Pakts über bürgerliche Rechte (1966) und in der Minderheiten-Deklaration vom 18. Dezember 1992 die Richtung vorgegeben hat.

Bei der Konvents-Anhörung am 27. April 2000 hatte die GfbV-international auf diese Europarats- und UNO-Entwicklung - erfolglos wie andere auch - hingewiesen. Ein EU-Rechtsschutz ist für die sprachlichen und ethnischen Minderheiten ist mehr als notwendig. Es ist dringend notwendig, daß sich die EU die Förderung der Minderheitensprachen zu ihrer Aufgabe macht. Bislang hat sie aber noch kaum Konsequenzen aus ihrer 1996 veröffentlichten Studie "euromosaic" gezogen, nach der von 46 Minderheitensprachen fast die Hälfte unterzugehen droht. Dieser Prozeß des Sprachensterbens bedeutet für Europa eine kulturelle Verarmung. Mit der Zeit könnte er auch die "kleineren Staatssprachen" erfassen.

Als Farce mutet deshalb das heurige "Europäische Jahr der Sprachen" an - als Zynismus, weil es die EU bisher verabsäumt hat, die lange geduldete Förderung der "weniger gebräuchlichen Sprachen" und des renommierten Büros für weniger gebräuchliche Sprache per Gesetz abzusichern. Wir erinnern die EVP daran, daß sie sich mit der "Meraner Erklärung" (28. - 30. April 97) strikt für Minderheitenrechte ausgesprochen hat. Laut "Meraner Erklärung" ist die Anerkennung und die Förderung (eine affermative action nach US-Vorbild) der Minderheiten ein tragendes Element der Menschenrechte. Minderheitenschutz, heißt es in der Erklärung, muß deshalb Teil der EU-Architektur  werden. Die EVP hat mit ihrer Erklärung außerdem dazu aufgefordert, den Minderheitenschutz in die Unions-Verträge aufzunehmen.

Sorgen Sie in einer gemeinsamen Kampagne mit den NGO der Minderheiten und mit Menschenrechtsorganisationen dafür, daß die 2004 zu überarbeitenden Unions-Verträge endlich auch zur Anerkennung der Minderheitensprachen führen. Führen wir einen gemeinsamen Kampf für eine verbindliche EU-Verfassung, in der Minderheitenrechte zu grundlegenden europäischen Bürgerrechten werden.

Die EU hat die neuen osteuropäischen Mitglieder aufgefordert, Klauseln zum Schutz der Minderheiten in ihren Verfassungen aufzunehmen: Minderheitenschutz als Eintritts-Ticket in die EU. Deshalb muß doch sichergestellt werden, daß nach einem Beitritt dieser Länder zur EU mindestens in gleicher Weise die Rechte der Minderheiten in der Union anerkannt und respektiert werden.

Dankeschön für Ihre Aufmerksamkeit

Für die GfbV-Südtirol
Hugo Senoner, Mauro di Vieste, Mateo Taibon, Patrick Kofler, Peter Defranceschi
 

INDEX
HOME
Eine Publikation der Gesellschaft für bedrohte Völker. Weiterverbreitung bei Nennung der Quelle erwünscht
Una pubblicazione dell'Associazione per i popoli minacciati. Si prega di citare la fonte - WebDesigne-mailM. di Vieste