OFFENER BRIEF
den norwegischen Außenminister Knut Vollebaek |
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heute brechen Sie ins tschetschenische Kriegsgebiet auf und machen damit gegen russischen Widerstand Ihr Versprechen vom OSZE-Gipfel in Istanbul wahr. Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) International erkennt darin Ihre guten Absichten. Doch wir sind in großer Sorge, dass Präsident Jelzin und sein Premier-minister Putin Sie und die gesamte OSZE vorführen und damit moralisch zerstören wird.
Es ist nicht mehr zu leugnen: Unter dem Vorwand, Terroristen zu bekämpfen, begeht Russland in Tscheschenien erneut Völkermord nach der Definition der UN Konvention von 1948. Seit Kriegsbeginn im September 1999 wurden nach Schätzung der GfbV mehr als 5.000 tschetschenische Zivilisten getötet, viele von ihnen durch die Beschießung von Spitälern, Basaren, Moscheen, Flüchtlingstrecks und Rotkreuz-Fahrzeugen. Hunderttausenden tschetschenischen Flüchtlingen droht der Tod durch Hunger, Kälte und Krankheiten, weil Moskau westlichen Hilfsorganisationen den Zugang versperrt.
Indem Sie, Herr Minister, die russische Armee gestern zu einer 24-stündigen Feuerpause aufgerufen haben, die der Bevölkerung von Grosny die Flucht ermöglichen soll, beteiligen Sie sich an einem grausamen Ultimatum, das im Widerspruch zur vierten Genfer Konvention steht. Warum fordern Sie nur 24 Stunden? Warum nicht die Zurücknahme der Drohung, Grosny in Schutt und Asche zu bomben? Warum nicht das Ende des Genozids?
"Aslan Maschadow wird von der OSZE weiterhin als der recht-mäßige Präsident Tschetscheniens betrachtet", haben uns Ihre Experten bei einem Treffen in Istanbul versichert, das Sie uns persönlich vermittelt haben. Wenn das so ist, dann sind Sie verpflichtet, sich bei Betreten des tschetschenischen Territoriums mit Präsident Maschadow zu treffen, der sich bei vielen Gelegen-heiten als gemäßigt und verhandlungsbereit erwiesen hat. Das Mindeste wäre, durchzusetzen, dass der russische Geheimdienst seine völkerrechtswidrige Geiselnahme beendet und die Familie Präsident Maschadows freilässt.
Sehr geehrter Herr Minister: Sie könnten
in Tschetschenien in die selbe unglückselige Rolle geraten wie UN-Generalsekretär
Boutros Boutros-Ghali während des Völkermords an den bosnischen
Muslimen. Ihre Reise nach Tschetschenien wird nur nützen, wenn Sie
die Prinzipien europäischer Menschenrechtspolitik auch dort vertreten.
Wir können nicht nachvollziehen, weshalb die westlichen Regierungen
ihre Forderung nach einer permanenten OSZE-Mission, die von den OSZE-Verträgen
gedeckt wird, aufgegeben haben. Rhetorische Bekenntnisse zu einer "politischen
Lösung" sind völlig weltfremd, solange Russland nicht durch geeignete
politische und wirtschaftliche Sanktionen unter Druck gesetzt wird.
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