"Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie an, einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unterbringung, sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen. ...
In Anerkennung des grundlegenden Rechts eines jeden, vor Hunger geschützt zu sein, werden die Vertragsstaaten einzeln und im Wege internationaler Zusammenarbeit die erforderlichen Maßnahmen, einschließlich besonderer Programme durchführen..."
(Artikel 11 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 - oft "Sozialpakt" genannt)
1) Hunger als Menschenrechtsverletzung?
Ist von Folter, ungerechtfertigten Strafen oder totalitären Regierungsformen die Rede, sind wir es gewohnt, von Menschenrechtsverletzungen zu sprechen. Doch wie ist es mit einem Menschen, der zu wenig zu essen hat? Kann man auch hier so ohne weiteres sagen, daß seine Menschenrechte verletzt werden?
Wenn es in der Hand eines Staates oder der internationalen Staatengemeinschaft liegt, diesem Menschen eine gesicherte Ernährung zu ermöglichen, dann ja.
Doch was muß konkret getan werden, damit das Menschenrecht auf Nahrung nicht verletzt wird?
Immer wieder erreichen uns Berichte von Hungersnöten als Folge von Dürren, Katastrophen und kriegerischen Auseinandersetzungen. Internationale Lebensmittelsendungen und Spendenaktionen versuchen meist den Betroffenen zu helfen. Solche Hilfe ist wichtig und hat bereits vielen Menschen das Leben gerettet.
Aber wir täuschen uns, wenn wir Hunger in erster Linie mit Katastrophen in Verbindung bringen. Nach Schätzungen der FAO, der UN-Organisation für Landwirtschaft und Ernährung, leiden weltweit rund 840 Millionen Menschen an Unterernährung. Das bedeutet, daß bei jedem siebten Menschen auf der Erde Unterernährung die Ursache für verringertes Körpergewicht und andere körperliche Mängel ist.
Der überwiegende Teil dieser vom Hunger betroffenen Menschen lebt aber nicht in Katastrophengebieten. Hunger hat also kompliziertere Ursachen, die abseits der Medien ihre Wirkung tun.
Auch weltweite Lebensmittelknappheit kann als Erklärung für den Hunger so vieler Menschen nicht herhalten. Statistisch gibt es für jeden Menschen ausreichend zu essen.
Hunger ist meist die Folge von Ungerechtigkeit. Ob es sich um Vertreibungen, ungerechte Land- und Wasserverteilungen, zu niedrige Löhne, mangelnde Sozialgesetzgebung oder um rücksichtslose Wirtschaftspolitik der großen Industriestaaten handelt - immer wird Unterernährung durch Ungerechtigkeit bzw. Unterdrückung verursacht.
Tagtäglich
sind Staaten und Konzerne dafür verantwortlich, daß
das Recht auf Nahrung verletzt wird. Hunger wird in dem Moment
ein menschenrechtliches Problem, wo er nicht bloß als
unentrinnbares Schicksal, sondern als politisch verursacht
erkannt wird.
2) Die Betroffenen
Es erscheint paradox: Zwei Drittel der unterernährten Menschen leben nicht in den Städten, sondern auf dem Land. Also genau da, wo Lebensmittel meist herkommen. Es ist damit vor allem die bäuerliche Bevölkerung, die Hunger leidet.
Diese Menschen besitzen entweder kein eigenes Land bzw. wurden vertrieben, erhalten keine Unterstützung bei Anbau und Verkauf ihrer Produkte, oder müssen angesichts billiger Nahrungsmittel aus dem Ausland ihren Lebensunterhalt aufgeben, da sie mit dieser Konkurrenz nicht mithalten können.
Frauen sind in besonderem Maße betroffen: Sie stellen 70 Prozent der unterernährten Menschen. Gründe dafür sind die schlechtere Versorgung von Frauen und Mädchen in den Familien, die geringeren Löhne und die Tatsache, daß sie bei der Vergabe von Krediten und bei Landverteilungen oft ausgeschlossen sind. Dabei steigt weltweit die Zahl der Frauen, die sich und ihre Kinder allein ernähren müssen.
Nicht
ausschließlich die Menschen in den sogenannten
Entwicklungsländern sind außerstande, sich langfristig
ausreichend zu ernähren. Hunger wird zunehmend auch in den
Industriestaaten ein Problem. Da zum Beispiel die USA in den
letzten Jahren die Arbeitslosenunterstützung und
Nahrungsmittelhilfe radikal kürzten, hungern bereits ca. 30
Millionen US-Bürger.
3) Vergebliche Versuche
"In zehn Jahren wird kein Mann, keine Frau, kein Kind mehr hungrig zu Bett gehen." Solche Zuversicht äußerte 1974 der damalige US-Außenminister Henry Kissinger beim ersten Welternährungsgipfel. Falsche Hoffnungen aus der Sicht von heute.
Damals sah man als wichtigstes Mittel im Kampf gegen den Hunger die massive Steigerung der Produktivität in der Landwirtschaft. Diese sogenannte "grüne Revolution" der 60er und 70er Jahre unterstützte gezielt verstärkte Bewässerung, Monokulturen, den Einsatz von Maschinen und die Verwendung von ertragreicherem Saatgut, Mineraldünger und chemischen Pflanzenschutzmitteln.
Zwar konnten dadurch weltweit Ertragssteigerungen erzielt werden, jedoch profitierten von der "grünen Revolution" vor allem Großbauern. Arme Bauernfamilien gerieten noch mehr in Abhängigkeit und Armut. Außerdem wurden ökologische Langzeitschäden verursacht, da der Boden vergiftet, seine Nährstoffvorräte erschöpft und Erosion begünstigt wurde.
Produktionssteigerung bringt also noch keine allgemeine Ernährungssicherheit. Indien besitzt heute genügend Lebensmittel für seine Bevölkerung und exportiert große Mengen von Reis - doch mehr als die Hälfte aller indischen Kinder ist unterernährt.
Auf dem zweiten Welternährungsgipfel 1996 war man vorsichtiger: Neues Ziel war es, bis zum Jahr 2015 die Zahl der Hungernden zu halbieren. Viele sprechen diesbezüglich von einem Skandal, da bereits heute genügend Lebensmittel für alle Menschen vorhanden wären.
Eine neue
"grüne Revolution" soll heute die Gentechnologie bringen,
vor allem neue Pflanzensorten sollen höhere Erträge
liefern. Doch werden wohl auch hier nur Großbetriebe
profitieren können. Kleinbauernfamilien werden
voraussichtlich noch mehr unter Druck geraten, ihre Armut und
damit ihr Hunger könnte dadurch noch mehr gefördert
werden.
4) Das Recht sich zu ernähren
Was also kann gegen den Hunger getan werden? Welche neuen Rezepte müssen gefunden werden?
Im Kampf gegen den Hunger sind als erster Schritt nicht unbedingt grandiose Schreibtischkonzepte gefragt, sondern endlich die ernsthafte Frage: Welche politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen müssen unterlassen werden, weil sie das Recht auf Nahrung verletzen? Es wäre schon viel, wenn Menschen nicht ständig und zunehmend daran gehindert würden, sich selbst zu ernähren.
Nahrung kann zum einen selbst erzeugt werden. Hierfür ist jedoch vor allem Zugang zu Land Voraussetzung. In vielen Ländern werden große Teile der Landbevölkerung durch extrem ungerechte Besitzverhältnisse sowie durch Landvertreibungen von diesem Zugang ausgeschlossen.
Nahrung kann aber zum anderen natürlich auch gekauft werden. Das setzt Zugang zu angemessen bezahlter Lohnarbeit oder selbständige Erwerbsarbeit voraus.
Geschenkte Nahrung, ohne eigene Verantwortung und Initiative, läßt sich nur in besonderen Situationen mit einem würdevollen Leben vereinbaren. Die Würde des Menschen stellt jedoch die Basis aller Menschenrechte dar. Daher sollte das "Recht auf Nahrung" als "Recht sich zu ernähren" betrachtet werden.
Unterernährte
Menschen brauchen vor allem eine Perspektive, entweder durch
Arbeit oder durch eigene Lebensmittelproduktion sich selbst zu
ernähren.
5) Beispiel: Fischfang im Senegal.
Große Teile der Bevölkerung an der Küste Senegals in Westafrika leben traditionell vom Fischfang. Seit Mai 1997 ist nun ein Abkommen zwischen dem Staat Senegal und der EU in Kraft getreten, mit dem sich die EU das Recht erkauft, mit einer festgelegten Anzahl von Schiffen vor den Küsten Senegals zu fischen.
Schon eineinhalb Jahre später zeigen sich fatale Auswirkungen dieses Abkommens: der industrielle Fischfang der EU ist dabei, die Fischgründe Senegals leerzufischen. Mehrere Fischarten sind bereits jetzt verschwunden. Für 600.000 Küstenbewohner steht die Lebensgrundlage auf dem Spiel. Von den Geldern, die die senegalesische Regierung von der EU bekommt, haben sie bislang nichts bemerkt.
Eine alltägliche Situation: Durch knallharte Profitgier und oft korrupten Vorgangsweisen wird statt der Selbstversorgung der Export von Lebensmitteln vorangetrieben.
Dem Profit einiger
weniger steht hierbei aber die Not vieler Familien
gegenüber, die an den Rand gedrängt werden. Sie werden
entweder durch Großprojekte vertrieben, oder ihr Land
eignen sich Großgrundbesitzer und Konzerne illegal und
gewaltsam an. Oder ein benachbarte agressive Exportproduktion
verursacht derartige ökologische Schäden, daß ein
Weitermachen unmöglich wird.
6) Die internationale Dimension
Das Beispiel Senegal ist in eiem weiteren Sinne typisch: Verletzungen des Rechts auf Nahrung haben sehr oft eine internationale Dimension. In diesem konkreten Fall ist es die EU, die Mitverantwortung trägt, immer wieder ist es sogar die Weltbank - eine Sonderorganisation der UNO! - die sich nicht um soziale Rechte aller Menschen kümmert, welche von ihren Programmen und Projekten betroffen sind.
Bedenklich sind in diesem Zusammenhang die sogenannten Strukturanpassungsprogramme von Weltbank und Währungsfond, mit denen die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von hochverschuldeten Ländern gesteigert werden soll. Dazu gehören auch Kürzungen von Ausgaben für Bildung und Soziales, Lohnkürzungen und vor allem gezielte Förderung der Exportwirtschaft.
In Honduras in Mittelamerika z.B. hat ein solches Strukturanpassungsprogramm eine gerade erst angelaufene Agrarreform wieder rückgängig gemacht: Alle staatlichen Versuche, ungleiche Besitzverhältnisse in der Landwirtschaft auszugleichen und Kleinbauernfamilien durch Kredite und Beratung zu unterstützen, mußten auf den Druck internationaler Finanzorganisationen aufgegeben werden. Gezielte Kredite und Förderungen von Kleinbauern und des Anbaus von Grundnahrungsmitteln werden von diesen Organisationen als unerlaubte Eingriffe in den freien Markt betrachtet.
Erst langsam beginnt man, wirtschaftspolitische Maßnahmen auch unter dem Aspekt des Rechts, sich zu ernähren, zu sehen. Auch wir als Bürger eines wichtigen Industriestaates tragen internationale Wirtschaftsstrukturen mit. Gerade weil hier in Südtirol das Schicksal des Bauernstandes ein großes Thema ist, sollten wir unsere Mitverantwortung am Hunger von Bauern in anderen Weltregionen nicht vergessen.
Die Industriestaaten sind nur dann für den freien Markt, wenn es nicht gegen ihre eigenen Interessen verstößt. Landwirtschaftliche Produkte aus den USA und der EU werden oft durch Subventionen künstlich verbilligt auf den internationalen Markt gebracht: EU-Zuschüsse für europäische Getreideproduzenten z.B. bewirken, daß deren Getreide im Ausland billiger verkauft werden kann.
Gerade durch solche
"Dumping-Exporte" wird häufig das Recht auf Nahrung in armen
Ländern verletzt. 1993 haben künstlich verbilligte
Rindfleischexporte der EU den lokalen Fleischmarkt in Westafrika
zerstört. Tausende von Nomadenfamilien, die von der
Viehzucht lebten, wurden durch diese gnadenlose Konkurrenz in den
Ruin getrieben. Man kann ihr Recht auf Nahrung als durch solche
EU-Politik verletzt betrachten.
7) Die UNO und das Recht auf Nahrung
In den letzten Jahren ist man zunehmend sensibler geworden für Verletzungen von sozialen Menschenrechten. Zwar werden die bürgerlich-politischen Menschenrechte auch in der UNO weiterhin wichtiger genommen, doch befinden sich soziale Rechte im Aufwind.
Die amtierende UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson, spricht sich klar für eine ganzheitliche Betrachtung der Menschenrechte aus, in der alle Rechte gleichberechtigt und als Einheit gesehen werden. Gleichzeitig gesteht sie ein, daß in der UN-Praxis ein erheblicher Unterschied zwischen der Behandlung der bürgerlich-politischen (Zivilpakt) und der wirtschaftlich-sozial-kulturellen Menschenrechte (Sozialpakt) besteht. Für die Rechte des Sozialpaktes müßten klarere Richtlinien und Verfahren eingeführt werden.
In der Tat gibt es diese unterschiedliche Gewichtung bei den Menschenrechten: So besteht zum Beispiel für die Rechte des Zivilpaktes ein Individualbeschwerdeverfahren, für die Rechte des Sozialpaktes - und damit auch für das Recht auf Nahrung - nicht.
Ein Grund dafür, daß soziale Rechte, vor allem marktwirtschaftlich orientierten Westen, bisher als zweitrangig gesehen wurden, liegt wohl darin, daß die von Verletzungen Betroffenen sich weniger Gehör verschaffen konnten. Slumbewohner, Kleinbauern, Indigene haben oft nicht die nötige Ausbildung bzw. die Kontakte, um sich auch international bemerkbar zu machen.
Außerdem ist es bei Verletzungen von sozialen Rechten weniger einfach, die Schuldfrage ganz klar auf die jeweiligen Staaten zu konzentrieren. Wie wir am Beispiel des Rechts auf Nahrung gesehen haben, übersteigt hier die Verantwortung schnell die eigenen Staatsgrenzen. Und das gilt noch mehr in einer Zeit der rasanten wirtschaftlichen Globalisierung.
Trotz dieser Schwierigkeiten versucht der UN-Menschenrechtsausschuß zur Überwachung des Sozialpaktes, einzelnen Staaten auf die Finger zu schauen. Wie auch die anderen Menschenrechtsausschüsse besteht er aus 18 unabhängigen Experten, die in erster Linie die periodischen Berichte der Länder überprüfen, die den Pakt unterzeichnet haben. Alle Mitgliedsstaaten müssen dem Ausschuß regelmäßig Bericht erstatten.
Da jedoch die Versuchung für die einzelnen Staaten groß ist, ihre Berichte zu sehr ins Positive zu verzerren, ist die Kooperation von international vernetzten Nichtregierungsorganisationen für die Arbeit des Ausschusses - wie für das Recht auf Nahrung generell - von entscheidender Bedeutung.
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