Offener Brief an den EU-Kommissionspraesidenten Romano Prodi
und an die Abgeordneten des EU-Parlamentes

Angehörige von Sprachminderheiten bleiben Bürger zweiter Klasse
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Bulsan/Goettingen/Luxemburg, den 21.7.1999
Sehr geehrter Herr Praesident,
sehr geehrte Damen und Herren,

in der neuen EU-Kommission wurde erneut niemand mit der rechtlichen und kulturellen Betreuung der Sprachminderheiten beauftragt. Dies bedauert unsere internationale Menschenrechtsorganisation, die Gesellschaft fuer bedrohte Voelker (GfbV) sehr, bleiben doch mit dieser Entscheidung die Angehoerigen der Sprachminderheiten weiterhin Buerger zweiter Klasse.

Offensichtlich ist die Kommission nicht in der Lage bzw. nicht gewillt, die Versaeumnisse der einzelnen Staaten gegenueber den Sprachminderheiten nachzuholen, Unrecht wiedergutzumachen und Assimilierungsprozesse aufzuhalten. Laut der Studie "Euromosaic", die 1996 von der EU-Kommission veroeffentlicht wurde, haben von den 48 Minderheitensprachen im EU-Raum 23 nur noch eine "begrenzte" oder "gar keine" Ueberlebensfaehigkeit. Zwoelf weitere Minderheitensprachen werden als "bedroht" eingestuft. Wenn sich an der derzeitigen Situation nichts aendert, wird innerhalb von einer oder zwei Generationen mehr als die Haelfte der europaeischen Sprachen aus-gestorben sein. Die EU und die europaeischen Staaten truegen dann die Verantwortung fuer diese stillschweigende, von den Medien weitgehend unbeachtete "sprachliche Saeuberung".

In fast allen Staaten der EU werden die Angehoerigen der Sprachminderheiten diskriminiert. Den alteingesessenen Minderheiten werden grundlegende Rechte vorenthalten, die Mehrheiten als Selbstverstaendlichkeit geniessen. Es fehlen die gesetzilchen Absicherungen fuer das Recht auf die Verwendung der Minderheitensprache im oeffentlichen Leben, fuer die Unterstuetzung der Kultur, fuer die Weitergabe der Sprache an die folgenden Generationen. Die Angehoerigen der alteingesessenen Minderheiten werden in ihrem Gebiet wie Buerger zweiter Klasse, wie Fremde behandelt.

Die Gesellschaft fuer bedrohte Voelker ruft Romano Prodi nochmals dazu auf, sich verstaerkt fuer den Erhalt und den Schutz der europaeischen Sprachminderheiten einzusetzen. Fuer die Angehoerigen der Sprachminderheiten muessen Kollektivrechte gewaehrleistet werden. So muss den ihnen das Recht eingeraeumt werden, in den Schulen ihres angestammten Gebietes ihre Muttersprache zu erlernen, ihre Sprache im schriftlichen und muendlichen Umgang mit der oeffentlichen Verwaltung zu verwenden; schliess-lich muss ihnen das Recht auf Sendungen im oeffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehen, das Recht auf eine angemessene Unterstuetzung der Printmedien der Minderheit sowie das Recht auf eine angemessene Unterstuetzung ihrer Kultur gewaehrt werden.

Alle EU-Staaten muessen dazu verpflichtet werden, die UNO-Normen zum Schutze der Minderheiten zu ratifizieren und in die eigenen Gesetzgebung aufzunehmen. Da-rueber hinaus muss das EU-Parlament die Allgemeine Erklaerung der Sprachenrechte (Barcelona 1996) ratifizieren und die einzelnen Staaten dazu verpflichten, die Erklaerung gesetzlich festzuschreiben. Dies ist nach Auffassung der Gesellschaft fuer bedrohte Voelker allerdings nur moeglich, wenn Kommissionspraesident Romano Prodi einen Kommissar fuer die Minderheiten ernennt oder aber zur Chefsache macht.

Mit freundlichem Gruss,
Tilman Zuelch
Praesident der Gesellschaft fuer bedrohte Voelker International

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