Von Angelika König, Juni 2001
Bozen, 6. März 2002
Die "Place du Capitol" in Toulouse füllt sich langsam
an diesem schönen Maitag. Wie bereits seit sechs Jahren
findet auch heuer das Forum des Langues du monde statt,
und wie jedes Jahr demonstrieren die VertreterInnen der
Minderheitensprachen in Frankreich gegen den Artikel 2 der
französischen Verfassung: jener Artikel, der der
französischen Sprache absolute Alleingewalt verleiht und die
plurilinguistische Realität Frankreichs ignoriert.
Unter den vielen verschiedenen Ständen, wo u. a. auch die
baskischen, bretonischen und elsässischen MitstreiterInnen
ihren Unwillen kundtun, sticht ein Stand hervor. Mit blutroter
Fahne und der Aufschrift occitan.
Occitan-Okzitanisch, bereits der Begriff lädt zu
Spekulationen ein: ein Lebensgefühl, eine
Himmelsrichtung, eine Kunstströmung oder gar eine Farbe?
Weit gefehlt. Okzitanisch ist eine romanische Sprache, die sich
wie das Italienische, Französische oder Spanische aus dem
Vulgärlatein entwickelt hat und im südlichen Drittel
Frankreichs, in einigen Tälern des Piemonts und in
Katalonien gesprochen wird. Okzitanisch, das ist die rebellische
Schwesternsprache des Französischen, die sich trotz
jahrhundertlanger repressiver Sprachpolitik Frankreichs und
aktiver Maßnahmen zur Ausmerzung aller
„Fremd"sprachen, sogenannter Patois, auf französischem
Territorium widerspenstig und trotzig weiterspricht. Freilich ist
die okzitanischsprachige Gemeinde heute geschrumpft (es werden
ca. zwei Millionen aktive SprecherInnen geschätzt), aber
immerhin: wer genau hinhört in Carcassonne, in Toulouse, in
Pau, in Bordeaux, in Limoges, in Avignon, in Aix-en-Provence kann
es hören: das rollende Zungenspitzen r, die offenen Vokale,
die fehlenden, so typischen französischen Nasallaute: salut
[salyt], cossi vas [cosi bas]? Vau al mercat [ßao al
mercat]! Aufmerksame ZuhörerInnen werden feststellen, dass
das Okzitanische große Ähnlichkeiten mit dem
Spanischen oder Italienischen hat und von selbst die oft
gehörte Aussage, okzitanisch sei ein französischer
Dialekt anzweifeln können.
Heute führt die okzitanische Sprache ein regelrechtes
Schattendasein, verdrängt und verstoßen von ihrer
Schwesternsprache, geographisch zersplittert im ganzen
südfranzösischem Raum, Italien und Spanien und
gesprochen in einer kunterbunten Vielfalt an sechs verschiedenen
Dialekten.
Was ist da passiert, in diesem Land der liberté,
égalité, fraternité? Einst war die
okzitanische Sprache eine blühende Kultursprache, in der an
den mittelalterlichen Höfen gedichtet und gesungen wurde.
Die Troubadoure waren über die Landesgrenzen hinaus bekannt,
bald schon fand die besungene Schmerzliebe an die domna
auch ihre Nachahmung in Spanien, Italien und Deutschland. Das
Okzitanische war sozusagen die erste europäische
Literatursprache des Mittelalters.
Doch noch bevor eine politische Vereinigung der okzitanischen
Fürstentümer überhaupt wünschenswert wurde,
zückten die Kapetinger auch schon ihre Schwerter und
eroberten raschen Schrittes 1206 den Süden. Unter dem
Vorwand der Rechristianisierung zwang man den Okzitanen nun das
Ja-Wort auf. Oui anstelle von oc, würde Dante
sagen.
Mit diesem Kreuzzug begann das Zurückdrängen der
okzitanischen Sprache, zunächst aus dem schriftlichen
Bereich, ab der Französischen Revolution 1789 dann aus dem
mündlichen Bereich. Als Abbé Gregoire 1794 die
Ergebnisse seiner Umfrage zur sprachlichen Situation in
Frankreich vorstellte, wurden die Revolutionäre ganz blass:
Wie können die revolutionären Ziele im Volk verbreitet
werden, wenn zwei Drittel nicht französisch sprechen? Ergo:
sofortige Maßnahmen für eine Französisierung und
sprachliche Kolonialisierung müssen getroffen werden, denn
französisch soll die einzige Sprache der Revolution sein.
Wer am sozialen Aufstieg teilhaben wollte und nicht
rückständig und konterrevolutionär gelten wollte,
musste französisch sprechen. Noch einen Schritt weiter ging
der französische Staat dann 1881 mit der Einführung der
allgemeinen Schulpflicht: alle nicht-französischen Sprachen
wurden aus der Schule verbannt und Schüler, ertappt beim
Gebrauch eines okzitanischen Wortes wurden sozial diskriminiert.
Das signe wurde hierfür eingesetzt und blieb bis etwa 1930
eine weitverbreitete Methode: Ein Stück Holz wurde dem
Schüler, der seine Regionalsprache sprach, in die Hand
gedrückt. Dieser konnte es erst loswerden, wenn er einen
Mitschüler beim Vergehen desselben Deliktes ertappte. Am
Abend wurde dann derjenige, der das Stück Holz nicht mehr
losbekam vom Lehrer streng bestraft. Abwanderung aus
wirtschaftlichen Gründen, Militärdienst, Medien taten
dann das übrige, um die okzitanische Sprache aus dem
öffentlichen Leben zu verbannen.
Hält
man sich diese Fakten vor Augen, mag es seltsam anmuten, dass
überhaupt noch okzitanisch (oder bretonisch, baskisch etc.)
in Frankreich gesprochen wird. Und weil Theorie und Praxis oft
gar weit auseinanderliegen machte ich mich auf die Suche nach
dieser verlorenen Sprache, von der man einiges lesen kann, es
aber doch selten hören kann. Vielleicht spricht heute schon
niemand mehr okzitanisch, meinte Herr Prof. Simon, der Betreuer
meiner Diplomarbeit an der Romanistik Graz optimistisch, werden
Sie fündig. Und so zog ich los...
...und wurde fündig, allerdings in mühseliger
Kleinarbeit und mit vielen Rückschlägen. Okzitanisch
wurde nämlich immer dort gesprochen, wo ich gerade nicht
war. „Oh ja, ich glaube, die X sprechen patois, aber
hier, nein, hier spricht niemand den patois". Ich horchte
hartnäckig weiter und fand eine Sprachgemeinschaft, die ein
in sich sehr differenziertes Sprachverhalten an den Tag legt,
abgesehen davon aber stark geprägt von den jahrelangen
Stigmatisierungen der okzitanischen Sprache, dieser
„Nicht-Sprache" ist. Da sind nun die rabiaten Okzitanisten,
die auf politischer Ebene kämpfen: der Partit Occitan und
der Partit Nacional Occitan, die zwei verschiedenen politischen
Lagern angehören. Da sind die LinguistInnen, die um die
Sprache und den Spracherhalt kämpfen, um der
aliénation etnique, der ethnischen
Selbstentfremdung entgegenzuwirken. Da sind auch etliche
kulturelle Organisationen, die von Folklore bis HipHop alles
Erdenkliche veranstalten. Und da sind jene Menschen, die
tatsächlich noch okzitanisch in ihrem Alltag sprechen. Zu
diesen PrimärsprecherInnen zählen vor allem jene
Menschen, die in ruralen Gebieten wohnen und oft in dem Diskurs
der Spracherhaltung und kulturellen Entfremdung vergessen werden.
Sind sie es doch, die noch einen okzitanischsprachigen Alltag
führen: Diese Menschen leben in dem Bewusstsein
Patois zu sprechen, und damit eine Sprache mit einem sehr
geringen Stellenwert. Okzitanisch wird nur in den eigenen vier
Wänden gesprochen.
Die verdrängte Sprache der Troubadoure findet jedoch
auch innovative Wege, um aus ihrem Schattendasein ins Licht zu
treten: die Calandretas, die zweisprachigen
(okzitanisch-französischen) Grundschulen gehen einen neuen
Weg. Sie möchten die OkzitanischsprecherInnen nicht in der
Opferrolle wissen, sondern geben den kleinen Sprachtalenten die
Möglichkeit, Sprachenvielfalt bereits in jüngsten
Jahren kennen zu lernen. Die Pädagoginnen wecken so die
Sensibilität nicht nur für die dominanten Sprachen und
Kulturen Europas, sondern auch für die kleinen, lokalen und
oft vergessenen Sprachen. Ein Zusammenleben der beiden Sprachen
wird so denkbar, denn hier geht es nicht um die Ausgrenzung der
französischen Sprache, sondern um den Versuch einer Symbiose
zweier rivalisierenden Sprachen. Mit dieser Initiative setzen die
VertreterInnen der Calandretas neue Akzente und geben,
ausgehend von den lokalen Gegebenheiten Zukunftsperspektiven
für Europa, die in manch anderen Ländern fehlen.
Zu meiner Person: Angelika König (geb. in Meran).
Studium Romanistik und Geschichte an der Uni Graz (A), Rennes
(F). Studienschwerpunkt: Sprachminderheiten, Soziolinguistik,
Südosteuropäische Geschichte, Migration und Flucht
(Praktikum bei UNHCR Wien).
Derzeit beschäftigt: Sprachtrainerin bei Alpha & Beta
(DAF), Bozen, Mitarbeiterin RAI (Radio), Sender Bozen,
gelegentliche Mitarbeiterin der Alexander Langer Stiftung.
Kontakt: koenigangelika@hotmail.com,
338-9332266.
Abstract in italienischer SpracheOccitano: la sorella ribelle della
lingua francese |