In: Home > DOSSIER > Katastrophe aus Menschenhand. Der Vajont: Dunkles Kapitel um Wasser und Menschenrechtsverbrechen
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Von Stefano Barbacetto
Der Staudamm von Vajont, Sicht aus Longarone. Foto, Mauro di Vieste 2013.
Ein Alpental
In den Augen der Verwalter und Ingenieure der mächtigen SADE
(Società Adriatica di Elettricità), der
Monopolgesellschaft für Stromerzeugung im Nordosten
Italiens, versprach das Tal des Vajont ein Riesengeschäft:
Ein enges, steiles und wasserreiches Tal der Karnischen Voralpen,
dessen Wasser in den Piave münden. Der große
Höhenunterschied zwischen Vajont- und Piave-Tal und die enge
Talöffnung waren äußerst günstige Faktoren
für ein gigantische Staudammprojekt. Nichts schien dem
ehrgeizigen Plan im Wege zu stehen. Nicht die Politik, die die
Wasserkraftprojekte vorantrieb, um Energie für die junge
Industrie in der Poebene zu gewinnen (die Regierung war für
die Wünsche der SADE-Aktionäre - ehemalige Faschisten,
die zur Democrazia Cristiana übergegangen waren - sehr
empfänglich), und nicht die Geologie, wenigstens nicht laut
Gutachten der hochgelobten "Experten", die in der Liste der
Lohnempfänger der SADE aufschienen. Das einzige -
unerhebliche - Hindernis war die Bevölkerung des Tales, das
unter Wasser gesetzt würde.
Erto und Casso, zwei Dörfer, nur wenige Kilometer
voneinander entfernt, doch in einer und derselben Gemeinde, beide
auf dem gleichen steilen, sonnigen Hang des Tales: Enge Gassen,
alte Steinmauern und die Dächer aus einem besonderen Stein
dieser Gegend, den man schon abgeschiefert vorfindet. Zwei
Dörfer, die sich auch in der Abgeschiedenheit ähneln,
in den kargen Ressourcen und im gleichen bescheidenen
Lebensstil.
Der steile und steinige rechte Talhang erlaubte trotz
Südlage keine ausreichende landwirtschaftliche Produktion.
Fruchtbarer war die linke, weniger steile Talseite, obwohl sie in
den Wintermonaten im Schatten lag. Entfernung und
Höhenunterschied gestatteten es aber nicht, sich mehrmals am
Tag für die notwendigen Arbeiten in Stall und Hof von der
einen auf die andere Talseite zu begeben. Seit Menschengedenken
besaßen aus diesem Grund die Familien aus Erto und Casso
zwei Wohnhäuser: eines für den Winter auf der
Sonnenseite, eines für den Sommer auf der fruchtbaren
Talseite, wo die Familien mit ihrem gesamten Viehbestand für
die Monate der Feldarbeit hinzogen. Es war kein Luxus, sondern
bittere Notwendigkeit.
Doch selbst diese Mühen reichten nicht aus. Für
Hunderte von Ertocassanern reichten die Erträge der
Feldarbeit nur für wenige Monate; im Laufe der Jahrhunderte
wählten sehr viele den Weg der Auswanderung. Bekannt waren
die Ertocassaner vor allem als Wanderhändler. Ihre
Exportgüter waren Küchengeschirr und Holzutensilien
sowie die typischen Stoffschuhe, die sie zuhause herstellten, um
sie in den benachbarten Gegenden, in Norditalien und sogar im
Ausland zu verkauften. Die Ertaner sprachen eine eigene Sprache,
die mehr Ähnlichkeit mit dem Ladinisch der Dolomiten als mit
dem Ladinisch des Friaul aufwies. In Casso hingegen, dem letzten
Dorf des Friaul vor der Grenze zu Venetien, sprach man einen
venetischen Dialekt. Dies schien die Annahme der Ertaner zu
bestätigen, sie seien die ersten Bewohner des Tales gewesen.
Es ging nicht nur um die Ehre, sondern um konkrete,
lebenswichtige Interessen. Für Jahrhunderte war die
"comugna" Streitobjekt, der unveräußerliche
Gemeinschaftsbesitz für Weide und Holzeinschlag. Seit den
Zeiten der Republik Venedig sind Zwistigkeiten der zwei
Gemeinschaften um den Besitz dieser wichtigen Ressourcen
ausführlich dokumentiert.
Vajont, die M-förmige Erdrutsch auf dem Monte Toc wie man ihn von Casso sieht. Foto, Mauro di Vieste 2013.
Wie man eine Katastrophe baut
Mit einem umstrittenen Dekret erteilte die zuständige
Behörde in Venedig, der der Schutz der laut Gesetz
unveräußerlichen gemeinschaftlichen Besitztümer
anvertraut war, die Genehmigung, 88 Hektar der "comugne" von
Casso an die Gesellschaft SADE zu veräußern. Es
verkaufte die Gemeinde, die gar nicht rechtmäßige
Besitzerin war, und sie verkaufte auch Privatgrundstücke von
Bürgern, ohne diese darüber zu informieren. Das Projekt
selbst war bereits im Oktober 1943 in Rom genehmigt worden - im
zuständigen Rat fehlte aber die Beschlussfähigkeit, da
viele Beamte und Politiker geflüchtet waren.
Die Baustelle wurde 1956 eröffnet, mit den Aushubarbeiten
wurde 1957 ohne entsprechende Genehmigung begonnen. Die Bauzeit
war gezeichnet von Gewalt und Willkür, Enteignungen von
Häusern, gesetzeswidriger Grundbesetzung, ohne dass von den
zuständigen Behörden irgendeine Reaktion zum Schutz der
Eigentümer kam. Behörden, die den Urteilen von Geologen
vertrauen, die auf der Liste der Lohnempfänger der SADE
standen (von wegen unabhängiger Wissenschaft), den Protesten
der Leute jedoch keine Bedeutung beimaßen, obwohl diese aus
Kenntnis des Ortes und aus der historischen Erinnerung an Muren
warnten: Der große Druck des Wassers würde die
Hänge unterspülen und unstabil machen. Unbekümmert
setzte die SADE ihre Arbeit fort und erhöhte sogar die
Staumauer von den ursprünglich geplanten 200 auf mehr als
260 Meter, um das Fassungsvermögen zu vergrößern.
Auch der Druck des Wassers auf die Hänge des Tales wurde
damit vergrößert. Jene im Auftrag der SADE erstellten
geologischen Gutachten, die die mangelnde Stabilität der
Hänge bestätigten, wurden geflissentlich unter
Verschluss gehalten. Und um die Proteste der Ertocassaner in
Schach zu halten, die sich in einem eigenen Komitee organisiert
hatten, wurde in Erto eine Carabinieri-Station errichtet.
Die SADE hatte aber nicht nur beste Beziehungen zu Politikern und
Behörden, sondern kontrollierte auch die Berichterstattung
des "Il Gazzettino", der im Veneto und im Friaul meistgelesenen
Tageszeitung. In der gesamten Angelegenheit war die Presse nicht
überparteilich, im Gegenteil: die Gefahren des Bauwerkes
wurden kleingeschrieben, die Ingenieurleistungen und der
Fortschritt, den der Staudamm angeblich bringen würde,
jedoch in höchsten Tönen gelobt. Der Damm war der
höchste gewölbte Staudamm der Welt, eine ganze Nation
war sich im Stolz über die großartige Leistung einig.
Jene, die sich mit ganzer Kraft dem Projekt widersetzten, wurden
systematisch verunglimpft. Die einzige Ausnahme bildete die
kommunistische Tageszeitung "L'Unità", die sich von Anfang
an auf die Seite der Ertocassaner stellte, nicht ohne Risiko: Die
Journalistin Tina Merlin, die mit couragierter Vehemenz auf die
Gefahr eines enormes Erdrutsches hingewiesen hatte, wurde wegen
"Verbreitung tendenziöser, übertriebener Nachrichten,
die geeignet sind, die öffentliche Ordnung zu stören"
angezeigt; die "Unità" legte dem Gericht Beweismaterial
vor und wurde freigesprochen. Am Becken gingen die Arbeiten
unbekümmert weiter.
Die mahnenden Anzeichen der Katastrophe wurden ignoriert. Von den
Hängen des Berges Toc löste sich beim
Probe-Wassereinlauf 1960 eine beachtliche Mure und rutschte ins
Wasser; oben am Hang bildet sich ein meterbreiter, mehr als zwei
Kilometer langer Spalt. Da die dazu befragten Geologen eine
weitere, große Mure als unausweichlich voraussagten, bauten
die Projektanten einen Bypass-Kanal, um die zwei durch einen
Erdrutsch entstehenden Beckenteile zu verbinden. Anscheinend fiel
keinem ein, dass die Mure aufgrund ihrer Ausmaße eine
enorme Flutwelle verursachen konnte.
Die Arbeiten im Tal des Vajont wurden auch dann unvermindert
fortgesetzt, als durch die Verstaatlichung Ende 1962 die
Wasserkraftwerke der SADE und deren Personal an die neu
gegründete ENEL übergingen. Mit der Übernahme
wurde der italienische Staat in vollem Ausmaß
mitverantwortlich für die Katastrophe - sei es durch die
mangelnde Prüfung des Projektes, sei es als Betreiber und
Verantwortlicher des Stausees. Und weit vorher schon durch die
Finanzhilfe für den Größenwahn. Die
Einfüllproben gingen weiter (im April 1963 begann die dritte
und letzte Probe); die Risse wurden größer.
Die Bewohner des Tales hörten immer häufiger
unterirdisches Grollen und Erdstöße. "Experten" und
Behörden beschwichtigen: "Alles unter Kontrolle". Die
Beobachtungen aber zeigten deutlich, dass der gesamte Berghang in
den Stausee hineinrutschte. Es war eben nichts unter Kontrolle:
Wege, die nicht mehr passierbar waren, weil sie meterweit
verrutschten, Klüfte im Hang; Warnungen wurden nach Rom und
Venedig weitergeleitet, doch änderte sich an den Anweisungen
nichts. Eine Möglichkeit hätte es gegeben, um der
nahenden Katastrophe doch noch auszuweichen: Das Wasser ablassen.
Doch das angestaute Wasser wollte man nutzen, dafür hatte
man den Damm schließlich gebaut. Auch der
Bürgermeister von Longarone, der Ortschaft am Fuße des
Dammes, war besorgt über die eventuelle Notwendigkeit, viel
Wasser auf einmal abzulassen. Wieder wurde beschwichtigt.
Experten der SADE/ENEL selbst hatten jedoch die
Gefährlichkeit bestätigt - es gab Zugangsverbot zum
See, und als der Bürgermeister sich darüber
hinwegsetzte, wurde er angezeigt, da die "Zone im wohlbekannten
Zustand der Gefährdung" sei. Zu Mittag des 9. Oktober
konnten die Arbeiter des ENEL mit bloßem Auge beobachten,
wie der Berg nach unten rutschte. Die Geschwindigkeit des
Bergrutsches stieg. Man wusste von der Gefahr, denn der
Bürgermeister von Erto-Casso wurde informiert, dass eine
mehrere Dutzend Meter hohe Welle entstehen könnte. Das
Wasser abgelassen hat man aber nicht.
In der Nacht des 9. Oktober 1963, 22.39 Uhr, löste sich der
vom Wasser untergrabene Berg Toc und stürzte in den See.
Mehr als 260 Millionen Kubikmeter Gestein - 200 Hektar auf einer
Gesamtlänge von mehr als zwei Kilometern - in den See und
riss Wälder, Weiden, Häuser, Stadel, Tiere und Menschen
mit sich. In einer Minute stieg die Geschwindigkeit von 60
Zentimeter auf 100 Kilometer pro Stunde: Das Wasser im Hang
verdunstete durch die Hitze der abwärts reibenden Masse,
dadurch bildete sich ein Dampfkissen zwischen dem Dolomitkalk und
dem Abriss. Der See wurde in zwei Teile geteilt, die Häuser
in der Nähe des Dammes von der Flutwelle begraben. Das
Wasser, das von den riesigen Massen aus dem Becken geschleudert
wurde, erhob sich in zwei riesigen Flutwellen von insgesamt 50
Millionen Kubikmetern. Die erste verschluckte in nur wenigen
Sekunden den unteren Teil von Erto samt seinen Bewohnern, die
zweite traf den Kern von Casso, schwappte über den Damm und
fiel hunderte von Metern ins Piave-Tal hinunter. Ein Kurzschluss
erleuchtete das Tal wie ein Dauerblitz - es war wie die
Apokalypse. In fünf Minuten wurden das blühende Zentrum
von Longarone sowie die umliegenden Fraktionen von einer 70 Meter
hohen Wassermauer begraben. Innerhalb von wenigen Augenblicken
war von zwei Dörfern nicht mehr ein Stein auf dem anderen.
Die Zahl der Opfer belief sich auf insgesamt 2.100- die
Zählung dauerte lange, die Leichen wurden zum Teil bis in
die Adria gespült.
Deportation
Eine Naturkatastrophe, so die eilig verbreitete Version. Wer an
dieser Version zweifelte, wurde als "Schakal" hingestellt, als
pietätlos. Der Damm blieb intakt, was von Politik und
unterwürfiger Presse als Beweis für die meisterhafte
Leistung der Ingenieure gewertet wurde. Die Staatsanwaltschaft
teilte diese Ansicht nicht. Dennoch war das lange Verfahren (es
wurde im fernen L'Aquila abgehalten aufgrund der
Befürchtung, die Überlebenden könnten das
Verfahren "stören") endete jedoch mit einer einzigen
Verurteilung zu zehn Jahren Haft, von denen nur ein Jahr
abgesessen wurde. Es waren Jahre notwendig, um den
Überlebenden, die Familienangehörige, Hab und Gut,
alles verloren hatten, eine Wiedergutmachung zu erkämpfen.
Viele begnügten sich aufgrund der nervenaufreibenden
Gerichtsverfahren mit unvorteilhaften Vergleichen.
Die Verbliebenen wurden zwei Tage nach der Katastrophe aus ihren
Häusern vertrieben. Jene Behörden, die die Warnsignale
vorher überhört hatten, waren umso emsiger bei der
Evakuierung der Dörfer. Die ENEL wollte das Becken weiter
nutzen und vertrieb dafür die Bevölkerung. Einige
Menschen kamen insgeheim zurück, obwohl - ein Hohn - der
Strom abgeschaltet worden war. Für die Vertriebenen wurde
das neue Dorf Vajont in der Friaulischen Ebene gebaut. Viele, die
ohne Haus und ohne Arbeit geblieben waren, nahmen das Angebot an.
In der neuen, kleinen Gemeinde gab es für viele Vertriebene
nur einen schlecht bezahlten und gesundheitsschädlichen
Arbeitsplatz in der Industrie. Andere wiederum fanden in "Nuova
Erto" ihr Zuhause.
Der Wiederaufbau von Longarone - für den die
Überlebenden selbst aufkamen, weil trotz der Proteste die
öffentliche Verwaltung kaum einen Finger rührte - ging
relativ rasch vor sich. Eine Gruppe von Unnachgiebigen blieb in
Erto und setzte sich dafür ein, dass der Stausee geleert
würde. Doch dafür waren zehn Jahre Kampf notwendig.
Stefano Barbacetto.
Übersetzung und Bearbeitung: Mateo Taibon.
Aus
pogrom-bedrohte Völker 222 (6/2003).
Weiterführende Literatur: Marco Paolini,
Gabriele Vacis: Der fliegende See. Chronik einer
angekündigten Katastrophe. München: Verlag Antje
Kunstmann 1998.
Siehe auch in gfbv.it:
www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/030808de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/03-1/030327de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/01-3/011203de.html
| www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/030527de.html
| www.gfbv.it/3dossier/h2o/staud.html
in www: de.wikipedia.org/wiki/Vajont-Staumauer
| www.vajont.info |
www.evb.ch/kampagne.cfm?folder_id=159
(Ilisu, Bujagali, Drei-Schluchten) | www.ecn.org/molino/collettivo/informes/pppdighe.htm
| www.bibmondo.it/libri/www-h2o.html