Türkei hat in Südostanatolien neun Mal mehr
Dörfer zerstört wie Serbien im Kosovo: 95 Prozent
der Kriegstoten sind Kurden
Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) hat der türkischen Regierung am Donnerstag vorgeworfen, im überwiegend von Kurden bewohnten Südostanatolien durch eine Politik der "ethnischen Säuberung" neun Mal soviel Dörfer zerstört oder zwangsgeräumt zu haben wie die serbische Armee im Kosovo. So sind in Türkisch-Kurdistan nach einem Bericht einer Untersuchungskommission des türkischen Parlaments von Januar 1998 mindestens 3.428 Dörfer und Weiler entvölkert worden. Exilkurden, aber auch türkische Provinzgouverneure schätzen, daß es sogar bis zu 4.000 sein könnten. Im Kosovo wurden rund 450 Dörfer dem Erdboden gleichgemacht. Aus den kurdischen Siedlungen sind nach Schätzungen der GfbV etwa 2,5 Millionen, nach Angaben kurdischer Organisation bis zu vier Millionen Menschen vertrieben worden. Die Vertriebenen sind in den Slums der kurdischen Kreis- und Großstädte in der Westtürkei Armut, Verelendung, Krankheiten und Analphabetentum preisgegeben.
Weitgehend von der internationalen Öffentlichkeit unbemerkt blieb, daß 95 Prozent der Toten des türkisch-kurdischen Bürgerkrieges Kurden waren. Türkische Experten erkllärten gegenüber der GfbV, daß allein 29.000 der Opfer angebliche oder wirkliche Anhänger der radikalen kurdischen Arbeiterpartei PKK waren. Von den rund 5.300 getöteten Angehörigen der Sicherheitskräfte waren etwa zwei Drittel Kurden. Sie wurden von der türkischen Armee zum militärischen Schutz der Dörfer zum größten Teil gezwungen. Unter den 5.500 (3.965) ermordeten Zivilisten befanden sich - mit Ausnahme der etwa 150 türkischen Lehrer- fast ausschließlich Kurden.
In den kurdischen Kreisstädten und westtürkischen Großstädten wie Istanbul, Ankara, Izmir und Bursa entstanden riesige Slumviertel ohne Infrastruktur und medizinische Versorgung. So schwoll die Einwohnerzahl von Tunceli von 24.424 im Jahr 1990 auf jetzt mehr als 40.000 an. In Van hat sich die Einwohnerzahl von 153.000 Menschen auf 457.000 verdreifacht. Die Bevölkerung von Diyarbakir, der heimlichen kurdischen Hauptstadt in der Türkei, ist innerhalb von fünf Jahren um 116 Prozent angewachsen. Heute leben dort mindestens 1,5 Millionen Menschen.
Hunderttausende Kurden verelenden. Die Vertriebenen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Abwässer kann die Kanalisation - falls vorhanden - nicht fassen. Vielerorts enstehen wilden Müllhalden, auf die auch Schlachtabfälle geworfen werden. Dies alles bietet Nährboden für Infektionskrankheiten. Nach Einschätzung der Kommission haben 50% der Vertriebenen schwere Gesundheitsprobleme. Hygienisch bedingte Elendskrankheiten wie Parasitenbefall, Typhus oder Amöbenruhr, aber
auch Hepatitis nehmen bedrohlich zu. Wurden 1991 noch 6.142 Fälle von Typhus und 4.026 Fälle von Ruhr registriert, waren es 1997 schon 21.677 bzw. 12.912. Die Kindersterblichkeit ist hoch. Im Raum Diyarbakir breitet sich Malaria aus. Die Zahl der an psychosomatischen, Herz- und Hauterkrankungen leidenden, zum Teil durch die Massenvertreibung schwer traumatisierten Flüchtlingen steigt ständig an. In den Kreisstädten und Dörfern sind gesundheitliche Vorsorgeeinrichtungen geschlossen oder können keine Dienste mehr anbieten. 87 von 387 Polikliniken sind nicht mehr besetzt, es gibt nicht genügend Fachärzte. Von weiteren 831 Gesundheitseinrichtungen sind nur noch 88 geöffnet. Die Gesundheitsvorsorge auf dem Land wurde fast gänzlich eingestellt.
Die meisten Flüchtlinge leiden unter Mangelernährung. Die Nahrungsmittelproduktion auf dem Land wurde empfindlich eingeschränkt. Mit der offiziellen Begründung, die PKK dürfe von der Zivilbevölkerung nicht länger unterstützt werden, durften Bergwiesen nicht mehr bewirtschaftet werden. Die Viehzucht, eine Haupteinkommensquelle der Region, kam größtenteils zum Erliegen. Zwangsgeräumten Siedlungen wurden vom Militär niedergebrannt. Auch erntereife Felder sowie Wälder gingen in Flammen auf.
Der Wirtschaftliche Verlust beläuft sich einer Studie des Landwirtschaftsvereins der Türkei (TZD) von 1994 zufolge auf umgerechnet etwa 6,5 Milliarden DM. So liegen in Mardin 371.492 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche brach. 115.447 Hektar Weideland veröden. 70.000 Hektar Kornanbauflächen wurden niedergebrannt und 120.000 Obstbäume nicht abgeerntet. Bei der Viehzucht ist ein Rückgang von 31,2 % zu verzeichnen. In der Provinz Diyarbakir ist die Anzahl des Nutzviehs um 50%, die der Waldflächen um 60% zurückgegangen.
Die Arbeitslosigkeit unter den Vertriebenen ist hoch. So waren Ende 1997 in Diyarbakir 32,34% der Stadtbevölkerung erwerbslos. Unter den 19-bis 24jährigen sind es 72,84 %. Die offizielle Armutsgrenze liegt in der Türkei bei einem Jahreseinkommen von 400 US-Dollar. In Südostanatolien sind es im Schnitt nur 200 US-Dollar. Tausende Familien müssen allerdings auch mit 70 bis 80 Dollar auskommen.
Im Schuljahr 1995/96 fehlten in zwölf Provinzen der Region insgesamt 10.143 Lehrer, darunter 5.567 Klassen- und 4.576 Fachlehrer. 2.203 Schulen waren geschlossen. So besuchen in Diyarbakir nur 52,39% der sieben- bis elfjährigen Kinder eine Schule.
Die zwangsweise
Räumung der Dörfer durch die türkische Armee
hatte nach Angaben der Provinzgouverneure keine legale
Basis. Die Vertreibung von Dorfgemeinschaften konnten
allein die übergeordneten Supergouverneure
verfügen: "Es gibt kein Dorf, das in der im Gesetz
bezeichneten Form (Art. 9a des Notstandsgesetztess Nr.
2935) von der für zuständig befundenen Stelle zur
Regelung der Sicherheit geräumt wurde", heißt es
in dem Bericht der Untersuchungskommission. Alle
Gouverneure hatten erklärt, im Laufe ihrer Amtszeit
von der ihnen gesetzlich oder per Rechtsverordnung
zuerkannten Kompetenz, Dörfer zu räumen, keinen
Gebrauch gemacht zu haben. Doch "die Dorfräumungen
müssen mit Kenntnis oder gar auf Anordnung der
Sicherheitskräfte oder der Verantwortlichen des
Staates durchgeführt worden sein." Auch weil sie
zwischen die Fronten von Armee und PKK geraten waren, sind
viele kurdische Familien geflohen. Folgte ein Dorf den
Anweisungen der Armee, sogenannte Dorfschützer
aufzustellen und ihre Siedlung gegen die PKK mit
Waffengewalt zu verteidigen, wurde es von der PKK bedroht.
Die Armee wiederum setzte die Dörfer unter Druck, die
sich an dem Dorfschutzsystem nicht beteiligen wollten, und
zerstörte viele von ihnen.
Una pubblicazione dell'Associazione per i popoli minacciati. Si prega di citare la fonte / Eine Publikation der Gesellschaft für bedrohte Völker. Weiterverbreitung bei Nennung der Quelle erwünscht ** WebDesign: M. di Vieste