Presserklärung 

Bozen, am 16. Februar 1999


Fall Öcalan: Europa büßt für die nicht übernommene Verantwortung

Das Ende der Flucht des PKK-Führers Abdullah Öcalan, der in Kenia in den Händen der türkischen Geheimdienste "landete", beweist, wie der Fall mehr oder weniger allen entglitten ist: zunächst Italien, das den Friedensprozeß vorantreiben hätte können, indem es entschiedener für einen internationalen Prozeß nach dem Modell von Ex-Jugoslawien oder Ruanda eingetreten wäre; dann auch Griechenland, das nicht den Mut hatte, größere Verantwortung zu übernehmen, als sein internationales politisches Gewicht zuließ.

Zuallererst entglitt der Fall jedoch der Europäischen Union, deren "Einheitsvisionen" bisher über den Aufbau einer Einheitswährung nicht hinauskamen. Die EU hätte in der Kurdenfrage entschiedener Stellung beziehen müssen. Die praktizierte Vogel-Strauß-Politik wird allein dazu dienen, die auflodernden Flammen nicht zu sehen, wenn nun die Türkei allein die Spielregeln diktieren kann. Glaubt man wirklich mit der Verhaftung von Öcalan die kurdischen Flüchtlingsströme aus der Türkei stoppen zu können? Glaubt man tatsächlich, daß europäische Städte in ihrem Wohlstand fortbestehen können? Wahrscheinlich nicht!

Die Lage der Kurden in der Türkei erweist sich zur Zeit als derart dramatisch, daß man sich keine schlimmere Alternative vorstellen kann. 4.000 Dörfer sind von der türkischen Armee dem Erdboden gleich gemacht worden, auf beiden Seiten gab es in der Zivilbevölkerung und Armee bereits Tausende von Toten. Rechtmäßig gewählte Abgeordnete befinden sich im Gefängnis, da sie auf die Existenz der "Kurdenfrage" aufmerksam zu machen wagten. 25 % des türkischen BIP fließen in die Rüstungsindustrie. Das ist die unmißverständliche Bilanz der türkischen Politik gegenüber den Kurden. Und wer heute Öl auf dieses Feuer des Haßes gießen will, wird für dieses selbstmörderische Spiel geeignetes Terrain finden.

Mehrere Kreise der italienischen Politik fordern die Türkei auf, Öcalan einen gerechten Prozeß zu gewährleisten. Wie wird sich nun Italien verhalten angesichts der Tatsache, daß die Türkei, politisch in den Fängen einer Militärjunta, Öcalan schwerlich einen fairen Prozeß garantieren kann, zumal auch die von Exponenten der türkischen Wirtschaft schon längst eingeforderten Wirtschaftsreformen bis heute nicht verwirklicht wurden? Wird auch Italien sämtliche Importe aus der Türkei blockieren, wie es damals die Anatolier vorexerzierten? Wird es in das Land des NATO-Verbündeten keine Waffen mehr exportieren? Oder wird es sich Minister Dini anvertrauen, um am UNO-Sitz, wo die Macht des Stärkeren gilt, einen verhaltenen Protest zu deponieren?

Alle sind sich darüber einig, daß Öcalan zumindest einen fairen Prozeß verdient. Wenn aber in türkischen Gefängnissen Personen wie Leyla Zana, eine kurdische Parlamentarierin der HADEP-Partei, oder Ismail Besikci, ein türkischer Soziologe, interniert sind und beschuldigt werden, die Kurdenfrage nur erwähnt zu haben, wie soll man sich dann einen fairen Prozeß für Öcalan vorstellen, sofern dieser überhaupt den Prozeßbeginn erlebt?

Die Gesellschaft für bedrohte Völker fordert Garantien für die körperliche Unversehrtheit Öcalans, sowie die Abhaltung eines Prozeßes außerhalb der Türkei, wo auch die Kurden die von der türkischen Regierung begangenen Verbrechen bezeugen können, ohne um ihr Leben fürchten zu müssen. Jede andere Lösung könnte nicht nur in Deutschland, sondern auch in ganz Europa einen Flächenbrand auslösen.


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