Die Antiterrorkoalition unter Führung der USA hat weltweit Diktaturen gestärkt und die Verfolgung oder blutige Unterdrückung von Minderheiten in vielen Ländern eskalieren lassen. Diese ernüchternde Bilanz hat die Gesellschaft für bedrohte Völker International (GfbV) ein Jahr nach den Terroranschlägen gegen die USA gezogen. "Statt die Ursachen des Terrors zu bekämpfen und eine gerechte und dauerhafte Lösung von Konflikten durchzusetzen, drückt die Koalition auch bei schweren Menschenrechtsverletzungen beide Augen zu, um Partner zu gewinnen oder bei der Stange zu halten", kritisierte der Präsident der GfbV International, Tilman Zülch, am Montag in Göttingen. Diese kurzsichtige Politik habe in den vergangenen Monaten Tausenden von unschuldigen Zivilisten das Leben gekostet. In einigen Fälle habe sie auch zu einer Radikalisierung des Widerstandes gegen Gewaltherrschaft beigetragen.
Die GfbV International skizziert im Folgenden aus Sicht einer Menschenrechtsorganisation für verfolgte und unterdrückte ethnische und religiöse Minderheiten, Nationalitäten und Ureinwohnergemeinschaften die katastrophale Situation in Krisenregionen.
Die finanzielle Hilfe der Antiterrorkoalition für Afghanistan stockt, Wiederaufbau und Errichtung rechtsstaatlicher demokratischer Strukturen sind ernsthaft gefährdet. Die Scharia wurde wieder eingeführt. Rivalisierende Warlords führen Krieg gegeneinander. Um die Zivilbevölkerung zu schützen, müsste die internationale Schutztruppe ISAF ihr Mandat über Kabul hinaus ausdehnen. In Pakistan hat Bündnispartner Pervez Musharraf im August 2002 unwidersprochen seine unbefristete Alleinherrschaft legalisiert. Aus Rücksicht auf radikale Muslime gab es keine Gesetzesreformen, religiöser Extremismus gegen Christen, Ahmadiyya und Schiiten eskaliert. Monatelang ignorierte die Antiterrorkoalition Indiens Politik der gezielten Eskalation in und um Kaschmir. Die Unabhängigkeitsbewegung wurde militärisch zerschlagen und kriminalisiert, Repressionen durch die Polizei wurden legalisiert, grundlegende Bürgerrechte außer Kraft gesetzt. Erst als im Frühjahr 2002 ein Atomkrieg zwischen Indien und Pakistan drohte, gab es Vermittlungen. Langfristig bleibt die Kaschmir-Frage ungelöst. Fast unbeachtet blieben die gegen Muslime gerichteten Pogrome in Indien. Sie wurden von Hindu-Extremisten der Regierungspartei gesteuert. Im Frühjahr 2002 kamen allein im Bundesstaat Gujarat bis zu 2.000 Menschen ums Leben, mehr als 150.000 Muslime flohen.
Trotz eskalierender Menschenrechtsverletzungen auf Westpapua und Aceh erwägt die Antiterrorkoalition neue Waffenlieferungen an Indonesien, dem bevölkerungsreichsten muslimischen Staat der Welt. Seit Januar 2002 starben 870 Acehnesen. Die meisten wurden von Soldaten erschossen. Auf Westpapua ließ die indonesische Armee führende Vertreter der um die Unabhängigkeit ringenden Urbevölkerung ermorden und bereitet mit dem Aufbau von bewaffneten Milizen ein ähnliches Schreckensszenario vor wie in Osttimor 1999. Statt auf eine gerechte Lösung des Konfliktes um die seit Jahrzehnten diskriminierte muslimische Minderheit auf Mindanao zu drängen, erhielten die Philippinen militärische Unterstützung aus den USA. Zwar halfen US-Spezialeinheiten bei der Zerschlagung der gefürchteten Abu Sayaf-Terrorgruppe und liquidierten mehrere hundert Kämpfer. Doch da die Diskriminierung der muslimischen Volksgruppe andauert, erhalten die Radikalen weiteren Zulauf. Im August kam es erneut zu Entführungen durch die Terroristen-Gruppe.
Muslimische Uiguren, buddhistische Tibeter und Falun Gong-Anhänger werden von Chinas Diktatur pauschal als Terroristen diffamiert. Ende August 2002 nahm die US-Regierung auch eine winzige uigurische Splittergruppe in die US-Liste der am meisten gefürchteten Terrorgruppen auf. Damit wird versucht, den friedlichen Widerstand der rund sieben Millionen Uiguren zu diskreditieren. Manche werden so in die Arme radikaler Islamisten getrieben. Seit dem Ende der Kulturrevolution war die Lage der Menschenrechte in China nicht so kritisch wie heute - kein Thema für die UN-Menschenrechtskommission.
Aus Rücksicht auf den Bündnispartner Russland, wird über die furchtbaren Kriegsverbrechen russischer Truppen in Tschetschenien geschwiegen. Bundeskanzler Gerhard Schröder bekräftigte kurz nach dem 11. September, die Lage in Tschetschenien müsse "differenzierter" betrachtet werden. Den Tschetschenen werden zu Unrecht kollektiv Verbindungen zu Al-Kaida unterstellt. Die für den Terror verantwortlichen russischen Einheiten arbeiten eng mit der Bundeswehr zusammen. In den zentralasiatischen Staaten Usbekistan, Kirgisien, Kasachstan, Tadschikistan und in Turkmenien werden Muslime nun massiv an der Ausübung ihrer Religion gehindert, Gläubige werden diskriminiert und verfolgt. In allen Staaten wird politische Opposition unterdrückt. Die Presse wurde durch massive Zensur mundtot gemacht. In Gefängnissen sind Misshandlungen bis hin zum Mord an der Tagesordnung.
Nach der Verhaftung einiger weniger nichtbosnischer mutmaßlicher Al-Kaida-Anhänger in Bosnien fühlt sich die muslimische Mehrheitsbevölkerung weiter allein gelassen. Es gibt es noch immer keine ernsthaften Anstrengungen, die vom Tribunal in Den Haag wegen Völkermord gesuchten serbischen Kriegsverbrecher Ratko Mladic und Radovan Karadzic festzunehmen und ihre extremistische, für den Mord an 200.000 bosnischen Muslimen verantwortliche Partei SDS zu verbieten.
Mit der einseitigen Parteinahme der Vereinigten Staaten und vieler westlicher Regierungen für die repressive Besatzungspolitik Israels in Palästina polarisiert und provoziert die Antiterrorkoalition unnötig arabische und Teile der islamischen Welt. Auch wenn die zahlreichen Verbrechen beider kriegführenden Seiten an der Zivilbevölkerung gleichermaßen verurteilt werden müssten, fehlt eine entschiedene Verurteilung der systematischen Zerstörung der palästinensischen Ökonomie, Gesellschaft und ihrer Institutionen. Obwohl die kurdische Minderheit in Syrien verfolgt wird, vor allem kurdische politische Gefangene in den Gefängnissen brutal gefoltert werden und Menschen dort spurlos "verschwinden", können syrische Geheimdienstagenten Deutschland unbehelligt verlassen, nachdem sie für ihre Diktatur jahrelang systematisch kurdische Flüchtlinge aus Syrien ausspioniert haben.
Die massive Kritik der USA an Sudans Diktator Al Bashir in Khartum ist verstummt. Er hat den Krieg gegen den Südsudan mit bisher 2,5 Millionen Toten fortgeführt, Osama bin Laden jahrelang Asyl gewährt und ihn Waffen ins Ausland verschieben lassen. Unter massivem Druck der USA für einen schnellen Friedensschluss haben die Kriegsparteien umstrittene Gebietsansprüche und andere Streitfragen bei den Verhandlungen zu Lasten der Zivilbevölkerung ausgeklammert. Deshalb wird es dort keinen dauerhaften und gerechten Frieden geben. Ungebremst kann Algeriens Diktator Abdelaziz Bouteflika weiterhin radikal muslimische Gruppen zerschlagen und mit großer Härte gegen die demokratische Opposition vorgehen, die entscheidend von den Kabylen (Berber) getragen wird. Ein von den UN geplantes Referendum über die Zukunft der von Marokko völkerrechtswidrig besetzten Westsahara ist in weite Ferne gerückt. Nach der Verhaftung mutmaßlicher El Kaida-Terroristen in Marokko unterstützen die USA und Großbritannien nun Marokko, das nur eine Scheinautonomie gewähren will. Den Wiederaufbau und die Konsolidierung des vom Krieg zerütteten Somalia haben die USA ernsthaft beeinträchtigt: Die Konten des wichtigsten Geldinstitutes, der al-Barakaat-Bank, wurden wegen angeblicher Kontakte zu Terrororganisationen gesperrt und vom internationalen Zahlungsverkehr ausgeschlossen. Rund 80 Prozent der Somali sind auf Überweisungen von Gastarbeitern über diese Konten angewiesen.
78 Staaten haben mittlerweile das Statut des Internationaler Strafgerichtshof ICC ratifiziert. Doch die USA üben seit Monaten massiven Druck auf die Unterzeichnerstaaten aus, in bilateralen Verträgen die Immunität von amerikanischen Staatsbürgern vor dem ICC zu garantieren. Rumänien, Osttimor, Israel und Usbekistan haben einen solchen Vertrag schon abgeschlossen. Die GfbV hat an alle EU Außenminister appelliert, die eindeutige Position gegen die Immunität von US Bürgern beizubehalten.
Für Flüchtlinge aus islamischen Ländern ist die Situation weltweit noch schwieriger geworden. Europa baut sich unter dem Eindruck, auch hier hätten Al-Kaida Terroristen unter dem Deckmantel des Asyls Unterschlupf gefunden und Netzwerke aufgebaut, zur Festung aus. Australien verweigerte einem Schiff mit Flüchtlingen aus Afghanistan tagelang die Einfahrt in seine Häfen. In dem Lager Woomera in der australischen Wüste werden Flüchtlinge ohne Perspektive monate- und jahrelang wie Strafgefangene festgehalten.