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Nepal

Maos verspätete Erben: Befreier der kleineren Völker Nepals?

Von Thomas Benedikter

Bozen, 7. März 2003

Nepal: Koenig Gyanendra und seine Frau (hier beim Indra Jatra-Fest) sind beim Volk wenig beliebt. Foto: Thomas Benedikter.Die Welt hört und liest vom Krieg in Nepal nur, wenn die Zahl der Opfer bei einem Maoistenangriff in die Hunderte geht. Auch in den nepalischen Tageszeitungen findet an die täglichen Frontberichte der Regierung erst auf den hinteren Seiten. Verüben die Maoisten größere Attentate oder legen das öffentliche Leben mit einem "bewaffneten Streik" lahm, wird auch den eben Angekommenen klar, dass das Land im Krieg steht. Der im Februar 1996 begonnene Aufstand hat bisher über 7.000 Opfer gefordert, davon allein 5.200 im Zeitraum Ende November 2001 bis Ende November 2002. Die im Ausland wenig bekannten ethnischen Konflikte spielen in diesen Krieg hinein.

Nepal: Politisches Theater. Foto: Thomas Benedikter."Der Hauptgrund, warum ich in die Volksbefreiungsarmee ging, war die Diskriminierung durch die oberen Hindu-Kasten, die Unterdrückung der Minderheiten durch die reaktionäre herrschende Klasse, "sagt ein rund 40-jaehriger Guerrillero vom Volk der Magar in Patli Keth westlich von Beni, "wir Magar haben gar keine Chance, im Regierungsapparat irgendwo mitzureden. Um uns von dieser Art von Unterdrückung zu befreien, bleibt uns gar nichts anderes übrig als der bewaffnete Kampf."

Nepal: Ein zerstörtes Gemeindehaus bei Patli Khet westlich von Beni. Im Hintergrund der Dhaulagiri. Foto: Thomas Benedikter.Tatsächlich sind die Magar mit 1,2 Millionen das zahlenmäßig wichtigste indigene Volk im mittleren Westen Nepals. In den Distrikten Rukum, Rolpa und Jajarkot - seit Jahren weitgehend unter Kontrolle der maoistischen Aufständischen - bilden sie das Rückgrat der maoistischen Volksbefreiungsarmee. Diese Gegend gehört zu den ärmsten Regionen Nepals und war schon seit der Wiederherstellung der Demokratie 1990 eine Hochburg der damals noch legalen maoistischen Vereinten Volksfront UPF. Polizeiterror seitens der Regierungen in Kathmandu gegen diese radikale Opposition trug wesentlich zum Ausbruch der Guerrilla bei, die heute eine Blutspur durch das ganze, einst so friedliche Land zieht. Einige Befreiungsfronten anderer kleiner Völker Nepals sympathisieren mit den Maoisten, doch die repräsentativen Vertreter suchen mit politischem Druck und Dialog mehr zu erreichen. "Wir wollen eine gemeinsame Dachorganisation aufbauen, um eine eigene politische Plattform zu bilden," meint Bal Krishna Mabuhang, der Sprecher der Indigenous Peoples Pressure Group in Kathmandu, "nur wenn wir kleine Völker an einem Strick ziehen, können wir grundlegende Reformen des Staates durchsetzen."

Nepal: Maoistische Versammlung im Distrikt Myagdi im mittleren Westen Nepals. Foto: Thomas Benedikter.In der Tat ist Nepals ethnische Landschaft schwer zu überblicken. Bei der Volkszählung 2001 wurden 61 verschiedene Ethnien und Kasten erhoben, die zum Grossteil noch ihre eigenen Sprachen sprechen (Siehe Tabelle). Nur knapp 50% der Einwohner Nepals sprechen Nepal als ihre Muttersprache, aber 75-80% verstehen oder beherrschen sie. Nepali ist eines der konstitutiven Elemente im "nation building" dieses 1769 gegründeten Staates. Noch unter der parteilosen Panchayat-Zeit von 1960 bis 1990, als der Koenig nahezu absolut herrschte, galt der Slogan: "Eine Nation, eine Tracht, eine Sprache" Die kleineren Völker hatten keine Möglichkeit, ihre Rechte einzuklagen.

Nepal: Maoistische Versammlung im Distrikt Rukum. Foto: Thomas Benedikter.Doch die demokratische Wende 1990 löste auch unter den Minderheiten Aufbruchstimmung aus. Die neue Verfassung anerkannte neben der religiösen die ethnische und sprachliche Vielfalt und verbot jede Diskriminierung aufgrund ethnischer Zugehörigkeit. Art. 18,1., stellt fest: "Jede im Koenigreich Nepal ansässige Gemeinschaft hat das Recht, ihre Sprache, Schrift und Kultur zu schützen und zu entwickeln." In der Praxis ließ der von den höheren Hindukasten dominierte Staat die kleineren Völker aber weitgehend im Stich. Die Durchsetzung der Staatssprache im ganzen Land blieb Leitlinie der Politik und an der ethnischen Diskriminierung änderte sich wenig. Diese lässt sich in Nepal in folgenden Bereichen ausmachen:
- die Minderheitenvölker sind im Parlament und in den Distriktparlamenten nicht angemessen vertreten;
- die Angehörigen von Minderheitenvölkern haben viel geringere Chancen, im öffentlichen Dienst beschäftigt zu werden als die dominierenden Hindukasten;
- auf den höheren Verwaltungsebenen sind Angehörige von Minderheiten fast überhaupt nicht vertreten;
- auch auf Distrikt- und auf lokaler Ebene ist nur das Nepali als Amtssprache anerkannt (Einige Versuche, Minderheitensprachen wie das Madhesi im Terai und das Newari im Kathmandutal zu lokalen Amtssprachen zu erklären, sind vom Hoechstgericht abgeblockt worden);
Nepal: Bauern im Distrikt Rukum. Foto: Thomas Benedikter.- in den höheren Schulen wird nirgendwo eine Minderheitensprache verwendet. Nur ganz sporadisch lässt man derzeit Minderheitensprachen in der Grundschule zu und fördert sie;
- vielen Angehörigen von Minderheiten im Terai (der Süden Nepals) wurde lange Zeit die Staatsbürgerschaft verweigert;
- in den öffentlichen Medien führen Minderheitensprachen ein Aschenputteldasein, obwohl sie von der Hälfte der Nepali täglich verwendet werden;
- kleinere ethnische Gruppen und Sprachen stehen vor dem Aussterben;
- die Hinduisierung wird über das Pflichtfach Sanskrit (die Sprache der alten hinduistischen Texte) weiterbetrieben;
- die wirtschaftlichen Entwicklungsprogramme haben jene Distrikte, die vorwiegend von Minderheitenvölkern bewohnt werden, stark vernachlässigt, obwohl die Verfassung ihre spezielle Förderung verlangt.

Nepal. Foto: Thomas Benedikter.Dazu gesellt sich die immer noch starke Zentralisierung des nepalischen Staatsapparates. Die Distrikte und "Village Development Committees" erhielten zwar etwas mehr Befugnisse, sind aber derzeit im Zuge des maoistischen Volkskriegs lahmgelegt und unzählige ihrer Gebäude (Gemeindehäuser) zerstört. Die eigentliche Entscheidungsmacht ist in Kathmandu konzentriert. Im multiethnischen Nepal wird nicht bestritten, dass es einer nationalen Verkehrssprache bedarf, um den Staat zusammenzuhalten. Doch gibt es unter den Minderheitenvölker ein wachsendes Unbehagen, trotz Demokratie auf Dauer von 2-3 Hindukasten beherrscht zu werden. "Bahunbad", die Zugehörigkeit zur Kaste der Brahmanen, Thakuri und der Chhetri ist nämlich letztendlich der Schlüssel für den Zugang zu allen wichtigen Positionen im Staat, obwohl die Kasten offiziell abgeschafft sind.

Nepal: Maoistische Kämpfer im Distrikt Rukum. Foto: Thomas Benedikter.Das ist nicht etwa auf offene Diskriminierung zurückzuführen, sondern auf die tiefe strukturelle Benachteiligung der Angehörigen der kleineren, nicht indoarischen Völker: sie leben mehrheitlich in rückständigen Regionen, haben geringere Bildungschancen und kommen im Dickicht der Vetternwirtschaft in Kathmandu nicht durch. Verstärkt wird diese Benachteiligung durch die Zentralisierung des Staatsapparats, die vielen jungen Leuten die Möglichkeit nimmt, sich zumindest lokal in den eigenen Sprachen bewegen zu können. Frustration und Radikalisierung ist die Folge.

Nepal: Eine Frau. Foto: Thomas Benedikter.Nepals Maoisten haben sich diesen Grundkonflikt in der nepalischen Gesellschaft für ihren "Volkskrieg" gegen den Staat zunutze gemacht. Schon 1998 schrieb Prachanda, der oberste Maoistenchef: "Parallel zur Entwicklung des Volkskriegs verbreitet sich ein neues Bewusstsein für den Kampf für die eigenen Rechte und die Befreiung der unterdrückten Völker Nepals wie den Magar, Gurung, Tamang, Newari, Tharu, Rai, Limbu und Madhesi. Unser Volkskrieg hat die Bildung verschiedener nationaler Befreiungsorganisationen beschleunigt und ihre nationalen Organisationen erweitert ... Ausgehend von Nepals geschichtlichen Besonderheiten und der ethnischen Vielfalt wird die neue Regierung bei voller Anerkennung des Rechtes der Völker auf Selbstbestimmung, ein Programm für ethnische Autonomie umsetzen ..." (Janadesh Weekly, 27.10.1998). Die Maoisten verstehen den "Volkskrieg" in erster Linie als einen Klassenkampf. Doch angesichts der traditionellen ethnischen Diskriminierung versuchen sie, möglichst viele kleinere Völker in ihren Kampf hineinzuziehen, um eine breite "revolutionäre Front" aufzubauen. Die Regierung konzentriert sich derzeit auf die militärische Aufstandsbekämpfung, mit verheerenden Folgen.

Nepal: Maoistische Kämpfer in der Gegend westlich von Beni. Foto: Thomas Benedikter.Die Menschenrechtsverletzungen beider Seiten sind nicht mehr zu erfassen. Auf eine politische Gegenoffensive der Regierung z.B. zugunsten der kleineren Völker hat man aber vergeblich gewartet. Auf die ethnische Herausforderung des Konflikts ist die Oberschicht der Brahmanen und Chhetri bisher nicht eingegangen. Dabei konzentriert sich die Hauptforderung der Maoisten derzeit ganz auf die Wahl einer Verfassunggebenden Versammlung, ein demokratisches Verfahren, das die nepalische Bevölkerung noch nie genossen hat. Nepals Verfassung hätte in der Tat eine tiefgreifende Nachbesserung noetig, z.B. auch um die Rechte der kleineren Völker verbindlicher festzuschreiben. Die Polizei, die königliche Armee und die ausländische Militärhilfe allein wird diese Frage kaum lösen.


Die ethnische und kastenmassige Zusammensetzung der Bevölkerung Nepals, 1991
Geographische Region Zahl der Gruppen Personen (abs.) Anteil in %
Hochlandgruppen insgs. 3 138.293 0,7
davon: Kasten 0 0 0
Ethnische Gruppen 3 136.552 0,7
Andere - 1.741 0
Berggebiete, Gruppen insg. 20 12.420.157 67,2
davon: Kasten 9 7.457.170 40,3
Ethnische Gruppen 11 4.776.993 25,8
Andere - 185.994 1,1
Inneres Terai insg. 7 206.068 1,1
davon: Kasten 0 0 0
Ethnische Gruppen 7 206.068 1,1
Terai (Flachland) insg. 25 5.718.770 30,9
davon: Kasten 20 2.939.175 15,9
Ethnische Gruppen 5 1.452.652 7,9
Andere - 1.326.943 7,1
Nicht erklärte und Ausländer - 7.809 0
Insgesamt 55 18.491.097 100

Alle Kastenangehörigen zusammengenommen: 56,2%
Alle ethnischen Gruppen/Minderheitenvölker: 35,5%
andere Gruppen: 8,3%

Anteil der Kastenangehörigen im Berggebiet: 18,2% im westlichen, 40,9% im östlichen, 51,1% im zentralen Berggebiet.
Von den insgesamt 61 ethnischen oder Kastengruppen bilden nur 11 eine Mehrheit der Bevölkerung in einem oder in mehreren Distrikten Nepals.

Quelle: Volkszählung 1991, National Bureau of Statistics, Kathmandu (die letzte Volkszählung wird von den indigenen Völkern als nicht glaubwürdig betrachtet)

Thomas Benedikter, lebt in Kathmandu und erforscht derzeit in Zusammenarbeit mit Menschenrechtsorganisationen die Hintergründe des seit 1996 andauernden Maoistenaufstands (thomas.benedikter@dnet.it).


Siehe auch:
* www: www.insof.org/de | www.amnesty.org | www.nepalitimes.com | www.maoism.org

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