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Am Rande Europas

Mehrheiten und Minderheiten in Estland

von Malte Brosig

Bozen, 10. Juni 2005

St. Olaf's Church, Tallin, Estland. Aus http://gallery.vm.ee Wer heute die Hauptstadt Estlands Tallinn besucht, kommt entweder mit dem Schiff oder dem Flugzeug. Der Besucher, wenn er den Flughafen verlässt, blickt zuerst auf einen großen See, den Ülemiste Järv. Weiter entfernt im Norden sieht man dann meist schon die berühmten Türme von Tallinn. Das Herzstück Tallinns ist ohne Zweifel die Altstadt, die komplett restauriert Touristen aus ganz Europa anzieht. Deutlich erkennbar sind die deutschen Einflüsse in der Architektur zu sehen. Tallinn (früher Reval) gehörte über Jahrhunderte zum deutschen Kulturkreis. Im 19. Jh. bildeten in den beiden wichtigsten Städten des Landes – Tallinn und Tartu (früher Dorpat) – Deutsche die Mehrheit, während auf dem Land die estnische Bevölkerung lebte. Heute sind nur noch einige hundert Deutschstämmige in Estland zu finden.

Vor allem vor Ende des Zweiten Weltkrieges gab es große Veränderungen in der Bevölkerungszusammensetzung. Schon mit Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes am 23. August 1939 verließen viele Deutsche das Land. Estland fiel in die Interessenssphäre der Sowjetunion. Stalin ließ Estland kurzerhand besetzen. Der Untergang Hitlers ermöglichte schließlich die dauerhafte Besetzung des Landes. Estland verschwand wieder von der Landkarte, obwohl es gerade erst nach Ende des Ersten Weltkrieges unabhängig geworden war und seine Souveränität im Frieden von Tartu 1920 durch Russland bestätigt wurde. Die widerrechtliche Besetzung dauerte fünf Jahrzehnte, in denen Estland sein Gesicht fast vollständig veränderte.

Seit ca. 300 Jahren leben auch Russen in Estland; sie wurden als nationale Minderheit offiziell anerkannt und waren estnische Staatsbürger. Vor der Okkupation betrug ihr Anteil ca. 10% an der Bevölkerung. Nachdem Estland zur estnischen Sowjetrepublik (ESSR) zwangsweise sowjetisiert wurde, wanderten durch eine gezielte Einwanderungspolitik Moskaus aus nahezu allen Teilen des Sowjetimperiums Menschen in das kleine Land ein, so dass man die neuen multi-ethnischen Bevölkerungsgruppen eher als russisch-sprachig bezeichnen muss. Der Anteil nicht-estnischer Bevölkerungsgruppen stieg auf über 30% an. Die massenweise Deportation von Zehntausenden Esten vorwiegend nach Sibirien hinterließ weitere Spuren und Narben die bis heute nur schwer zu heilen sind. Neben den militärischen Einrichtungen für die Rote Armee wurden im großen Stil Plattenbauten errichtet, um die neue Bevölkerung unterbringen zu können. Für die Esten bestand eine bedrückende Situation. In ihrer Hauptstadt Tallinn lebten bald 50% russisch-sprachige Bevölkerung, in Narva im Nordosten des Landes waren es schon 90%.

Pühavaimu Street, Tallin, Estland. Aus http://gallery.vm.ee Neben der politischen Machtlosigkeit kam auch die Gefahr einer völligen kulturellen Marginalisierung. Die Esten drohten im eigenen Land zur Minderheit zu werden. Trotz aller schwierigen Umstände konnten sie sich jedoch ihre kulturelle Identität bewahren. Unterschiede zur nicht-estnischen Bevölkerung sind schnell entdeckt. Während Russland christlich-orthodox ist, ist Estland evangelisch-reformiert, während die Esten in lateinischer Schrift schreiben benutzt die russisch-sprachige Bevölkerung kyrillische Buchstaben. Vor allem die Besinnung auf die estnische Sprache und Schrift ermöglichte die Bewahrung der kulturellen Identität auch unter sowjetischer Besetzung. Die Beziehung zur eigenen Sprache war essenziell für das Überleben der estnischen Kultur. Die großen Sängerfestivals förderten auch den politischen Protest gegen die sowjetische Besetzung. Nicht ohne Grund wird der friedliche Sturz der sowjetischen Besatzer auch "Singende Revolution" genannt. Wer damals dabei war, wird die Tage des Umbruchs nicht vergessen. Zeitweilig bestand durchaus die Gefahr eines gewalttätigen Konfliktes zwischen moskautreuen Gruppierungen wie der Interfront und der estnischen Nationalbewegung. Der Versuch, das Parlament zu erstürmen, scheiterte allerdings, im Gegensatz zu Litauen besetzten auch keine paramilitärischen Einheiten gewaltsam Staatsgebäude oder Rundfunkanstalten.

Ähnlich wie in Deutschland war die Freude nach der Wende groß. Aber auch hier setzte später die nüchterne Realität der Euphorie Grenzen. Der wirtschaftliche Zusammenbruch der Sowjetunion traf Estland direkt. Die großen Industriekomplexe gingen in Konkurs und trotz wieder gewonnener Unabhängigkeit blieben zunächst noch tausende russische Armeeangehörige im Land. Zu Beginn der 90er Jahre nahm man an, dass viele Russen nun das Land verlassen würden. Einige Zehntausend Menschen kehrten tatsächlich in ihre früheren Heimatländer zurück, die überwiegende Mehrheit blieb allerdings. Für die russisch-sprachige Bevölkerung waren die Veränderungen noch gravierender, denn durch die Unabhängigkeit Estlands verlor ihr alter sowjetischer Pass die Gültigkeit. Viele bekamen aber keinen neuen, da die neue Gesetzgebung nur denjenigen die estnische Staatsbürgerschaft zugestand, die schon vor der Besetzung durch Stalin in Estland lebten. Die Mehrheit verlor ihre Staatsbürgerschaft, ohne dafür die estnische zu erhalten. Seit der Unabhängigkeit besteht das Problem einer großen Anzahl von Staatenlosen. Bis heute besitzen von den ungefähr 360.000 Nicht-Esten 178.000 keinen Pass.

Offiziell sind jene, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Estland siedelten, Immigranten, die kein natürliches Recht auf einen estnischen Pass besitzen, da die Zuwanderung während der Zeit der illegalen Okkupation geschah. Diese restriktive Regelung betraf zwei Drittel der nicht-estnischen Bevölkerung - mit noch immer weit reichenden Folgen. Als nationale Minderheit gilt in Estland (wie übrigens auch in Deutschland) nur wer auch die estnische Staatsbürgerschaft besitzt. Staatenlose, gleichgültig ob in der ESSR geboren oder nach der Unabhängigkeit zu gewandert, besitzen nicht den Status einer Minderheit.

Die Tatsache, dass während der ersten Parlamentswahlen die russisch-sprachige Bevölkerung durch diese Gesetzgebung praktisch ausgeschlossen wurde, da die meisten Betroffenen keinen estnischen Pass erhielten, hat im Ausland und vor allem in Russland Empörung hervorgerufen. Man sprach sogar von einer "ethnischen Demokratie", die ein Wahlrecht nur der ethnisch estnischen Bevölkerung zugestand. Mittlerweile konnte ein beachtenswerter Anteil der russich-sprachigen Bevölkerung (130.000 Personen) die estnische Staatsbürgerschaft erhalten, allerdings erst nach Absolvierung eines Sprach- und Staatsbürgerkundetests. Die Sprachtests sorgten immer wieder für Konfliktstoff sowohl zwischen Esten und Russen aber auch zwischen der Regierung in Tallinn und der OSZE. Für viele Menschen bedeutet der Sprachtest noch immer eine Barriere. Zwar verstehen die meisten Esten Russisch; ohne Russisch konnte man vor der Unabhängigkeit praktisch nicht in der ESSR überleben, umgekehrt aber lernten die Einwanderer nicht Estnisch. Für die junge Generation ist die Sprache ein eher kleines Problem, viele ältere Menschen aber können kein Estnisch und können deshalb auch nicht die estnische Staatsbürgerschaft erlangen.

Das Sprachproblem ist noch nicht überwunden, es gehört weiterhin zu den sensibelsten Bereichen der estnischen Minderheitenpolitik. Selbst in Tallinner Stadtteilen, in denen mehrheitlich keine Esten wohnen, wie Mustamäe oder Lasnamäe, wird man vergeblich Schilder in russischer Sprache suchen. Alle Aushänge, wie z.B. Werbung in Geschäften, Hinweistafeln etc. müssen in estnisch verfasst werden. Diese Regelung verstößt allerdings gegen Art. 11 der "Rahmenkonvention zum Schutz Nationaler Minderheiten". Ebenfalls restriktiv fällt § 23 des estnischen Sprachgesetzes aus. Demnach kann nur in Gemeinden, in denen mindestens 50% der Bevölkerung nicht-estnischen Ursprungs sind, eine zweite Sprache als Amtsprache neben dem Estnischen benutzt werden. Diese Regelung ist ein Politikum: In der Hauptstadt Tallinn ist 48% der Bevölkerung russisch-sprachig. Die estnische Gesetzgebung, beruhend auf Art. 6 der Verfassung, der Estnisch als Staatssprache festschreibt, hat bisher jeden Versuch in Richtung Zweisprachigkeit unterbunden.

Ernten, Tallin, Estland. Aus http://gallery.vm.eeWährend der Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union wurde immer wieder die Situation der russisch-sprachigen Minderheit thematisiert. Die OSZE entschloss sich sogar, eine kleine Delegation nach Tallinn zu entsenden, die ihre Arbeit im Jahr 2001 erfolgreich beendete. Zu keinem Zeitpunkt wurden die Spannungen zwischen Esten und russisch-sprachiger Bevölkerung so groß, dass es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam. Es bedurfte aber jahrelanger Arbeit, Überzeugung und auch internationalen Drucks, um offiziell eine Minderheitenpolitik einzuführen, deren Ziel die Integration der nicht-estnischen Bevölkerung ist. Frühere Programme förderten bisweilen die Auswanderung in die Russische Föderation. Trotzdem bleibt es auffällig, dass sich die Mehrheit der von der estnischen Regierung geförderten Integrations- und Sprachförderungsprogramme an jüngere Generationen wendet. So richtig dieser Ansatz im ersten Moment erscheinen mag, wird doch schnell deutlich, dass hier auch auf eine "natürliche" Lösung der Minderheitenproblematik gewartet wird.

Trotz Integrationsfortschritten kündigen sich neue Probleme an. Die Zahl der HIV/AIDS Infizierten steigt in Estland rasend schnell und betroffen hiervon ist vor allem die russisch-sprachige Bevölkerung. Es fällt auch auf, dass der Anteil russisch-sprachiger Arbeitsloser erheblich höher ist als der in der ethnisch estnischen Bevölkerung. Große Teile der russich-sprachigen Bevölkerung befinden sich in einem identitätsmäßigen Schwebezustand zwischen Estland und Russland. Einerseits lastet auf den Menschen ein Gefühl des nicht-Dazugehörens, während andererseits viele noch nicht im neuen Estland angekommen sind. So gelten sie in Russland schon nicht mehr als ‚wirkliche' Russen und in Estland noch nicht als ‚volle' Esten. Für Moskau haben die baltischen Russen wenig Bedeutung, es sei denn als politisches Druckmittel gegenüber Estland und Lettland.

Estland hat sich in den letzten 15 Jahren stark verändert. Die wirtschaftliche Transformation vom Kommunismus zum Kapitalismus ist erfolgreicher verlaufen als in den meisten anderen osteuropäischen Ländern. Die Modernisierung des Landes und der Anschluss an den westlichen Lebensstandard sind nicht zu übersehen. Somit sind beste Voraussetzungen vorhanden, um Konfliktlinien zwischen Mehrheiten und Minderheiten zu entschärfen, wenn Minderheiten-Integration als zweiseitiger Prozess verstanden und praktiziert wird. Gegenseitiger Respekt und Anerkennung sind die Basis für eine erfolgreiche Integration und Konsolidierung der multiethnischen estnischen Gesellschaft. Zwar kam es zwischen beiden Gruppen nie zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, trotzdem wird der jeweils anderen Gruppe nur passive Akzeptanz zuteil, d.h. man duldet den Nachbarn, schätzt ihn aber wenig.

Von Malte Brosig

Aus pogrom-bedrohte Völker 231 (3/2005)


Siehe auch:
* www.gfbv.it: www.gfbv.it/3dossier/siberia/sakhal-de.html | www.gfbv.it/3dossier/cecenia/cecen-224.html | www.gfbv.it/3dossier/siberia/indsibdt.html | www.gfbv.it/3dossier/3indice.html#eu-min

* www: Integration Foundation: www.meis.ee
Minister für Bevölkerungs- und Minderheiten Fragen: www.rahvastikuminister.ee
Estnische Gesetzestexte in Übersetzung (Englisch): www.legaltext.ee
Staatsbürgerschafts- und Migrationsbüro: www.mig.ee
Russische NGO: www.lichr.ee
Red Book: www.redbook.ee
Malte Brosig: www.maltebrosig.net

Letzte Aktual.: 13.6.2005 | Copyright | Suchmaschine | URL: www.gfbv.it/3dossier/eu-min/estland.html | XHTML 1.0 / CSS / WAI AAA | WEBdesign, Info: M. di Vieste

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