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Finnische Tataren

Muslime des hohen Nordens

Mieste Hotopp-Riecke

Bozen, Göttingen, 8. Juni 2015

Ramil Belyayev, Imam der finnisch-tatarischen Muslime, gedenkt den muslimischen Tataren, die im Zweiten Weltkrieg für Finnland gefallen sind. Foto: Dr. Marat Gibatdinov. Ramil Belyayev, Imam der finnisch-tatarischen Muslime, gedenkt den muslimischen Tataren, die im Zweiten Weltkrieg für Finnland gefallen sind. Foto: Dr. Marat Gibatdinov.

Sie kämpft um das kulturelle Überleben: die kleine tatarische Gemeinschaft in Finnland, die 850 Mitglieder zählt. Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts ließen sich die ersten muslimischen Tataren und Baschkiren [*] in Finnland nieder. Sie waren Angehörige der russischen Armee. Das Zarenreich hatte Finnland damals erobert. 1832 etwa halfen tatarische Militärs mit bei dem Bau der Festung Bomarsund auf den ÅlandInseln. Auf einer dieser Inseln befindet sich heute noch ein islamischer Friedhof. Ab 1836 betreute ein Imam auf der Festungsinsel Sveaborg, heute Suomenlinna, vor der Küste Helsinkis die muslimischen Offiziere und Soldaten. Die Muslime des Großfürstentums Finnland als Teil des russischen Zarenreiches wurden administrativ von der Geistigen Verwaltung Orenburg in Südrussland betreut, später von Ufa aus, der heutigen Hauptstadt Baschkortostans.

Um 1870 lebten in Helsinki rund 100 auf Sveaborg stationierte muslimische Soldaten und deren Angehörige. Im Gegensatz zu den jüdischen Soldaten der russischen Armee blieben nur einige dieser Muslime. Die Vorfahren der heutigen Tataren kamen in einer Einwanderungswelle im 19. Jahrhundert aus Dörfern am Oberlauf der Wolga nach Finnland. Diese Bauern, Handwerker, Textil-, Pelz- oder Teppichhändler waren auf der Suche nach einem besseren Leben. Viele holten ihre Familien jedoch erst nach der Oktoberrevolution von 1917 nach, als sich Finnland die Unabhängigkeit von Russland erstreiten und über Konsulate in Petrograd und Moskau in den 1920er Jahren Visa vergeben konnte. 1923 wurde in Finnland die Glaubensfreiheit gesetzlich verankert. 1915 hatten sich die Tataren organisiert und die Muslimische Wohltätige Gesellschaft Helsinki gegründet. 1925 entstand die Finnische Islamische Gemeinde.

Die Tataren erarbeiteten sich binnen dreier Generationen einen oberen Platz in der finnischen Gesellschaft. Sie stiegen von Hausierern und Markthändlern zu wohlhabenden Kaufleuten auf. In den finnischsowjetischen Kriegen 1939-44 verteidigten auch Tataren Finnland gegen die UdSSR. Der Krieg hatte zur Folge, dass westliche Großhandelsfirmen die Familienunternehmen der Tataren marginalisierten. Aufgrund dessen investierte die junge Generation das Kapital in Bildung. Viele studierten, sodass seit den 1960er Jahren viele Tataren nun als Anwälte, Pharmazeuten, Wissenschaftler, Künstler oder Physiker tätig waren. Aufgrund der gehobenen sozio-ökonomischen Stellung war es der kleinen tatarischen Gemeinde bis heute möglich, eigene Zeitungen, Bücher und Schallplatten auf den Markt zu bringen sowie Bibliotheken, Sonntagsschulen und Gebetsräume zu unterhalten.

Bereits 1924 versuchten die Tataren, eine eigene Grundschule zu eröffnen. Sie baten den tatarischen Intellektuellen Ayaz Ishaki um Hilfe, der im Berliner Exil 1923 die panturkistische Gesellschaft Turan gegründet hatte. Dieser sandte den in Kasan ausgebildeten Pädagogen und auch im deutschen Exil lebenden Gibadulla Murtasin (1895-1968) nach Finnland. Selbst die deutsche Regierung unterstützte im Ersten Weltkrieg mit Geld die Bemühungen um muslimisch-tatarische Bildung. Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Helsinki unter dem Dach des Islamischen Hauses eine Grundschule gegründet, an der die tatarische Sprache auch in arabischer Schrift sowie Kalligrafie und die Geschichte der Turkvölker unterrichtet wurden. Nach dem Tode Murtasins 1965 unterrichtete ein neuer Lehrer in der türkischen Hochsprache der Türkei. Er benutze dazu lateinische Buchstaben. Infolgedesse besuchten viele Schüler die Schule nicht mehr und bevorzugten finnische Bildungseinrichtungen. 1969 wurde diese Schule schließlich geschlossen. In den 1970er Jahren wurden auch Lehrer türkischer, aserbaidschanischer und turkmenischer Abstammung eingeladen, Kurse zur Geschichte der Tataren und anderer Turkvölker oder zur Auslegung des Koran zu halten. Aus Tatarstan selbst konnten keine Pädagogen eingestellt werden: Einerseits wegen der Visamodalitäten während des Kalten Krieges, andererseits benutzten sowjetische Lehrer für die tatarische Sprache die kyrillische Schrift.

Heute sind die Tataren sehr gut integriert. Sie sprechen als Muttersprachen auch Finnisch und Schwedisch. Die Tataren grenzen sich jedoch anderen Muslimen gegenüber ab. In den 1980er Jahren waren die Tataren noch die einzigen Muslime. Seitdem sind immer mehr Muslime, etwa aus Somalia, vom Balkan oder aus dem Nahen Osten, eingewandert. Mittlerweile leben zwischen 40.000 und 60.000 Menschen muslimischen Glaubens in Finnland - das sind weniger als ein Prozent der Bevölkerung.

Die kleine Gemeinde der Tataren muss um ihren kulturellen Erhalt kämpfen. Vor allem die junge Generation spricht immer seltener Tatarisch. Noch im 20. Jahrhundert wurde streng darauf geachtet, dass die Tataren nur innerhalb ihrer Gemeinschaft heiraten. Das hat sich jedoch geändert und viele Tataren gehen nun binationale Ehen ein. Zudem sterben mehr Tataren als geboren werden. Doch Ali Atik vom Vorstand der tatarischen Dachorganisation in Finnland ist zuversichtlich: "In unserer Geschichte hat es immer schwierige Zeiten gegeben, die wir stets gemeistert haben."

[*] Die meisten muslimischen Einwanderer waren Mishär-Tataren aus der Gegend um Nizhny Novgorod. Die Mishär-Tataren werden mit den Nogaybaken, Kreshyani, Kazimov-Tataren und Teptären zur Gruppe der Wolga-Tataren gezählt.Ramil Belyayev, Imam der finnisch-tatarischen Muslime, gedenkt der muslimischen Tataren, die im Zweiten Weltkrieg für Finnland gefallen sind.

[Zum Autor] Der Turkologe Dr. Mieste Hotopp-Riecke ist als ehrenamtlicher Krim- und Turkvölker-Experte bei der Gesellschaft für bedrohte Völkertätig. Er ist Vorstandsvorsitzender des Instituts für Caucasica-, Tatarica- und Turkestan-Studien und Mitinitiator des Deutsch-Krimtatarischen Dialogs. Hotopp-Riecke arbeitet zudem als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Projekt Yazma Miras/Written Heritageder Akademie der Wissenschaften der Republik Tatarstan.

Aus pogrom-bedrohte Völker 286 (1/2015)