"Im Dritten Reich
galten wir Juden als Untermenschen. Die Zigeuner werden
noch heute als Untermenschen zwar nicht offen bezeichnet,
aber empfunden und behandelt." - der deutsche
jüdische Philosoph Ernst Tugendhat 1979.
Es hat 34 Jahre seit dem Ende des Dritten Reiches gedauert,
bis der Holocaust an den Sinti und Roma 1979 durch eine
deutsche Menschenrechtsorganisation, die Gesellschaft
für bedrohte Völker (GfbV), bekannt gemacht
wurde. Die GfbV war es auch, die 1982 die beiden
höchsten Repräsentanten Deutschlands, den
Bundeskanzler und den Bundespräsidenten, dazu bewegte,
den Völkermord an dieser verfemten Minderheit
anzuerkennen. Danach veränderte sich die politische
Situation der deutschen Sinti und Roma grundlegend. Medien,
Politik und Bevölkerung, die zuvor den als
Beschimpfung empfundenen Namen "Zigeuner" benutzten,
verwendeten fortan deren Eigenbezeichnung Sinti und Roma.
Erstmals wurde die "Zigeunerverfolgung" der Nazis in die
Schulbücher aufgenommen.
Meilenweit von diesen Errungenschaften entfernt bleiben
jedoch in Deutschland weiterhin diejenigen Roma, die seit
den 1980-ziger Jahren aus Südosteuropa zu uns kamen,
weil sie Verelendung, Verfolgung und Diskriminierung
entkommen wollten, vor dem Genozid in Bosnien Herzegowina
fliehen mussten oder aus dem Kosovo vertrieben wurden. Es
können eine oder auch mehrere Hunderttausend sein. In
Deutschland sind sie rechtlos, werden ein großes
Stück weit so behandelt, wie es Ernst Tugendhat oben
formuliert hat.
Außenstehende Beobachter haben oftmals einen
geschärfteren Blick für Verfolgungssituationen in
anderen Ländern. Das Open Society Institute - Budapest
hat dies mit einer Fülle ausgezeichneter Reporte
bereits bewiesen. Insofern ist dem Open Society Institute -
Budapest ganz besonders dafür zu danken, mit dem
Report "Die Lage der Sinti und Roma in Deutschland"
erstmals einen sorgfältig recherchierten Bericht
über die Situation der Sinti und Roma vorgelegt zu
haben, den das Institut in einer gemeinsamen
Pressekonferenz mit der Gesellschaft für bedrohte
Völker (GfbV) heute in Berlin der Öffentlichkeit
vorstellte. Die GfbV empfiehlt diesen Bericht allen
Vertretern von Politik und Öffentlichkeit ganz
ausdrücklich.
Kontakt: Alphia Abdikeeva (OSI) +36 302 977 127 aabdikeeva@osi.hu; Report im
Wortlaut auf: www.eumap.org
Deutschland muss
handeln, um verbreiteten Antiziganismus
einzudämmen
In Deutschland, einem der größten und
einflussreichsten Mitgliedstaaten der EU, ist
Antiziganismus weit verbreitet. Für einen
Großteil deutscher Roma und Sinti, die zu einer der
ältesten Minderheitengruppe des Landes gehören,
sind Diskriminierung und Ausgrenzung an der Tagesordnung.
Deutschland hat seine Gesetzgebung außerdem bislang
nicht mit der EU- Gleichbehandlungsrichtlinie in Einklang
gebracht, und ausreichende Mittel, Minderheitenrechte
geltend zu machen und Angehörige von Minderheiten
gegen rassistisch motivierte Gewalt zu schützen,
existieren ebenso wenig wie ein umfassendes
Regierungsprogramm, das sich mit diesen Angelegenheiten
beschäftigt. Dies sind die wichtigsten Ergebnisse
eines Berichts über die Situation von Sinti und Roma
in Deutschland, die heute vom OSI (Open Society Institute)
veröffentlicht wurde. Das OSI ermuntert die deutsche
Regierung, mit einer Vielzahl von Sinti und
Roma-Organisationen in einen Dialog darüber zu treten,
wie ein umfassendes Programm entwickelt werden kann, das
sich mit den Problemen dieser Gruppen
beschäftigt.
Ungeachtet ihrer sechshundertjährigen Geschichte in
Deutschland und ihrer Anerkennung als nationale Minderheit
werden Sinti und Roma zum überwiegenden Teil als
"Ausländer" wahrgenommen. Antiziganismus wird im
Alltagsleben durch den Gebrauch von diffamierenden
Vorurteilen und Klischees in den Medien spürbar, durch
den Mangel an objektiver und umfassender Darstellung von
Sinti und Roma in Schulbüchern und durch den
systematischen Ausschluss der Sinti und Roma von
allgemeiner Bildung und Arbeit, vom Wohnen und allgemein
von der Gesellschaft.
Die Kinder von Sinti und Roma sind beim Zugang zu Bildung
ernsthaft benachteiligt. Obwohl keine offiziellen
Statistiken verfügbar sind, wird weithin berichtet,
dass Sinti- und Romakinder in Sonderschulen
überrepräsentiert sind, und dass diese Kinder die
Schule zu einem unverhältnismäßig hohen
Anteil vorzeitig verlassen.
Trotz der Frist vom Juli 2003 hat Deutschland bisher keine
umfassende Antidiskriminierungsgesetzgebung geschaffen, die
mit der EU-Gleichbehandlungsrichtlinie konform geht. Die
bestehende Gesetzgebung und das politische Rahmenprogramm
sind derzeit eindeutig unzureichend, was den Schutz
schwacher Minderheiten vor Diskriminierung und Ausgrenzung
angeht.
Das Fehlen verlässlicher statistischen Daten stellt
eine zusätzliche Herausforderung bei der Festlegung
von Art und Umfang ethnischer und rassistischer
Diskriminierung im allgemeinen und gegen anerkannte
Minderheiten wie Sinti und Roma im besonderen dar. Es gibt
keine kompetente Einrichtung gegen Diskriminierung; statt
dessen wird Diskriminierung mit Fremdenfeindlichkeit
gleichgesetzt und von Ausländerbeauftragten auf
ad-hoc-Basis behandelt. Die Regierung muss handeln, um die
deutsche Gesetzgebung und Gesetzgebungspraxis mit geltenden
EU-Standarten in Einklang zu bringen.
Sinti und Roma sind vielfach zu Objekten offizieller
Kriminalitätsprävention oder Sozialpolitik
gemacht worden. Viele Vertreter der Sinti und Roma stellen
fest, dass ein großer Teil von Projekten und
Initiativen nach wie vor eher diesem Ansatz folgt, als dass
Sinti und Roma als gleichberechtigte Partner an sie
betreffenden Entscheidungsprozessen beteiligt werden.
Darüber hinaus fehlt ein umfassender Ansatz zum Schutz
von Minderheiten, der die ganze Bandbreite von Menschen-
und Minderheitenrechten berücksichtigen würde.
Die deutsche Regierung sollte sich stärker für
einen Dialog mit dem gesamten Spektrum der bestehenden
Sinti- und Romaorganisationen engagieren, bei dem Sinti und
Roma im Zentrum der Bemühungen stehen, um ihre
Situation zu verbessern.
Anmerkung für Herausgeber:
Der zweibändige Bericht "Monitoring:
Minderheitenschutz," den das OSI heute vorlegt, widmet sich
der Situation schwacher Minderheitengruppen in 15
europäischen Ländern. Der erste Band konzentriert
sich dabei auf 10 EU- Beitrittskandidaten Zentral- und
Osteuropas und nimmt eine Auswertung derjenigen Programme
vor, die die Regierungen entwickelt haben, um die Situation
der Roma in Bulgarien, Tschechien, Ungarn, Litauen, Polen,
Rumänien, Slowakei und Slowenien zu verbessern, sowie
die Integration russisch sprechender Menschen in Estland
und Lettland zu erleichtern. Dieser Band folgt dem 2001
erschienenen Minderheitenschutz-Report EUMAP, der das
gesetzgeberische und institutionelle Rahmenprogramm des
Minderheitenschutzes in den 10 EU- Anwärterstaaten
Zentral- und Osteuropas untersucht.
Der zweite Band konzentriert sich auf die 5
größten Eu-Mitgliedsstaaten und untersucht die
Situation von Muslime in Frankreich, Italien und
Großbritannien sowie die der Roma in Deutschland und
Spanien. Dieser Band wurde mit der Absicht erarbeitet,
deutlich zu machen, dass EU- Standards durchgesetzt und in
der gesamten EU gleichermaßen - und nicht nur in den
Anwärterstaaten - regelmäßig
überprüft werden müssen.
"Monitoring: Mindeheitschutz" wurde vom EU Accession
Monitoring Program (EUMAP) des Open Society Institutes
(OSI) entwickelt, dessen Aufgabe es ist, die
verantwortungsvolle und nachhaltige Erweiterung der EU zu
unterstützen. In 10 Staaten Zentral- und Osteuropas
sowie in 5 EU-Mitgliedsstaaten überwacht EUMAP
Menschenrechtsschutz und dessen Umsetzung, in
Zusammenarbeit mit NROs und Bürgergesellschaft.
Die EUMAP-Berichte betonen die Wichtigkeit
gesellschaftlicher Überprüfung und rufen zu einem
direkten Dialog zwischen Regierungs- und
Nichtregierungsorganisatoren über Aspekte im
Zusammenhang mit politischen Kriterien für den
EU-Beitritt. Über den Minderheitenschutz Bericht
hinaus hat EUMAP im November 2002 weitere
Monitoringberichte herausgegeben, die sich mit der Funktion
der Justiz, mit Korruption und ihre Bekämpfung und -
in Zusammenarbeit mit dem OSI Network Women Program/Open
Society Foundation Rumänien - mit Fragen der
Chancengleichheit von Frauen und Männer
beschäftigen. Jeder Report enthält spezifische
Empfehlungen an die jeweiligen Regierungen und an die
EU.