In: Home > News > NACHRUF: Die internationale Märchenforscherin Dr. Ines Köhler-Zülch ist tot
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Bozen, Göttingen, 2. Mai 2019
Dr. Ines Köhler-Zülch. Foto: Kurt Weber.
Sie war klug und engagiert und selbstverständlich stand
ihr Haus für jeden offen. Unzählige Gäste aus
aller Welt hat sie beherbergt; oft standen mit ihrem Mann Tilman
Zülch überraschend auch gleich mehrere vor ihrer
Tür. Wer länger bleiben wollte oder musste, bekam den
Schlüssel in die Hand gedrückt: Kurden oder
assyrisch-aramäische Christen aus dem Nahen Osten, Sinti und
Roma, indigene Delegierte aus Süd- und Nordamerika, Aeta aus
den Philippinen, Kriegsflüchtlinge aus Bosnien und viele
mehr. Sie waren sofort eingeladen, fanden neben Speis und Trank
und einem Platz zum Schlafen stets ein offenes Ohr für ihre
bedrückenden Berichte von Folter, Verfolgung und
Vertreibung. Nur wenige Wochen vor ihrem 78. Geburtstag und
liebevoll umsorgt von ihrem Mann ist die Menschenrechtlerin und
Märchenforscherin Dr. Ines Köhler-Zülch jetzt nach
langer schwerer Krankheit in Göttingen gestorben.
Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) hat mit
Ines Köhler-Zülch die "Frau der ersten Stunde"
verloren. Sie hat ihrem Mann Tilman Zülch, der die
Menschenrechtsorganisation vor mehr als 50 Jahren gründete
und bis Frühjahr 2017 leitete, stets den Rücken
freigehalten. Als starke Wegbegleiterin unterstützte sie
seine Ziele wach, kritisch und bedingungslos mit ganzer Kraft,
blieb dabei jedoch bescheiden im Hintergrund. Sie sorgte in den
Anfangsjahren für das Auskommen des Ehepaares, bis die GfbV
zu einer bundesweit und dann auch international anerkannten
Menschenrechtsorganisation herangewachsen war.
1941 in Magdeburg geboren, studierte Ines Köhler-Zülch
Slavistik, Germanistik und Romanistik in Marburg und Hamburg.
Nach ihrer Promotion ging sie 1974 nach Göttingen, um
für die "Enzyklopädie des Märchens" über
Sprachgrenzen und Kontinente hinweg zu forschen. Hier
gründete sie gleichzeitig die erste GfbV-Regionalgruppe,
warb um Mitstreiterinnen und Mitstreiter für die
Durchsetzung der Rechte ethnischer und religiöser
Minderheiten. Mit so großem Erfolg, dass ihr Mann schon auf
ein tragfähiges Netzwerk bauen konnte, als auch er aus
Hamburg in die südniedersächsische
Universitätsstadt zog.
So ist es nur dem außerordentlichen Einsatz Ehrenamtlicher
wie dem von Ines Köhler-Zülch zu verdanken, dass die
GfbV in ihren Anfangsjahren für eine vielköpfige
Delegation von Repräsentanten indianischer Volksgruppen aus
allen Teilen Amerikas Vortragsreisen durch ganz Deutschland
organisieren konnte. Die Berichte der Delegierten über
unerträgliche Diskriminierung und schwere
Menschenrechtsverletzungen stießen auf riesige Resonanz.
Auch zur Organisation des dritten Welt-Roma-Kongresses 1981 in
der Göttinger Stadthalle trug Ines Köhler-Zülch
ganz entscheidend bei. Ihr Engagement - sei es für die
Überlebenden von Völkermord in Bangladesch, Osttimor
oder Guatemala, für Giftgasflüchtlinge aus dem Irak
oder Vertreibungsopfer aus Bosnien - blieb bis zu ihrer schweren
Erkrankung 2017 ungebrochen. Sie brachte sich bei konzentrierten
Strategiediskussionen genauso ein wie bei hitzigen Diskussionen
und gab wertvolle Impulse für wichtige
Menschenrechtsinitiativen für bedrohte Minderheiten und
Nationalitäten.
32 Jahre lang arbeitete sie in der Redaktion der
Enzyklopädie des Märchens mit, einem Projekt der
Göttinger Akademie der Wissenschaften. Ihre Schwerpunkte bei
der historisch-vergleichenden internationalen
Märchenforschung lagen in Südosteuropa, auf alten und
modernen Sagen und Märchen. Sie veröffentlichte
gemeinsam mit einer Kollegin nicht nur das Buch "Schneewittchen
hat viele Schwestern", sondern auch zahlreiche wissenschaftliche
Schriften und Buchbeiträge. Breite öffentliche
Beachtung fanden ihre historisch-kritischen Forschungen zur
Walpurgisnacht. Vortragsreisen führten sie ins
europäische Ausland, nach Indien, in die USA und in den
Nahen Osten.
Das wissenschaftliche Engagement von Ines Köhler-Zülch
hat die Enzyklopädie des Märchens so entscheidend
mitgeprägt, dass sie nach ihrem Ausscheiden nicht in den
verdienten Ruhestand entlassen wurde. Vielmehr wurde sie
ehrenamtlich zur Mitarbeit an diesem international konzipierten
Handbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung
verpflichtet und Mitherausgeberin der 15 Bände, die 1975 bis
2015 erschienen.
Wenn sie sich dann doch einmal mit ihrem Mann "Freizeit"
gönnte, widmeten sich die beiden der blühenden Vielfalt
ihres Gartens in Göttingen, durchwanderten den Harz zur
Teufelsmauer oder dem Hexentanzplatz oder genossen die Seeluft
auf der Nordseeinsel Amrum.
Siehe auch in gfbv.it:
www.gfbv.it/2c-stampa/2017/170327de.html
in www: https://de.wikipedia.org/wiki/Ines_Köhler-Zülch