In: Home > News > Ein Leben für die Menschenrechte von Minderheiten weltweit. GfbV-Generalsekretär Tilman Zülch zieht sich zurück
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Bozen, Göttingen, 27. März 2017
Tilman Zülch erhielt für seinen unermüdlichen Einsatz als unbequemer Mahner und Warner 16 Auszeichnungen, darunter das Bundesverdienstkreuz, den Niedersachsenpreis für Publizistik, den Göttinger Friedenspreis, die Ehrenbürgerschaft der Stadt Sarajevo, den Bürgerrechtspreis des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma oder den Srebrenica Award against Genocide. Foto: Werner H. T. Fuhrmann.
Nach fast 50 Jahren beendet einer der profiliertesten
Menschenrechtler Deutschlands, Tilman Zülch, seine
Tätigkeit als Generalsekretär der Gesellschaft für
bedrohte Völker (GfbV). Künftig wird der 77 Jahre alte
GfbV-Gründer die GfbV-Kampagnen beratend begleiten. Die
politische Leitung der Menschenrechtsorganisation übernimmt
der langjährige GfbV-Asien- und Afrika-Experte Ulrich
Delius.
In einer Dokumentation zum 50-jährigen Bestehen der GfbV
wird Tilman Zülch den konsequenten Kampf der GfbV gegen
Völkermord und Massenvertreibung ethnischer sowie
religiöser Minderheiten und indigener Gemeinschaften seit
1968 festhalten. Die GfbV ging aus der von den damaligen
Hamburger Studenten Zülch und Klaus Guercke 1968
gegründeten "Aktion Biafra-Hilfe" hervor. Diese setzte sich
politisch und humanitär für die zehn Millionen
Angehörigen des Ibo-Volkes, die von der nigerianischen
Regierung mit militärischer Unterstützung der
Sowjetunion und Großbritanniens einer Hungerblockade
ausgesetzt wurden. Mit der kirchlichen Luftbrücke flog
Zülch in den Biafra-Kessel und wurde direkter Zeuge der
Aushungerung, der zwei Millionen Menschen zum Opfer fielen. Im
Oktober 1968 sprach Günter Grass auf der ersten großen
Biafra-Demonstration in Hamburg, Persönlichkeiten wie Ernst
Bloch, Heinrich Böll, Paul Celan, Helmut Gollwitzer, Erich
Kästner, Siegfried Lenz oder Carl Zuckmayer
unterstützten die Aktionen der Biafra-Hilfe.
Mit Tilman Zülch an der Spitze ist die GfbV immer wieder
gegen den Strom geschwommen und hat sich nicht zuletzt für
Volksgruppen eingesetzt, "von denen keiner spricht", so der Titel
eines der von Zülch herausgegebenen Bücher. Seit 1970
setzt sich die GfbV kontinuierlich für Kurden, Yeziden oder
assyro/aramäische/chaldäische Christen im Nahen Osten
ein. So deckte die GfbV die Beteiligung deutscher Firmen an dem
Aufbau der Giftgasindustrie und einer Kampfhubschrauberflotte im
Irak auf, der in der kurdischen Stadt Halabja 5.000 Menschen zum
Opfer fielen. 1977/78 wurde die erste große Europarundreise
für indianische Delegierte aus 16 Staaten Nord- und
Südamerikas organisiert - mit überwältigender
öffentlicher Resonanz.
1979 bis 1981 machte die GfbV den bis dahin tabuisierten
Holocaust an Sinti und Roma bekannt. Der von Zülch 1979
herausgegebene Band "In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt"
(mit einem Vorwort des Philosophen Ernst Tugendhat), ein
gemeinsam mit dem Verband deutscher Sinti unter Romani Rose
organisierter Trauermarsch zur KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen
(1979) mit der damaligen Präsidentin des Europaparlaments
Simone Veil und Heinz Galinski, damaliger Präsident des
Zentralrats der Juden in Deutschland sowie schließlich der
Internationale Roma-Kongress (1981) in Göttingen unter
Schirmherrschaft von Simon Wiesenthal und Indira Ghandi mit 400
Roma-Delegierten aus 26 Staaten und fünf Kontinenten
brachten den Durchbruch: Der Genozid wurde von der
Bundesregierung anerkannt. Staatenlose Sinti erhielten ihre
deutsche Staatsbürgerschaft zurück, die Bezeichnung
Sinti/Roma anstelle von Zigeuner wurde durchgesetzt und die neu
entstandenen Institutionen der Volksgruppe wurden nun staatlich
gefördert.
Die GfbV war wohl die lauteste und nachdrücklichste Stimme
im deutschen Sprachgebiet, als im Bosnienkrieg (1992-95)
Hunderttausende Europäer, bosnische Muslime, um ihr Leben
liefen, vor geschlossenen Grenzen standen, in Konzentrations- und
Vergewaltigungslagern, bei standrechtlichen Erschießungen
und den Bombardements ihrer Städte starben. Das Massaker von
Srebrenica war der tragische Höhepunkt ihres Martyriums. Die
GfbV organisierte 1993 die Bosnien-Demonstration vor der
KZ-Gedenkstätte Buchenwald mit 3.000 Teilnehmern, darunter
Marek Edelman, Kommandeur der Widerstandskämpfer im
Warschauer Ghetto, der französische Philosoph Alain
Finkielkraut und der litauische Präsident Vytautas
Landsbergis. Es folgten u. a. die große
Bosnien-Demonstration mit 50.000 Teilnehmern in Bonn (1994), die
Gründung des Bosnischen Forums (1994), der Aufbau eines
symbolischen Friedhofes vor dem Wohnhaus von Bundeskanzler Helmut
Kohl (1995) und der bosnische Genozidkongress in Frankfurt
(1995). Auch hier gilt unser Dank der Unterstützung von
Persönlichkeiten wie Rita Süssmuth, Christian
Schwarz-Schilling und Martin Walser.
1992 konnte Zülch in New York den "beratenden Status" bei
den Vereinten Nationen für die GfbV erlangen. 2005 erhielt
die GfbV den "mitwirkenden Status" beim Europarat.
1999 schrieb Simon Wiesenthal an Tilman Zülch: "Sie haben
eine Organisation mit gegründet und aufgebaut, die allen
Menschen, die sich bedroht fühlen, eine Anlaufstelle
für Hilfe bedeutet, mag die Bedrohung gegen Einzelpersonen
oder Gruppen gerichtet sein. Sie haben sich für die Rechte
so vieler Menschen eingesetzt, dabei den Menschen in den
Mittelpunkt Ihrer Bemühungen gestellt - ohne Rücksicht
auf persönliche Nachteile und Anfeindungen - und auf diese
Weise beispielgebend Großartiges geleistet. Ich war immer
froh, auf Ihre Mitarbeit zählen zu können. Mögen
Ihnen und Ihren Mitstreitern noch viele erfolgreiche Jahre und
Aktionen beschieden sein!"
Zülch, der Herausgeber einer Reihe von Büchern
über Völkermord und Vertreibung sowie der Zeitschrift
"bedrohte Völker - pogrom" ist, erhielt für seinen
unermüdlichen Einsatz als unbequemer Mahner und Warner 16
Auszeichnungen, darunter das Bundesverdienstkreuz, den
Niedersachsenpreis für Publizistik, den Göttinger
Friedenspreis, die Ehrenbürgerschaft der Stadt Sarajevo, den
Bürgerrechtspreis des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma
oder den Srebrenica Award against Genocide. Zülch betrachtet
diese Auszeichnungen auch als Anerkennung der Arbeit der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und der Regionalgruppen sowie
des Engagements der Mitglieder und Förderer der GfbV.
"Wir sind Tilman Zülch zu großem Dank verpflichtet",
sagt der GfbV-Bundesvorsitzende Feryad Fazil Omar. "Er hat uns
vorgelebt, im zähen Ringen um Menschenrechte für
Minderheiten auch nach langen Jahren nicht nachzulassen,
Rückschläge zu ertragen und kreativ immer wieder neue
Aktionsformen zu entwickeln, um Aufmerksamkeit auf das Schicksal
von Minderheiten zu lenken."
"Die Ziele von Tilman Zülch sind unsere Leitlinie. Sein von
Ideologie und Parteipolitik unverstellter Blick für Unrecht,
seine Tatkraft und Entschlossenheit, Minderheiten Gehör zu
verschaffen, und seine große Bereitschaft, Schwächeren
bei der Durchsetzung ihrer Rechte zur Seite zu stehen, bleiben
unser Vorbild für unsere zukünftige
Menschenrechtsarbeit", betont Ulrich Delius. Der 58-Jährige
arbeitet seit mehr als 30 Jahren für die GfbV und hat
zahlreiche nationale und internationale Kampagnen für von
Völkermord, Vertreibung und schweren
Menschenrechtsverletzungen bedrohte Volksgruppen in Afrika und
Asien initiiert, so für bedrängte Christen in Pakistan,
Indonesien oder Nigeria, unterdrückte Tibeter und verfolgte
Uiguren in China, muslimische Rohingya in Burma oder von Landraub
bedrohte Oromo in Äthiopien, von Völkermord und
Vertreibung betroffene Darfuris im Westen des Sudan und für
die Befreiung der Sklaven in Mauretanien.
Siehe auch in gfbv.it:
www.gfbv.it/2c-stampa/2014/140327de.html
| www.gfbv.it/3dossier/eu-min/zuelch.html
| www.gfbv.it/3dossier/eu-min/zuelch1.html
| www.gfbv.it/3dossier/rom-dt.html
in www: https://de.wikipedia.org/wiki/Tilman_Zülch