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Es ist eine verpaßte Chance, daß der EU-Konvent nicht einen größeren Wurf gewagt hatte - oder nicht wagen durfte. Der vom Konvent an die EU-Kommission überstellte Entwurf ist eine Enttäuschung, auch weil der Entwurf in einigen Bereichen lediglich ein Minimalprogramm ist. Dem vorliegenden GRC-Dokument (siehe Entwurf der EU-GRC (.pdf) (.doc)) fehlt die gestalterische Kraft.
Angesichts der fortgeschrittenen Integration (EU-Verträge von Maastricht und Amsterdam, Schengener Abkommen, Europol und gemeinsame Außenpolitik) ist es höchste Zeit, der wachsenden Macht der EU-Institutionen verbindliche und individuelle einklagbare Menschen- und Bürgerrechte gegenüberzustellen. Dazu ist ein möglichst vollständiger Grundrechtekatalog notwendig, der die Tradition des humanitären Völkerrechts umfassend zur Geltung bringt und weiterentwickelt.
Es soll daran erinnert werden, daß in Europa bzw von Europa aus die schwersten Verbrechen des Völkermordes und der Massenvertreibung begangen wurden und bis heute werden. Noch immer werden in den europäischen Demokratien Menschen wegen ihrer Hautfarbe, Sprache, Kultur oder Religion (siehe: Report über die Lage der Sprachminderheiten in der EU und EU-Studie "Euromosaic") diskriminiert.
Vergeblich sucht man in diesem Entwurf einen Artikel oder Absatz zugunsten der europäischen Minderheiten. Weder wird ein minimales Recht für ihre Angehörigen sichergestellt, noch den EU-Institutionen der Auftrag erteilt, die faktische Benachteiligung der Minderheiten zu korrigieren, d.h. Chancengleichheit für sie herzustellen.
Damit fällt die vorliegende Charta-Entwurf weit hinter Erklärungen, Konventionen, Charten und Empfehlungen von UNO, KSZE/OSZE, Europarat und Europa-Parlament (siehe Dossier: Für eine pluralistische Union - Minderheitenrechte gehören in die EU-GRC; italienisch) zurück. In der Minderheitenfrage schafften die 15 EU-Länder den gemeinsamen Nenner - nämlich die Nichterwähnung der Minderheiten. Zwar wird sowohl im Unionsvertrag von Maastricht und auch in der GRC vom Resekt vor der sprachlichen Vielfalt gesprochen, von einer Vielfalt aber, die sich auf die Sprache der Mitgliedsstaaten beziehen. Die Ausgrenzung der kleinen Sprachen hält weiter an.
Die Angehörigen alteingesessener sprachlicher, ethnischer und religiöser Minderheiten werden in vielen EU-Ländern systematisch ungleich behandelt. Wohl auch deshalb fehlt ein Artikel, der die Herstellung von Chancengleichheit für diese Minderheiten positiv einfordert - ein Gegenstück zur den Artikeln im Entwurf, welche die Gleichstellung der Frauen, den besonderen Schutz des Kindes und die Integration der Behinderten sicherstellen soll.
Das vorgeschlagene umfassende Verbot von Diskriminierungen ist zweifels ohne eine Fortschritt. Während das bisherige EU-Recht nur die Bürger von Mitgliedsstaaten vor willkürlicher Benachteiligung bewahrt hat, könnten durch diesen Artikel auch Immigranten mit legalem Aufhalt in der EU Schutz genießen.
Im Konvent gab es wohl wechselnde Mehrheiten, die die richtigen Schritte blockierten. Diese Mehrheiten haben erfolgreich verhindert, daß es keinen Minderheitenartikel, kein sozialen und wirtschaftliche Rechte sowie kein Recht auf eine gesunde Umwelt (siehe Dossier: EU-Grundrechtecharta) gibt.
Damit steht die Glaubwürdigkeit der EU gegenüber den EU-Beitrittskandidaten Im östlichen Europa auf dem Spiel: Auf ihren Gipfeltreffen in Kopenhagen 1993 hatten die damaligen EG-Länder die Aufnahme neuer Mitglieder von der Einführung von Minderheitenschutzbestimmungen in deren Verfassung abhängig gemacht.
Ein Minderheiten-Artikel hätte der inneren Vielfalt der EU-Gesellschaften Rechnung getragen. Eine solcher Artikel wäre auch eine Art Gutmachung gewesen für die Verfolgungen der Minderheiten, die in den Völkermord-, Sozialschichtenmord- und Vertreibungsverbrechen faschistisch-nationalsozialistischer und stalinistischer Diktaturen gipfelten. Auf dem Balkan setzen sich diese Verbrechen bis heute fort. In westlichen Demokratien werden Menschen wegen ihrer Hautfarbe, Sprache, Kultur, Religion und Überzeugung diskriminiert. Die Bildungsinstitutionen alteingesessener Sprachminderheiten werden von den Nationalstaaten häufig nicht finanziert.
Vierzig Millionen
EU-Bürger gehören nicht der offiziellen sprachlichen
Mehrheitsgesellschaft an. Dieses Nichtangehören hat zur
Folge, daß die Angehörigen der minderheitheitlichen
Sprachgruppen kein Recht haben auf Erlernen, den freien und
öffentlichen Gebrauch der eigenen Sprache und auf den Zugang
zu den Medien. Die Gruppe der sprachlichen Minderheiten ist in
der EU faktisch benachteiligt.
Für eine
"affermativ action" nach US-Vorbild
Diese Benachteiligung
läßt sich nur durch die sogenannte "positive
Diskriminierung", durch eine verbindliche "affermative action"
abschwächen oder beseitigen. Dies widerspricht nicht dem
Prinzip der Chancengleichheit, vielmehr dient es seiner
Verwirklichung.
Die EU muß in dieser Frage den USA folgen. In seiner Amtszeit hat US-Präsident Lyndon B. Johnson (1963-1968) die Forderungen der Bürgerrechtsbewegung nach Förderung der Minderheiten aufgegriffen. Er verordnete den Bundeseinrichtungen und deren Vertragspartnern die Nichtdiskriminierung von Minderheiten. Unter dem Begriff "affermative action" ist seitdem in den Gesetzen der Bundesregierung und der Bundesstaaten festgeschrieben, daß "niemand wegen seiner Rassenzugehörigkeit (so der Wortlaut des Gesetzes), seines Geschlechts, seiner Religion oder auch seiner sexuellen Orientierung benachteiligt" werden darf. In den 70er Jahren entwickelte sich daraus eine Gesetzgebung zur Förderung der Angehörigen benachteiligter Gruppe. Z.B. wurden Quoten für die bevorzugte Einstellung von Frauen, Farbigen und Behinderten durch staatliche Institutionen sowie bei der Vergabe von öffentlichlichen Aufträgen eingeführt.
Erst diese
"affermative action" machte die USA zu einer liberaleren,
multikulturellen Gesellschaft. Die "affermative action"
erleichterte die Integration vieler ethnischer Gruppen. Mit dem
geregelten Zugang zum öffentlichen Dienst kamen
Angehörige von Minderheiten zu Wohlstand und
Selbstbewußtsein. Das wirkte sich auch auf die Pflege der
jeweils eigenen Sprache aus, besonders bei den Latino und den
US-Bürgern chinesischer und japanischer Abstammung. Die
Vielfalt wurde hörbar, besonders in den öffentlichen
Ämtern und in den Schulen. Deshalb verlangen die
Angehörigen der Minderheiten, in der EU-Grundrechtecharta
mit minimalen, aber einklagbaren Sprachenrechten
berücksichtigt zu werden. Deutschen, Briten, Franzosen,
Italienern, Spaniern usw. mögen solche Rechte als
unnötig, weil für sie selbstverständlich,
vorkommen. Diese Selbstverständlichkeit und Normalität
muß auch den Angehörigen der minderheitenlichen
Sprachgruppen in der EU (siehe GfbV-Konventionsanhörung: Für Minderheitenschutz
in der EU-GRC) garantierten werden. Der Passus der
Nichtdiskriminierung in der Grundrechtecharta bedarf deshalb
einer Ergänzung - der affermative action (siehe: Dossier Spracherklärung von
Barcelona):
Sprachenrechte in
die GRC
Der Artikel 22 der
GRC muß ergänzt werden durch: "Jedermann/frau hat das
Recht, sich als Angehörige/r einer Sprachgruppe, Volksgruppe
oder Nationalität zu identifizieren. Die EU anerkennt und
schützt sprachliche, ethnische und nationale Minderheiten.
Sie fördert gefährdete Minderheitensprachen und die
grenzüberschreitende Zusammenarbeit in
Minderheitenregionen".
Das bedeutet:
Die zaghaften
Mütter und Väter der GRC haben zudem nicht aus dem
EU-Elfenbeinturm hinausgeschaut. Wo bleibt der Handlungsauftrag
an die Union, weltweit Genozid und andere schwere Verbrechen an
die Menschlichkeit zu verhüten bzw zu bekämpfen? Dieser
ist dem Recht auf Leben in einem eigenen Absatz unmittelbar
unterzuordnen. Damit würde die GRC neben der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte auch die Konvention der UNO
über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes
von 1948 würdigen. Ein weiterer Handlungsauftrag ist der
Schutz von sprachlichen, ethnischen und nationalen Minderheiten.
Die Zuständigkeit der EU in dieser Frage ist als Konsequenz
aus dem Verbot der Diskriminierung zu
verstehen.
Wirtschaftliche,
soziale und kulturelle Rechte - Fundamente der
GRC
Diese Rechte sind
europäische Grundwerte und seit der UN-Erklärung der
Menschenrechte universell. Sie nicht zu berücksichtigen, ist
ein Schritt zurück weit hinter den bisher erreichten
Standards. Diese Rechte sollten so weit als möglich als
individuelle Rechte definiert werden und nicht nur als
Staatsziele.
Ja zu modernen
Grundrechten
Verschiedene NGO
haben mit ihren Eingaben an den Konvent zurecht die Aufnahme
dieser modernen Grundrechte verlangt - wie die Einschränkung
den Gen-Technologie in der Medizin (z.B. pränatale
Diagnostik) sowie in der Nahrungsmittelproduktion bzw ihr
völliges Verbot in der Kriegstechnik - wie den Schutz der
EU-Bürger vor Mißbrauch ihrer Daten, Recht auf Zugang
zu den eigenen Daten.
Geltungsbereich
der GRC
1) Die GRC muß
in die geltenden EU-Verträge aufgenommen
werden,
2) Jede staatliche
Gewalt im EU-Bereich, d.h sowohl die EU-Institutionen als
auch
die Organe der
Mitgliedsstaten, sollten daran gebunden
werden.
3) Die
Überwachung der Einhaltung der GRC soll durch ein
individuelles Klagerecht (vorgesehen auch die Möglichkeit
einer Verbandsklage/Verbandesbeschwere) und mit einer
entsprechenden Ausstattung des Europäischen Gerichtshofs
sichergestellt werden.
4) Damit wird auch
der Handlungsspielraum des EuGh deutlich
erweitert.
5) Die GRC muß
verbindlich sein, ansonsten ist ist überflüssig.
Gefährlich sind auch Vorschläge, die GRC zweizuteilen
in einen unverbindlichen Teil (für die Bürger) und in
einen verbindlichen Teil B (für
Rechtsanwender).
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