(11. August - 4. September 2002) von Evelina Colavita
Wenn ich dieses Jahr gefragt wurde wo ich denn in die Ferien reisen würde war meine Antwort sicherlich ungewohnt. Ich werde nach Afghanistan reisen und unsere Projekte anschauen gehen, ich werde Frau Dr. Sima Samar besuchen gehen. Pakistan und Afghanistan sind zur Zeit keine Ferienländer und das war schon an den pakistanischen Flughäfen zu sehen wo keine Ausländer anzutreffen waren. Im Gegensatz zu letztem Jahr waren die pakistanischen Flughäfen scharf bewacht von Soldaten die mit grossen Maschinengewehren hinter Sandsäcken lagen. Das alles verwunderte mich kaum nach den letzten Attentaten in Pakistan. Das Bild ändert sich rasch in der Abflughalle des Flugs der Vereinten Nationen von Islamabad nach Kabul. Hier warten die Vertreter der 800 internationalen NGO's, die Beamten der UNO Agenturen und der Botschaften auf den Abflug. Die Einwohnerzahl der halbzerstörten Stadt Kabul wird auf etwa 2,5 Millionen geschätzt. Vor allem der westliche Teil Kabuls ist zerstört. Die Quartiere im Stadtzentrum bleiben vom Krieg verschont. Hier wohnen die Ausländer, hier haben die Botschaften, die ISAF und die CIA ihren Sitz. Vor diesen Gebäuden und den Villen der Kriegsherren sind unzählige Check-Posts gebaut worden. In Kabul gibt es Geld und das ist sichtbar. Überall wird etwas verkauft und gekauft und sogar im vertrockneten Bett des Flusses Kabul, in dem letzten Winter ein dünnes Rinnsal floss, gibt es jetzt einen Markt der von den Afghanen ironisch Titanic Bazar genannt wird. Was mir sofort auffällt ist, dass nur noch etwa 7 von 10 Frauen den berüchtigten Burqa tragen, wenigstens im Zentrum der Stadt. Sie tragen einen einfachen Schleier um den Kopf oder sind in knielange elegante und halbdurchsichtige Tücher gewickelt. Aber die Ruhe täuscht, jeden Tag höre ich mindestens eine Explosion und dann am nächsten Tag erfahre ich, dass ein Kino oder der Eingang eines Guest Houses in die Luft geflogen ist. Die Afghanen sind anpassungsfähig und haben Initiative, nicht nur haben sie ihren Bart raiert oder gestutzt, sondern sie haben auch an allen Ecken kleine Hotels und Restaurants für Ausländer eröffnet. Was ich jedoch nicht sehe sind Baustellen ala Zeichen des Wiederaufbaus. Die einzige Baustelle die ich sehe, ist der Neubau einer grossen Moschee im Zentrum der Stadt, in der Nähe der Zentralpost.
Ich bin unterwegs nach Behsood, ein Hazara Distrikt in der Provinz Wardak, hier ändert sich das Bild radikal. Nach den zahlreichen Strassenkontrollen, die die Pandshiris am Ausgang der Stadt eingerichtet haben fahre ich durch eine Region in der Pashtounen siedeln und die für ihre Äpfel berühmt ist. Hier sehe ich einige von internationalen Organisationen finanzierte Schulen längs der staubigen Piste. Danach fahre ich durch tadjikisches Siedlungsgebiet und am Schluss komme ich nach Sia Chog (Schwarzer Staub), hier verlief die Front zwischen Taleban und den Hazara Verbänden der Nord Allianz. Hier sind die Spuren des Krieges sichtbar, die Bauernhöfe sind zerstört und der Bazar ist ein trauriger Anblick mit den geplünderten Läden und zerstörten Fenstern, Türen und Regalen. Aber das ist nicht so schlimm, zweihundert Meter weiter ist ein neuer Bazar entstanden. Über die Strasse ist ein Torbogen gespannt auf dem das Bild Ali Mazari's thront, er ist der von den Taleban getötete Held der Hazaras und nun bin ich also offiziell im Hazarajat. In diesem Gebiet wurde nicht gekämpft. Hier herrscht Friede, hier gehört die Bevölkerung einer einzigen Volksgruppe an, hier gibt es keinen Burqa, nur Hunger, Armut, Dürre. Hier gibt es keine grossen internationalen Projekte. Stundenlang dauert die Fahrt über die holprigen Pisten in diesem Tal, und überall sehe ich gejätete Rechtecke wo früher Felder waren, wo Bäuerinnen auf dem kargen Boden kauern und dünne Garben Getreide ernten. Ein Feld, so gross wie ein Basketballfeld, gibt als Ernte einen Strauss Ähren, gerade so gross wie ein Blumenstrauss. Die Bäuerin erzählt mir, dass es keine Männer mehr in ihrem Haushalt gibt, alle sind im Krieg gestorben, und dass ihre beiden Töchter nicht lesen und nicht schreiben können, und dass diese drei Frauen mit dieser mageren Ernte den Winter überstehen müssen. Mehr kann ich leider nicht verstehen, ich spreche nicht gut genug dari. Aber die Leute im Tal haben Glück, sie haben wenigstens Wasser zum trinken, denn es gibt einen kleinen Fluss, er ist nur ein dünnes Rinnsal, aber es ist besser als gar nichts.
Am Ende des Tals jedoch liegt eine kleine Oase der Hoffnung. Es ist das Spital von Shuhada, der Organisation von Frau Doktor Sima Samar. Hier gibt es 15 Krankenbetten, einen Operationssaal, einen Kreissaal, eine Schule für Krankenschwestern und Krankenpfleger, ein Labor und einen Stromgenerator. Das Spital wird von einem Arzt geleitet. Er hat das Angebot einer internationalen Organisation ausgeschlagen die ihm einen fast dreifachen Lohn offeriert hat. Im Spital von Frau Dr. Samar verdient er gerade 200 USD im Monat aber er sagt er brauche kein Geld, wo wollte er es hier auch ausgeben. Er möchte weiter für Sima Samar arbeiten, denn ihre Projekte gibt es seit Jahren und sie werden bestehen bleiben, wenn alle anderen abgezogen sind. Er möchte hier bleiben und seinen Leuten helfen.
Er bringt uns in die Dörfer wo der Hebammenkurs läuft, der von der Frauenuniversität Mailand und Omid/Solidarietà Ticino Afghanistan finanziert wird. Zur Zeit werden 100 junge und weniger junge Frauen in die Geburtshilfe eingeführt und erhalten nebenbei einen Alphabetisierungskurs. Die 100 Frauen sind in 5 Klassen unterteilt, die in teilweise sehr abgelegenen Dörfern in den Moscheen unterrichtet werden. Die Moscheen sind die einzigen Gemeinschaftsräume in den Dörfern. Vor einem Jahr wäre das nicht möglich gewesen, denn die Leute fürchteten ihre Mullahs auch wenn die Region nicht von den Taleban kontrolliert wurde. Alle sind voll guter Hoffnung für eine bessere Zukunft.
Hier im Siedlungsgebiet der Hazara sind die meisten Gegenden sicher und da die Front weit weg liegt gibt es auch keine Landminen, es gibt nur Hunger und Armut. Khalili, der Nachfolger von Ali Mazari kontrolliert den grössten Teil des Hazarajat und die Leute sagen allgemein, dass sie sich sicher fühlen. Ich weiss jedoch nicht wie sicher sich Khalili in Kabul fühlt, denn er hat an seiner Strasse im Kart e Se grosse Check-Points eingerichtet wo seine Soldaten die Durchfahrt kontrollieren.
In Kabul ist die Lage nicht rosig. Sima Samar, frühere Ministerin für Frauenfragen und heute Präsidentin der afghanischen Menschenrechtskommission wohnt auch im Kart e Se. Vor ihrem Haus gibt es keine Check Points, dafür patrouilliert die Isaf und grosse Rollen Stacheldraht sind auf der Mauer die das Haus umgibt angebracht worden. Sima's Bodyguards sind ihr treu ergeben und wurden von den Isaf Truppen trainiert. Sie wachen Tag und Nacht über sie. Sima Samar ist eine Gefangene in ihrem eigenen Haus. Nur um ins Büro zu gehen verlässt sie ihre vier Wände. Im Juni dieses jahres wurde sie der Blasphemie angeklagt und danach erhielt sie Drohungen obwohl das Verfahren gegen sie eingestellt worden ist. Kart e Se ist ein Quartier mit einem grossen Anteil an Hazaras und deshalb fühlt sie sich hier sicherer unter ihren Leuten als im letzten Winter, in Wazir Akhbar Khan wo sie den Kriegsherrn Sayyaf als Nachbarn hatte. Sima gefällt die Allmächtigkeit der Pandshiris nicht besonders, sie sagt die Regierung sei schwach und die Leute verlören langsam die Hoffnung, sie sagt es sei schön, dass nicht mehr alle Frauen den Burqa tragen aber sie hätte erwartet, dass noch weniger Burqas in Kabul getragen würden, sie sagt es sei gut dass einige Hundert der über Zehntausend Studenten an der Universität Kabul Frauen seien, aber es seien noch zu wenig.
Ich spreche mit einer Abgeordneten und einem Abgeordneten der diesjährigen Loya Jirga. Ein wenig polemisch stelle ich die Frage ob ihnen die Loya Jirga gefallen hätte. Ich schäme mich meiner polemischen Hintergedanken als sie mir folgendes antworten: "Ja das hat uns sehr gefallen. Stell dir vor all diese Leute die zusammen diskutieren und auch böse werden aber sie schiessen nicht aufeinander. Du musst denken in diesem Land konnten wir nie miteinander reden, nur schiessen. Nun haben wir nicht viel entschieden aber wir haben geredet. Das ist wichtig. Die Demokratie und den Frieden kann man nicht in wenigen Monaten aufbauen."
Schule Rabia Balchi in Quetta
(Pakistan)
Meine Reise führt mich nach Quetta in Pakistan. Das Hazara
Flüchtlingsquartier Mareeabad ist weitaus weniger
überfüllt als letztes Jahr. Dafür besuchen aber
988 Schülerinnen unsere Schule und nicht 500 wie letztes
Jahr. Die Eltern schicken ihre Töchter in die Schule denn
nächstes Jahr, vielleicht im Frühling, möchten
alle nach Afghanistan zurück. Die Schule unterrichtet in 4
Schichten von 7 Uhr Vormittags bis 10 Uhr Abends. Die
Mädchen sind zufrieden, einige erinnern sich an mich und
erzählen mir von ihren Fortschritten. Sakira, ein sehr
aufgewecktes 13 jähriges Mädchen der sechsten Klasse
möchte Ärztin werden. Nach der Abschlussprüfung
(Maturität nach der 12. Klasse) möchte sie an der
medizinischen Fakultät der Universität Kabul studieren
gehen, so wie Vahida das gemacht hat. Vahida stammt aus Mazar e
Sharif und bis vor 2 Monaten unterrichtete sie in der Schule
Rabia Balchi, dann ist sie nach Mazar zurückgekehrt, wo sie
die Aufnahmeprüfung für das Medizinstudium bestanden
hat. Sakira möchte Ärztin werden, wie Sima Samar und
Vahida.
Science Institute in
Quetta
Ich gehe auch die Studenten die ich letztes Jahr unterrichtete
besuchen. Die Mädchen sind noch alle da, sie haben die
Prüfungen bestanden. Nun sprechen sie fliessend englisch. Es
ist kaum vorstellbar, dass diese jungen, selbstbewussten Frauen
letztes Jahr kaum den Mund auftaten und sich hinter den Schleiern
versteckten. Sie haben viele Projekte für ihre Zukunft aber
nur sehr wenig Träume. Die zwanzigjährigen jungen
Frauen und Männer sind sich bewusst dass es sie sein werden
die ihr Land wieder aufbauen müssen, ihre Generation. Sie
wissen, dass das Geld aus dem Ausland bald versiegen wird, und
dass sie dann nach dem Abschluss in ihre Dörfer ohne
Elektrizität und Wasser zurückkehren werden, die
Ärmel hochkrempeln werden und den Frieden im vom Krieg
zerstörten Land aufbauen werden.
Schule in Samali,
Balochistan
Ich besuche die Schule in Samali, das eine halbe Autostunde von
Quetta entfernt liegt. Samali ist ein Flüchtlingsdorf
für afghanische Uzbeken, die zur Zeit wegen den anhaltenden
Kämpfen noch nicht in ihr Land zurückkehren
können. Etwa 800 Kinder besuchen die Schule in Samali, die
Jungen am Vormittag und die Mädchen am Nachmittag. Die Armut
hier ist herzergreifend aber ich werde mit Wärme und
Grosszügigkeit empfangen, wie das in Afghanistan üblich
ist. Die Schule in Samali wird von der Afghanistanhilfe
Schaffhausen finanziert aber auch ich gebe etwas Geld für
diese Kinder die mit geschlossenen Augen das Lied über ihre
"watan" (Heimat) vorsingen.
Schule Dasht e Barchi in
Kabul
Unsere Schule in Dasht e Barchi ist überfüllt und die
Mädchen sind überglücklich als ich jedem von ihnen
einen Rucksack und einen Kugelschreiber übergebe.
Rucksäcke und Kugelschreiber habe ich auf dem Bazar in Kabul
für die lächerliche Summe von 1 Sfr. pro Kopf
erstanden. Als Gegengeschenk erhalte ich Zeichnungen und Briefe
für die Patinnen und Paten und stolz tragen die
Schülerinnen Gedichte vor und singen Lieder. Der Brunnen im
Schulhof ist leider trocken. Das Grundwasser ist abgesunken und
einige Brunnen in der Nachbarschaft sind 60 Meter tief und graben
dem nur 19 Meter tiefen Brunnen in der Schule das Wasser ab. Ich
verspreche den Mädchen, dass ich versuchen werde das Geld
für einen tieferen Brunnen aufzutreiben. Ich verspreche
nächstes Jahr wiederzukommen.
Frauenhaus in Kabul
Ein Projekt, das mir sehr gefällt, ist das Frauenhaus in
einem Randviertel von Kabul, das 11 Witwen und 25 Waisen
beherbergt. Die Witwen sticken und weben und verdienen sich so
einen Teil ihres Unterhalts.