Von Wolfgang Mayr
Bozen, 30. November 2005
Die allgemeine Schulpflicht ist zum
unveräußerlichen Grundrecht geworden. Das Recht auf
Bildung ist ein klar definiertes Menschenrecht, das Recht auf
Bildung in der eigenen Sprache hingegen nicht. In nur wenigen
Regionen verfügen auch minderheitliche Sprachgemeinschaften
über Bildungseinrichtungen in der eigenen Sprache.
Sprachminderheiten werden vielfach daran gehindert, eigene
Schulsysteme aufzubauen. Die von manchen Minderheiten angestrebte
mehrsprachige Alphabetisierung wird vielerorts von den Mehrheiten
- Staat und Region - als Instrument der Assimilierung
missbraucht. Das Recht auf Verwendung der eigenen Sprache wird
mancherorts - auch in der EU - immer noch als Angriff auf die
staatliche Einheit oder auf die (regionale oder staatliche)
Mehrheit interpretiert.
Konkurrenzfähige "Minderheitenschulen" mit einem breit
gefächerten Sprachenangebot gibt es in der autonomen Provinz
Südtirol in Italien, in den autonomen Regionen Katalonien
und Baskenland in Spanien; erfolgversprechend wirken auch die
Schulen in den zweisprachigen Regionen von Wales, im
deutsch-dänischen Grenzgebiet oder das schwedischsprachige
Schulsystem in Finnland. In Österreich gelten für die
sechs anerkannten Sprachminderheiten recht unterschiedliche
Schulsysteme. Im Bundesland Kärnten wird Angehörigen
der slowenischen Sprachgruppe die Zulassung zu zweisprachigen
Kindergartensektionen untersagt. Im Burgenland ist das Klima
entspannter, zweisprachige Schulen werden nicht als
"Fremdkörper" empfunden.
Wenig vorbildhaft ist auch das Schulsystem der Sorben in
Ost-Deutschland. Finanzmittel werden gekürzt, Lehrerstellen
gekappt, Schulen zusammengelegt. Trotz entsprechender rechtlicher
Absicherungen ist das sorbische Bildungswesen nur geduldet, von
einer angemessenen Förderung zweisprachiger Schulen sind die
Bundesländer Sachsen und Brandenburg weit entfernt. Die
schulischen Realitäten der Sprachminderheiten in Frankreich
reichen von offiziellen zweisprachigen Experimenten im Elsass bis
zu fast alternativen Untergrundschulen in der Bretagne. In
Griechenland, Polen, Tschechien, Deutschland oder Italien bleiben
eine Missachtung verschiedener Menschenrechtspakete - wie der
UN-Pakt über die bürgerlichen Rechte, die
Europarats-Dokumente Sprachencharta und Rahmenkonvention zum
Schutz nationaler Minderheiten - unverändert Realität.
Das Europäische Jahr der Sprachen - das die Sprachenvielfalt
in Europa propagierte - bleibt eine Farce, solange
Minderheitensprachen verboten sind, öffentlich nicht
verwendet werden dürfen, weder in Schulen noch in
Ämtern. An einer Mehrsprachigkeit, zumindest an einer
"obligatorischen" Zweisprachigkeit von Volksgruppen- bzw.
Minderheitenkindern führt jedoch kein Weg vorbei. Die
schulische Mehrsprachigkeit stärkt die Minderheitensprache,
aber auch die Kenntnisse der Mehrheitssprache.
"Wie unseren Vorvätern und Vormüttern die Schulpflicht
zum "einfachen" Menschenrecht auf Bildung wurde, so erkennen wir
heute, dass unsere eigenen Kinder und Enkel ein Recht besitzen,
mehrsprachig aufzuwachsen", so der Kärntner
Sprachwissenschafter Wolfgang Gombosz. Der deutsche Soziolinguist
Ulrich Amonn spricht von einer "Hackordnung" in der
Sprachenpolitik der EU. Diese "Hackordnung" sieht dominante und
weniger dominante Sprachen vor; dies hat - naturgemäß
negative - sprachliche und soziokulturelle Folgen für
Sprecher und Sprachgemeinschaften der unteren Rangordnung.
Gleichberechtigung der Sprachen wäre ein Grundrecht.
Eine ähnliche Position vertritt der südafrikanische
Wissenschaftler Neville Alexander, der in Südafrika
Ansätze einer demokratischen Sprachenpolitik umsetzte.
Alexander, ein Gegner des Apartheid-Regimes, wurde 1963 verhaftet
und trotz massiver internationaler Proteste für zehn Jahre
auf Robben Island interniert. Dort entwickelte er zusammen mit
Nelson Mandela unter anderem Konzepte für eine
zukünftige nicht-rassistische Regierung Südafrikas und
einen gewaltfreien Machtwechsel. Heute ist er Direktor der
Bildungsinstitution PRAESA (Project for the Study of Alternative
Education in South Africa) und Professor für Pädagogik
an der Universität Kapstadt. Nach der
Regierungsübernahme durch Mandela 1994 wurde eine
Sprachenpolitik, die lediglich die "weißen" Sprachen
Englisch und Afrikaans als offizielle Sprachen auswies, durch
eine "Elf-Sprachen"-Politik ersetzt, die heute zuzüglich zu
Englisch und Afrikaans neun Sprachen der schwarzen
Bevölkerung (darunter Zulu, Sotho, Xhosa oder Tswana) als
offizielle Kommunikationsmittel vorsieht. Die
südafrikanische Diskussion dreht sich um die Bedeutung der
afrikanischen Sprachen für Bildungsprozesse und ihr
Verhältnis zur dominanten Sprache Englisch, aber auch um die
Perspektiven des Afrikaans und der Sprachen von ethnischen
Minderheiten. Es ist somit eine enorme Herausforderung, eine
Sprachenpolitik zu entwickeln, die der eklatanten Hegemonie des
Englischen entgegenwirkt.
Anerkennung der Sprachenvielfalt und mehrsprachige Schulen:
dieses Konzept verfolgt der US-amerikanische
Sprachwissenschaftler Joshua Fishman. Er engagiert sich seit
Jahren gemeinsam mit weiteren Wissenschaftler für eine
Renaissance der indigenen Sprachen in den USA. Fishman
problematisierte immer wieder das Thema "Machteinflussnahme"
beziehungsweise "Machtaneignung über Sprache". Fishman ist
ein international renommierter Verfechter sprachlicher
Minderheitenrechte und gleichermaßen wissenschaftlich
anerkannt als Begründer der amerikanischen Sprachsoziologie.
In seinen in mehr als 1.000 Publikationen hat sich Fishman
für die sprachliche Gleichstellung ethnischer Gruppen,
für Spracherhalt und Sprachförderung wie auch für
die Einrichtung zweisprachiger Erziehungsprogramme eingesetzt.
Fishman hat den Begriff der "Diglossie" international bekannt
gemacht, der eine funktionsspezifische Verteilung von Sprachen/
Dialekten in mehrsprachigen Gesellschaften bezeichnet. In
zahlreichen Ländern Afrikas nehmen die europäischen
Sprachen Englisch und Französisch eine dominante Stellung in
Regierung,Verwaltung und Erziehung bzw. Schule ein, während
die einheimischen Sprachen nur untergeordnet sind. Die
überwältigende Mehrheit der afrikanischen
Bevölkerung verfügt über keine oder nur eine sehr
geringe Kenntnis der europäischen Sprachen, so dass ihr der
Zugang zu staatlichen Institutionen verschlossen bleibt.
Die globale Ausbreitung des Englischen wird vielfach als
sprachimperialistisches Wirken aufgefasst, welches
möglicherweise die Zurückdrängung und den
Sprachentod zahlreicher kleiner Sprachen weltweit zur Folge haben
wird. Einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sprechen
gar von linguistischem Genozid. Schätzungen zufolge wird es
in 100 Jahren vielleicht nur noch 600 lebende Sprachen geben;
dies sind 10 Prozent der heute noch existierenden Sprachen, deren
Zahl auf 6000 geschätzt wird. Ferner wird angenommen, dass
90 Prozent aller heutigen Sprachen jeweils nur von höchstens
5.000 Menschen gesprochen werden, eine Zahl, die eine kritische
Grenze darstellt. Ohne Anerkennung der Sprachen, ohne
sprachlichen Pluralismus, ohne Sprachendemokratie - ohne
Unterricht dieser Sprachen in der Schule - gibt es keine Chance,
die Erosion zu stoppen.
Um die Bildungseinrichtungen von Sprachminderheiten ist es
europaweit schlecht bestellt. Mehrsprachige Schulen mit einem
angemessenen Maß an Unterricht in der Muttersprache - eine
unverzichtbare Bedingung für das Überleben der kleinen
Sprachgemeinschaften - sind Einzelfälle, nicht die Regel.
Eine verschenkte Chance, weil sich Europa anschickt, ein
unschätzbares kulturelles Erbe in der Assimilierung zu
vernichten. Eine verschenkte Chance auch, weil diese Erfahrungen
auch bei den neuen Minderheiten, bei den Zuwanderern, umgesetzt
werden könnten.
Von Wolfgang Mayr
Aus pogrom-bedrohte Völker 233 (5/2005)