Von Matthias Voigt
Bozen, 1. August 2006
Wir, die Ureinwohner Amerikas Fordern das Land,
bekannt als Alcatraz,
im Namen aller amerikanischen Indianer zurück ...
Wir glauben, diese Forderung ist gerecht und angemessen, und dass
dieses Land so lange, wie die Flüsse
Fließen und die Sonne scheint, uns rechtmäßig
überschrieben werden sollte.
Gezeichnet, Indians of All Tribes. San Francisco, den 20.
November 1969
In den frühen
Morgenstunden des nebelkalten, windigen Herbstages legt eine
Handvoll Indianer am Ufer der verlassenen Gefängnisinsel an
und schreibt in mannshohen Lettern an die Gefängnisfassaden:
"Indians welcome on Indian Land" und "You are on Indian Land."
Tags darauf verlangen sie Alcatraz mit Hinweis auf den Fort
Laramie Vertrag von 1868, welcher Indianern das Anrecht auf nicht
genutztes Bundesland zuspricht, zurück. In ihrer
Pressemitteilung bieten sie der US-Regierung - einem
Präzedenzfall entsprechend, "den der weiße Mann beim
Kauf eines ähnlichen Eilands 300 Jahre zuvor gesetzt hatte"
(der Kauf Manhattans) -, 24 Dollar in Glasperlen an. Mit einem
Seitenhieb auf das Büro für Indianische Angelegenheiten
(BIA) verkünden sie die Errichtung eines "Büros
für Kaukasische Angelegenheiten". Alcatraz, so schlagen sie
vor, solle von nun an als indianisches Kulturzentrum genutzt
werden.
Die Besetzung trifft den Nerv der bereits durch
Bürgerrechts-, Studenten-, und Antikriegsproteste
erschütterten Nation. Mit ihrer Tat - ausgelöst durch
das Abbrennen des städtischen Indianerzentrums im Oktober -
lenken die Aktivisten die Aufmerksamkeit der Medien erstmals auf
die dramatische Situation der Indianer: 1969 sind 40% der knapp
800.000 US-Indianer arbeitslos, 70 % leben in Elendsquartieren,
das durchschnittliche Jahreseinkommen pro Familie liegt bei 1.500
Dollar und beträgt damit nur ein Viertel des nationalen
Durchschnitts. Solche Existenzbedingungen erklären, warum
die Lebenserwartung der Indianer nur bei 46 Jahren liegt - etwa
ein Drittel unter dem amerikanischen Durchschnitt von 71
Jahren.
Nach den Vorstellungen der Weißen, so meinen die Indians
of All Tribes, müsse die Insel als Idealfall einer
Reservation angesehen werden: Abgeschieden von moderner
Zivilisation, mit unzureichenden sanitären Anlagen, bar
jedweder Bodenschätze, ohne Industrie und folglich mit hoher
Arbeitslosenquote, ohne Einrichtungen der
Gesundheitsfürsorge, ohne Schulen, mit armseligem Boden, der
noch nicht einmal das Wild ernährt.
Diese Verhältnisse, in denen sich jahrhundertelange
indianerfeindliche Bundespolitik manifestierte, hatten zuletzt in
der Politik der "Terminierung" bzw. "Relocation" (1953) unter der
Eisenhower-Regierung eine neue Auflage erlebt. Wahrend die
"Terminierung" die Auflösung der Reservate durch Einstellung
sämtlicher Dienstleistungen und treuhänderischen
Beziehungen der Bundesregierung und des BIA propagierte,
versuchte die "Relocation", die junge, arbeitsfähige
indianische Bevölkerung zur Umsiedlung in die Städte zu
bewegen, wo diese dann zumeist eine traurige Existenz in den
Ghettos fristete. Entgegen den Erwartungen Washingtons gingen die
"Stadtindianer" nicht im "melting-pot" auf, sondern bildeten bald
eine urbane, Englisch sprechende und von ihren eigenen
Stämmen entfremdete Bevölkerung - und konstituierten
die treibende Kraft der Ende der sechziger Jahre des 20.
Jahrhunderts entstehenden "Red Power"-Bewegung. Obwohl das
Terminierungs- und Relocationsprogramm unter Präsident
Kennedy gestoppt und von seinem Nachfolger Johnson
schließlich beendet wird, sind die Folgen dieses
staatlichen Angriffs auf die Stammesstruktur am verstärkten
indianischen Widerstand bereits deutlich ablesbar. Allein in den
fünfziger Jahren gibt es bereits mehr als 20
größere Demonstrationen.
1957 beispielsweise führt Wallace "Mad Bear" Andersen, ein
Tuscaora, eine mehrere hundert Indianer zählende Gruppe von
der St.-Regis-Reservation im Bundesstaat New York zu einem New
Yorker Gerichtshof, um erfolgreich gegen Steuererhebungen zu
protestieren, die der Staat unter Missachtung der
Stammessouveränität über die Reservation
verhängt hatte. Bereits ein Jahr später widersetzen
sich die Tuscaoras unter Anderson der New Yorker
Energiebehörde, als diese einen Teil der Reservation wegen
eines Staudammprojekts räumen will. 150 Männer, Frauen
und Kinder leisten passiven Widerstand und blockieren liegend die
Straße. Die Medienaufmerksamkeit zwingt die Behörde
schließlich klein beizugeben.
Weitere Proteste kommen in den Folgejahren dazu. Die frühen
sechziger Jahre sehen die Enstehung zahlreicher indianischer
Bürgerrechtsorganisationen, die bedeutendste das National
Indian Zouth Council (NIYC), das sich 1961 in New Mexico formiert
und von jungen Studenten geleitet wird. Erklärtes Ziel:
Widerstand gegen die Regierungspolitik und die Forderung nach
Selbstbestimmung. Bereits Mitte der Sechziger Jahre
übernimmt NIYC die Terminologie und die Taktiken der
schwarzen Bürgerrechtsbewegung und beginnt sich zu
radikalisieren. Aktivisten attackieren die "Onkel Tomahawks",
indianische Führer also, die mit dem Status quo zufrieden
sind, inszenieren "fish-ins" und liefern sich eine Reihe direkter
Konfrontationen mit staatlichen Behörden an der
Nordwestküste der USA.
So protestieren die Puyallups, Muckleshoots, Nisquallies, und
andere Stämme zusammen mit dem NIYC mit "fish-ins" für
ihre vom Obersten Gerichtshof garantierten, jedoch von den
Staaten Washington und Oregon nur an weiße Sportangler
vergebenen Fischereirechte. Für die betroffenen Stämme
bedeutet dies einen Kampf ums Überleben. 1965 kommt es an
Frank's Landing zu Zusammenstößen mit Polizisten, als
diese Boote, Netze, und Fischereizubehör zerstören und
Frauen und Kinder attackieren - Szenen ähnlich denen in den
Südstaaten, wo Farbige für ihre Bürgerrechte
eintreten. Die Tatsache, dass Marlon Brando - später auch
Jane Fonda - die Aktivisten unterstützen, verschafft den
Indianern zusätzliche Popularität. Nach jahrelangem
Prozessieren fällt der Bundesgerichtshof 1979 ein Urteil
zugunsten der ansässigen Stämme.
Zu einer weiteren Auseinandersetzung kommt es 1968 zwischen
Kanada, den USA und den Mohawks, denen ein Vertrag aus dem 18.
Jahrhundert freien Grenzübergang und -handel zwischen der
kanadisch-amerikanischen Grenze zusichert. Kanada schenkt diesem
Abkommen keine Beachtung, und die Aktivisten antworten mit einer
Blockade der Cornwall Bridge, die die beiden Länder
verbindet. Wie in den USA lenkt auch in Kanada die Regierung erst
nach der Konfrontation ein und gestattet Indianern fortan den
zollfreien Austausch von Gütern sowie uneingeschränkten
Reiseverkehr zwischen der Grenze. Die nationale Bühne
betreten Native Americans erstmals Anfang 1968, als
Fischereirechtsaktivisten, kurz nach der Ermordung des schwarzen
Bürgerrechtlers Martin Luther King, am Poor People's March
in Washington teilnehmen. Nur etwa einhundert Indianer nehmen am
Protestzug teil, können aber mit ihrer Kundgebung vor dem
Bundesverfassungsgericht sowie einem sit-in im Büro des
Innenministers nationale Schlagzeilen machen.
Weitere Protestaktionen der "Neuen Indianer", wie sie nach einem
1968 erschienenen Buch von Stan Steiner genannt werden, folgen.
Aktivisten demonstrieren gegen Vertragsverletzungen,
Terminierungspolitik, für den Schutz von Fischerei- und
Jagdrechten, die Sicherung religiöser Freiheiten und
für die Anerkennung indianischer Selbstbestimmung und
stammesrechtlicher Souveränität. Die Hauptforderung der
sich zunehmend radikalisierenden Protestbewegung - in Anlehnung
an die "Black-Power"-Parole "Red Power" genannt - ist simpel:
"Red Power bedeutet, wir wollen die Macht über unsere
eigenen Belange", verkündet Vine Deloria, ein bekannter
Sioux-Aktivist, bereits 1968. "Wir sind nur noch eine halbe
Million Indianer. Es ist nicht unsere Absicht jemanden zu
bedrohen ... Wir verlangen lediglich soviel politische und
wirtschaftliche Macht, um auf die uns gemäße Art leben
zu können." Es bedarf nur noch eines besonderen Ereignisses,
um den Stein ins Rollen zu bringen. Und das ist Alcatraz.
In den anderthalb Jahren, die die Besetzung des neu ausgerufenen
Indianerlandes schließlich dauert, pilgern Tausende
indianische Aktivisten und Besucher zur "Insel der Pelikane", um
ihre Sympathie und Unterstützung zu bekunden. Alcatraz steht
für den neuerwachten indianischen Stolz und ist, so schreibt
Newsweek, "zum Symbol der Befreiung des roten Mannes geworden."
Alcatraz markiert den Beginn der Rückbesinnung auf
traditionelle Werte und des Widerstands gegen Assimilierung - und
bewirkt eine Zunahme des roten Aktivismus und damit den Beginn
einer "Red Power"-Ära, die von 1969 bis 1978 andauern
wird.
Mit ihrem Protest fordern die "Native Americans" die
US-Bundesregierung in einer für Indianer im 20. Jahrhundert
bis dato beispiellosen Form heraus. Die mehr als 70 Besetzungen
und zahlreiche Demonstrationen zwischen November 1969 und 1978
lassen keinen Zweifel daran, dass sie es ernst meinen. Die
Regierung weiß die Zeichen der Zeit zu deuten. Bereits 1968
hatte Präsident Johnson in seiner "The Forgotten American"
Rede angekündigt, dass Indianern eine neue Zeit bevorstehe,
in der ihre Rechte honoriert würden; kurz darauf bewirkte er
die Verabschiedung des Indian Civil Rights Act, der Indianern das
Recht auf Selbstbestimmung garantiert. In der Praxis werden die
Reformen jedoch verschleppt und bestenfalls halbherzig
umgesetzt.
Einen Schritt weiter geht Johnsons Nachfolger Richard Nixon, der
am 8. Juli 1970 in einer Rede vor dem Kongress einen scharfen
Bruch mit der Vergangenheit in Bezug auf "Amerikas am meisten
benachteiligte Minderheit" verkündet - und damit als der
Präsident in die amerikanische Geschichte eingeht, der in
seiner Amtszeit mehr als alle seine Vorgänger
zusammengenommen für die Ureinwohner des Kontinents
geleistet hat. Er lässt seinen Worten Taten folgen: Er
beruft Reformer ins BIA und erwirkt die Rückgabe des Blue
Lake an die Taos Pueblo in New Mexico, sowie die Rückgabe
von Land an verschiedene Stämme in Oregon, Washington, und
Alaska. Keiner dieser Schritte schwächt jedoch die
Protestbewegung. Nixons Reformen werden im Kongress boykottiert,
und die Regierung versäumt es, ihr Programm
durchzudrücken, da ihr der Watergate-Skandal
schließlich ganz andere Sorgen bereitet. Auf den
Reservationen vollziehen sich daher keine wesentlichen
Veränderungen. Die Regierung erkennt nicht die
Notwendigkeit, neben gewählten Stammessprechern auch die
militanten Protestgruppen in die Reformenbemühungen
miteinzubeziehen. Diese reagieren mit einer Ausweitung ihres
Protests. Das American Indian Movement (AIM), die radikalste
Organisation, macht am meisten Schlagzeilen. Immer wieder gelingt
es ihm, mit seinen medienwirksamen Demonstrationen das
weiße Amerika auf die Misere seiner Ureinwohner aufmerksam
zu machen. Eine der spektakulärsten panindianischen
Protestaktionen, an denen sich AIM maßgeblich beteiligt,
ist der "Trail of Broken Treaties", eine Wagenkolonne mehrerer
indianischer Organisationen quer durch den Kontinent mit
anschließender (ungeplanter) Besetzung des BIA in
Washington im November 1972. Ziel des Marsches war es,
entschiedenere Maßnahmen zugunsten der Indianer zu
erreichen. Als die 500 Aktivisten das BIA - seit seiner
Gründung 1824 den Eingeborenen Symbol für ihre
Unterdrückung - nach sieben Tagen schließlich kampflos
räumen, ist es vollständig verwüstet.
Ende Februar 1973 kommt es darüber hinaus zur Okkupation
von Wounded Knee, eines symbolträchtigen Ortes, der 1890 mit
dem letzten Massaker an Indianern traurige Berühmtheit
erlangt hatte. AIM -Aktivisten liefern sich während der
71-tägigen Besetzung Feuergefechte mit FBI und US-Marshals.
Obwohl die Aktivisten ihre Forderungen nach Reformen nicht
durchsetzen können, inspiriert Wounded Knee weitere
Besetzungen, so u.a. eine sechsmonatige Übernahme eines
früheren Mädchencamps bei Moss Lake im Staat New York
(1974), die fünfwöchige bewaffnete Besetzung eines
Novizenheims nahe der Menominee Reservation in Wisconsin (1975),
die achttägige Okkupation einer Fertigungsanlage auf der
Navajo Reservation in New Mexico (1975) und die einwöchige
Besetzung einer Jugendstrafanstalt durch die Puyilup im Staat
Washington (1976). Das letzte große Ereignis des
indianischen Aktivismus findet im Juli 1978 statt, als einige
hundert Indianer verschiedener Stämme nach fünf Monaten
ihres transkontinentalen Marsches von Ost nach West in Washington
ankommen. Mit dem "Longest Walk" demonstrieren sie erfolgreich
gegen eine Reihe ultrakonservativer Gesetzesvorschläge, die
1978 dem Kongress zur Prüfung vorgelegt werden, darunter die
Auflösung aller indianischer Reservationen und die Aufhebung
aller Verträge, die Verstärkung von Staats- und
Bundesrechtssprechung in den Reservationen, die Restriktion von
Jagd- und Fischereirechten.
Der "Longest Walk" stellt die letzte indianische
Massendemonstration der "Red Power"-Ära dar und ist der
Kulminationspunkt des sich seit den fünfziger Jahren
entwickelnden indianischen Aktivismus. Nach 1978 geraten
Besetzungen allerdings außer Mode. Aktivisten verfolgen
stattdessen Alternativstrategien wie die Anerkennung ihrer
Vertrags-, Bürger-, und Menschenrechte vor den Vereinten
Nationen (UN) und versuchen ihre Rechte auf dem Klageweg und
durch Lobbying durchzusetzen. Unbestritten übt der
"Red-Power" Aktivismus der sechziger und siebziger Jahre auch
heute noch einen enormen Einfluss auf das Selbstverständnis
der Ureinwohner aus. Die Reformgesetzgebung ihrer epochemachenden
Zeit - der Indian Self-De- termination and EducationAct (1975)
und der Indian Freedom of Religion Act (1978) - ist nur ein Teil
des gesamten Bildes. Für "Native Americans" haben die
Proteste von Alcatraz und Wounded Knee mehr als nur symbolische
Bedeutung. Sinnbildlich dafür steht die kulturelle und
religiöse Renaissance, die mit dieser Periode ihres
Aktivismus einhergeht. Die Gründung indianischer Schulen und
Colleges, die Einführung indianischer
Universitätsstudiengänge, die Errichtung zahlreicher
Kulturzentren und Museen, eine Flut indigener Literatur, die
Publikation von Zeitschriften und Magazinen (teilweise in der
jeweiligen Stammessprache), zusammen mit dem offenen Praktizieren
des Sonnentanzes, sind Ausdruck dieses neuen Selbstbewusstseins.
Gleichzeitig bezeugt diese Entwicklung auch die sichtliche
Aufwertung der Indianer in der amerikanischen Gesellschaft - auch
wenn die Reservate und urbanen Ghettos nach wie vor zu den
ärmsten Gebieten des Landes zählen und sich an den
Statistiken in den letzten dreißig Jahren wenig
geändert hat.
Chronologie des Widerstandes
Aus pogrom-bedrohte Völker 237 (3/2006).