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Sprache: DEU
Von Peziza Cech
Göttingen, Bozen, 16. Oktober 2008
Eine Roma-Familie in Volos. Fotos: Mozes Heinschink.
Zwischen Griechenland und der Türkei wurde 1923 im
Vertrag von Lausanne eine ethnische Entflechtung ausgehandelt,
die in Form einer gigantischen Umsiedlungsaktion griechischer
Bevölkerung aus Kleinasien nach Griechenland sowie
türkischer Bevölkerung in die heutige Türkei
erfolgte. Hierbei wurden ausschließlich die Griechen in
Istanbul als Minderheit in der Türkei anerkannt und im
Gegenzug dazu die Muslime im östlichsten Teil Griechenlands,
Thrakien. Alle übrigen Muslime mussten das Land verlassen.
Ethnien, die weder Muslime noch Griechen waren, wurden durch
rigorose Diskriminierungspolitik zur Assimilation
gezwungen.
Roma mussten sich entscheiden, ob sie bleiben oder das Land
verlassen wollten. Wer blieb, musste zum Christentum
konvertieren; wer nicht konvertierte, musste gehen. Von dieser
Regelung war nur Thrakien ausgenommen. Somit gibt es in
Griechenland offiziell nur eine anerkannte Minderheit, die
"Muslime" in Thrakien, die alle ethnisch pauschal als
"Türken" gelten, womit sämtliche muslimische Ethnien
Thrakiens, nämlich Bulgaren (Pomaken), Roma und Türken,
in einen Topf geworfen werden. Über die Wahrung der
gesetzlich festgelegten Rechte der "Türken" wacht aufgrund
des Lausanner Vertrages die Türkei, die als Schutzmacht
ihrer extraterritorialen Bevölkerung direkt benachbart ist
und die griechische Minderheitenpolitik beeinflusst.
Der jahrhundertelange Weg nach Westen der Roma.
Was bedeutet dies nun für die Roma in Griechenland? Es
gibt keine offizielle Anerkennung ihrer Ethnie und Sprache. Der
Mehrheit von ihnen, christlich oder muslimisch, wurde erst vor
etwa 35 Jahren die griechische Staatsbürgerschaft zuerkannt.
Abgesehen von einer kleinen assimilierten Minderheit leben etwa
300.000 Roma in Baracken und Zelten am Rande der Gesellschaft.
Für einen regelmäßigen Schulbesuch der Romakinder
wird nicht gesorgt, daher ist die Analphabetenrate sehr hoch.
Ihre Chancen bei Ausbildung und am Arbeitsmarkt sind denkbar
schlecht und allenfalls um den Preis einer völligen
Assimilierung vorhanden. Dieselben Chancen unter Wahrung ihrer
kulturellen Eigenständigkeit sind gleich Null.
In Thrakien sind die Roma Muslime. Daher stehen ihnen die
Minoritätenprogramme für die türkische
Bevölkerung offen: türkische Schulen, türkische
Medien, türkische Kulturangebote. In Thrakien kommt also zur
allgemeinen miserablen Situation noch der Druck seitens der
türkischen Bevölkerung und deren
Interessensvertretungen hinzu, sich als "Türken" zu
deklarieren - wie es die Romagemeinde von Efaistos bereits getan
hat. Hier ist eine Betonung der kulturellen Eigenständigkeit
der Roma doppelt unerwünscht: zum einen seitens des
mono-ethnisch ausgerichteten griechischen Staates, zum anderen
seitens der einzigen nicht-griechischen Gruppe, die
Minoritätenstatus hat und bestrebt ist, die anderen Ethnien
als Türken zu assimilieren und somit die eigene Gruppe zu
vergrößern.
Die Analphabetenrate unter Roma ist in Griechenland sehr hoch, ihre Chancen auf Arbeit sind somit schlecht. Fotos: Mozes Heinschink.
Im übrigen Griechenland gibt es etwa zwölf
Romavereine sowie eine in Athen stationierte NGO, Greek Helsinki
Monitor, die Verstöße gegen Menschenrechte an Roma
dokumentiert. In Thrakien aber ist dieser ganze Themenkomplex so
brisant, dass kaum jemand bereit ist, sich zugunsten der Roma zu
exponieren. Dennoch hat sich vor einigen Jahrzehnten auf
Initiative des Soziologen Antoni Liapis in Thrakien eine
Organisation gebildet, die den Namen "Thrakiki Etaireia"
("Thrakische Gesellschaft") trägt und die Förderung der
nicht-türkischen Ethnien Thrakiens zum Ziel hat. Sie umfasst
mittlerweile hunderte Mitglieder aus ganz Griechenland.
Die finanzielle Situation der Gesellschaft ist schlecht, zumal
die Mitgliedschaft nicht mit einem finanziellen Beitrag verbunden
ist: Es ist bereits eine große Leistung, sich zu dieser
Organisation zu bekennen; ein Mitgliedsbeitrag darüber
hinaus wäre unzumutbar. Die "Thrakische Gesellschaft"
organisiert Symposien und bemüht sich um
Öffentlichkeitsarbeit, verfügt aber weder über
eine Webseite noch über ein regelmäßiges
Printmedium. Auch die Kontakte zu ähnlichen Institutionen
jenseits der thrakischen Grenze sind schwach.
Als einzige Geldquelle fungiert Prodromos Emfietzoglou,
finanzkräftiger Tycoon der griechischen Bauwirtschaft. Er
betreibt Entwicklungshilfe in Form von Bildungs- und
Infrastrukturprojekten. Ihm als aus Kappadokien1) gebürtigen
Griechen ist die Problematik fremder Ethnien in nationalistischen
Staaten bestens vertraut. In Komotini, der Hauptstadt Thrakiens,
dotierte er die Gründung eines Korbmuseums seitens der
Thrakischen Gesellschaft, welches das im Aussterben begriffene
Handwerk der Korbflechter (Roma und Gadže) des Balkans
dokumentiert. Der Einwand, hier werde die Arbeit für die
Minderheit in Richtung Folklore abgelenkt und entziehe
wichtigeren, politischen Aktivitäten die Ressourcen, gilt in
diesem Falle nicht, im Gegenteil: Da die folkloristische Schiene
unverfänglich wirkt, braucht sie keine Repressalien zu
fürchten und kann dadurch zum Wegbereiter gesellschaftlich
relevanter Tätigkeit werden.
Griechisch-Thrakien, einst im toten Winkel zwischen dem Erzfeind
Türkei und dem alten Konkurrenten Bulgarien eingeklemmt,
scheint nicht nur für die Griechen hinter dem Mond zu
liegen. Denn die absurden ethnischen Verhältnisse in
Thrakien werden auch im übrigen Europa kaum
wahrgenommen.
Aus pogrom-bedrohte Völker 249-250 (4-5/2008)
Siehe auch in gfbv.it:
www.gfbv.it/3dossier/errc-dt.html |
www.gfbv.it/3dossier/rom-dt.html |
www.gfbv.it/3dossier/sinti-rom/20041026-de.html
| www.gfbv.it/3dossier/linkgfbv.html#rom
in www: www.ric.org.yu | www.greekhelsinki.gr | www.errc.org | www.kv-roma.at | www.osce.org/odihr/18148.html
|
www.coe.int/t/e/human_rights/esc/4_Collective_complaints/List_of_collective_complaints/