Von Ulrich Delius
Als im Sommer 2005 nach Jahre langen Dürren in der
Sahelzone die Herden der Tuareg-Nomaden massenhaft verendeten,
wurde auch Europa schlaglichtartig auf die sich anbahnende
Katastrophe aufmerksam. Doch kaum jemand nahm zur Kenntnis, dass
zehntausenden Karamojong-Nomaden im Nordosten Ugandas und
mehreren Nomadenvölkern in Kenia ein ähnliches
Schicksal drohte. 300.000 Nomaden vom Volk der Somali sind im
Nordosten Kenias auf internationale Nahrungsmittelhilfe
angewiesen, warnte das Welternährungsprogramm der Vereinten
Nationen im September 2005. Auch in Somalia und im Osten
Äthiopiens müssen Nomadenvölker um ihre Existenz
bangen. Die Afar-Nomaden in Eritrea und im Norden Äthiopiens
bitten schon seit dem Sommer 2004 um Hilfe, da sie von einer
Hungerkatastrophe geschwächt sind.
Die Liste ließe sich um Dutzende weitere Nomadenvölker
ergänzen. Dabei sind diese Völker anhaltende
Trockenheit und extreme Lebensbedingungen gewohnt. In Kenia
leiden 72 Prozent des Staatsterritoriums regelmäßig
unter Dürrekatastrophen, in Äthiopien und Uganda sind
aufgrund ungünstiger geographischer Bedingungen mehr als die
Hälfte des Landes von andauernder Trockenheit bedroht. Unter
internationalen Hilfs- und Entwicklungsorganisationen wächst
immer mehr die Erkenntnis, dass nur Nomadenvölker unter
solch schweren Bedingungen dauerhaft leben können.
Konventionelle Landwirtschaft oder eine extensive Bewirtschaftung
durch Traktoren wäre in diesen Gebieten ökologisch
nicht vertretbar und würde die Böden noch mehr
zerstören.
Die große Flexibilität der Nomaden und geringe Kosten
für die Unterhaltung der Herden erwiesen sich lange als
vorteilhaft für den Ausbau dieses Wirtschaftszweiges. So
müssen Nomaden keine hohen Abgaben zahlen für
Verpackung, Transport und Zölle. Die Entwicklung der
Tiermedizin und ihrer Medikamente trägt mit dazu bei, dass
die Herden immer größer werden. Ein Viertel der
Landflächen der Welt werden noch heute von Nomaden
wirtschaftlich genutzt. Diese 20 Millionen Haushalte von Nomaden
erzeugen 10 Prozent der weltweiten Fleischproduktion. Viele
dieser Nomadenvölker werden in ihren jeweiligen
Nationalstaaten von Regierungen, Behörden und
Mehrheitsbevölkerung diskriminiert, entrechtet und
assimiliert. In vielen ärmeren Staaten Afrikas und Asiens
leisten Nomaden mit ihrer Produktion von Proteinen und Milch
einen wichtigen Beitrag zur Ernährung verarmter
Bevölkerungsgruppen und zur Stärkung der
Volkswirtschaft. Ungeachtet ihrer wirtschaftlichen Bedeutung
fördern die wenigsten Nationalstaaten die Viehwirtschaft der
Nomaden.
Nomaden sollen sesshaft gemacht werden
Nicht erst im 21.Jahrhundert drängten Nationalstaaten
Nomaden, ihre traditionelle Lebensform aufzugeben und sich
niederzulassen. Mehr als die Hälfte der kasachischen
Bevölkerung wurde in den 30er-Jahren des letzten
Jahrhunderts vernichtet, als der sowjetische Diktator Josef
Stalin im Zuge der Zwangskollektivierung die Ansiedlung der
Nomaden als Bauern anordnete. Auch Somalias Diktator Siad Barre
befahl nach der Hungerkatastrophe 1974 vergeblich die Ansiedlung
von 120.000 Nomaden in mehreren Dörfern an der Küste.
Doch das Projekt scheiterte wie viele Versuche der
Zwangsassimilierung, da es von der Bevölkerung nicht
angenommen wurde.
Ob auf Wasser, wie die Seenomaden, oder zu Land, Nomaden
stören Regierungen zentralistisch regierter Staaten, da sie
schwer zu kontrollieren und zu lenken sind. Meist nehmen die
Nomaden den Niedergang ihrer traditionellen Lebensform
widerstandslos hin, auch weil es ihnen als zahlenmäßig
oft kleiner und diskriminierter Minderheit an den Mitteln fehlt,
um ihren Protest wirksam zu äußern. Nur manchmal
eskalieren die Konflikte wie zur Zeit im ostafrikanischen Kenia.
Mit Landbesetzungen und bewaffneten Auseinandersetzungen
unterstreichen die Nomaden in Kenia ihre Forderung nach einer
Landreform, einer Respektierung ihrer traditionellen Landrechte,
einem freiem Zugang zu Wasser und Weideland sowie nach einem
gerechten Ausgleich bei Landkonflikten mit Bauern.
Im nordwestafrikanischen Niger und Mali lehnten sich Tuareg zu
Beginn der 90er Jahre gegen die Zentralregierungen auf, nachdem
ihre Forderungen Jahre lang ignoriert worden waren. Zehn Jahre
nach dem Ende ihres Aufstandes sollen nun im Niger 3.160
ehemalige Tuareg-Kämpfer Kleinkredite erhalten, um sich eine
neue Existenz als Viehzüchter, Handwerker oder Kleinbauern
aufzubauen.
Schwieriges Umfeld
Die traditionelle Nomaden-Gesellschaft ist in vielfacher Weise
bedroht. Wachsende Hygiene-Anforderungen, eine zurückgehende
Nachfrage nach Milchprodukten und zunehmende Konkurrenz durch
Billigfleisch-Importe aus den Industrieländern
beeinträchtigen die Absatzchancen ihrer Produkte. Gerade die
Staaten, die Nomaden mit Hilfsprojekten unterstützen,
zerstören mit ihren Billigfleischexporten oft auch die
Lebensgrundlagen von Nomaden. Da Staaten ihre Investitionen in
Infrastruktur planen und bündeln wollen sowie die Kinder zum
regelmäßigen Schulbesuch in regulären Schulen
verpflichten, die auf die Bedürfnisse der Nomaden keine
Rücksicht nehmen, gibt es für traditionelle
Lebensformen immer weniger Freiraum.
Geographisch wird ihre Bewegungsfreiheit stark dadurch
eingeschränkt, dass wirtschaftlich oft wenig sinnvolle
Bewässerungsprojekte gebaut und immer mehr Land
bewirtschaftet und eingezäunt wird. So nehmen die
Landkonflikte zwischen Nomaden und Bauern immer mehr zu, doch nur
wenige Staaten bemühen sich um eine Schlichtung der
eskalierenden Auseinandersetzungen. Regelmäßig sterben
im Norden Nigerias, in Niger, Mali, Burkina Faso, Uganda und
Kenia Nomaden und Bauern bei Zusammenstößen.
Ein großes Problem ist auch die zunehmende Sperrung von
Flächen zur wirtschaftlichen Nutzung. So werden immer neue
Flächen nicht zuletzt auf Druck aus den
Industrieländern für den Natur-, Umwelt- und Tierschutz
reserviert. Damit möchte man nicht nur den Wünschen der
bedeutendsten Geberländer nachkommen, sondern erhofft sich
auch eine Förderung des lukrativen Tourismus. Lebten
früher Nomaden in den besonders unwirtlichen Regionen, an
deren wirtschaftlicher Nutzung niemand Interesse hatte, so nehmen
Zahl und Ausmaß dieser Rückzugsgebiete stetig ab. Die
Suche nach Bodenschätzen und der Ausbau der Landwirtschaft
gefährden das Überleben der Nomaden. Wenn nomadische
Viehwirtschaft mit Landwirtschaft konkurrieren muss, kann sie
sich meist nicht behaupten.
Nomaden fordern Rechte
Der schleichende Niedergang der Nomadenvölker war lange
Zeit kaum ein Thema für die Weltöffentlichkeit. Doch
seit einigen Jahren engagieren sich immer mehr
Hilfsorganisationen für die Nomaden, da auch internationale
Entwicklungsexperten inzwischen einräumen, dass nur ihre
Wirtschaftsform angemessen ist für besonders trockene
Regionen. So fördert die Hilfsorganisation OXFAM Nomaden und
ihre Selbsthilfeorganisationen in zahlreichen Ländern
Afrikas.
Doch Nomaden sind nicht nur passive Empfänger von Hilfe,
sondern formulieren immer häufiger eigenständig ihre
Forderungen. Selbsthilfeorganisationen entstehen in vielen
Ländern, um ihre Interessen öffentlich zu vertreten.
Ein Beispiel ist die 1990 im Niger gegründete
Viehzüchter-Organisation AREN (Verein zur Förderung der
Nomadenwirtschaft in Niger). AREN gibt den am meisten
marginalisierten Bevölkerungsgruppen des westafrikanischen
Staates eine Stimme als Interessensvertretung gegenüber den
Behörden und Hilfswerken.
Auch international bemühen sich Nomaden um mehr Vernetzung.
Im Februar 2005 kamen in Äthiopien mehr als zweihundert
Vertreter von Nomaden-Organisationen aus vielen Kontinenten zum
"Ersten Weltweiten Nomaden-Treffen" zusammen, um gemeinsam
über Möglichkeiten zu beraten, wie ihr Überleben
gesichert werden kann. Viel Beachtung fanden dabei auch neue
positive Initiativen, wie die Verabschiedung von Landgesetzen in
Niger und Mali, die erstmals traditionelle Landrechte der
Viehzüchter anerkennen, und die Förderung von mobilen
Schulen für Nomaden im Iran.
Aus pogrom-bedrohte Völker 234 (6/2005)