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Flüchtlingsdrama in Uganda

"Wenn es Nacht wird, kommt die Angst"

Von Ulrich Delius

Bozen, 16. November 2005

Ruth wirkt verstört. Die Mutter von vier Kindern ist traumatisiert: "Sie kamen am frühen Morgen und haben mein Haus niedergebrannt. Meine zwei ältesten Kinder haben sie mitgenommen," berichtete sie weinend von einem Überfall der Lord’s Resistance Army (LRA) auf ihr Dorf. Ihre beiden jüngeren Kinder haben ihr die Rebellen gelassen. "Es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie auch meine Jüngsten entführen", fürchtet die verzweifelte Mutter. Wenige Wochen vor dem Überfall war ihr Mann in einen Hinterhalt geraten und von der LRA getötet worden. Nun lebt Ruth mit ihren beiden verbliebenen Kindern in einem der vielen Flüchtlingslager im Norden Ugandas. "Das Leben hier ist die Hölle", klagt sie. "Die wenigen Soldaten der ugandischen Armee, die das Camp bewachen sollen, schützen uns nicht, sondern holen sich, was sie brauchen: Nahrungsmittel, Frauen für die Nacht, Kinder, die für sie arbeiten..." Fast täglich kämen auch LRA-Kämpfer, drohten mit Überfällen und würden Nahrungsmittel erpressen. "Dabei haben wir schon viel zu wenig für uns zu essen", klagt Ruth.

Im Norden Ugandas sind 1,6 Millionen Menschen auf der Flucht vor dem Terror der LRA und der ugandischen Armee. Rund 80 Prozent der im Norden Ugandas lebenden Acholi sind auf der Flucht. Nicht besser ergeht es den Karamojong und anderen ethnischen Minderheiten. Zehntausende Menschen wurden von Regierungssoldaten in Lager oder "Wehrdörfer" gepfercht, die mangelhaft versorgt sind und keine Sicherheit bieten. Es ist eine der schlimmsten humanitären Tragödien der Welt und ein "vollkommen vergessener Notstand", erklärte erst kürzlich der für die Bewältigung humanitärer Krisen verantwortliche stellvertretende UN-Generalsekretär Jan Egeland. Rund 1.000 Flüchtlinge sterben jede Woche nach Recherchen internationaler Hilfsorganisationen. Allein zwischen Januar und Juli 2005 verloren im Norden Ugandas mehr als 28.200 Menschen aufgrund von Bürgerkrieg, mangelhafter Versorgung und Flüchtlingselend ihr Leben, erklärten UNICEF, die Weltgesundheitsorganisationen und führende internationale Hilfsorganisationen in einer im August 2005 veröffentlichten Studie.

Grundlegende internationale humanitäre Standards und Menschenrechte werden in den Camps im Norden Ugandas missachtet. Internationale Hilfsorganisationen stellen nach Überfällen der LRA immer wieder ihre humanitäre Arbeit zeitweilig ein. Für die Regierung ist der Schutz der Flüchtlinge im Norden und Osten des Landes zweitrangig, obwohl die humanitäre Lage der Zivilbevölkerung in den 19 Jahren des Bürgerkrieges niemals so katastrophal war. Allein seit Beginn der Großoffensive "Eiserne Faust" der ugandischen Armee im März 2002 hat sich die Zahl der Flüchtlinge verdreifacht. Das öffentliche Leben ist in vielen Gegenden im Norden und Osten Ugandas zusammengebrochen. So haben im Distrikt Kitgum von 164 Grundschulen nur noch 26 regulären Schulbetrieb, alle anderen Grundschulen wurden geschlossen. Die verbliebenen Lehrer ringen verzweifelt um Unterstützung beim Umgang mit den traumatisierten Kindern.

Waffen aus dem Sudan für die Rebellen
Mit Zustimmung der sudanesischen Regierung operieren ugandische Soldaten seit Beginn der Großoffensive im Südsudan, um Nachschublinien und Rückzugsmöglichkeiten der LRA zu zerstören. Denn in den Süden des Sudan zog sich die LRA nach Überfällen in Uganda immer wieder zurück. Zwar bestreitet die Regierung in Khartum vehement jede Unterstützung der Rebellenbewegung, räumt angesichts vieler glaubwürdiger Berichte über Waffenlieferungen der sudanesischen Armee an die LRA jedoch ein, dass einzelne Offiziere die LRA mit Waffen und Munition versorgen würden. Das Dementi aus Khartum klingt wenig glaubwürdig, da die sudanesische Regierung jahrelang die Nachbarländer Äthiopien, Eritrea, Kenia und Tschad systematisch destabilisierte, weil es sie verdächtigte, die südsudanesische Freiheitsbewegung Sudan People’s Liberation Army (SPLA) zu unterstützen.

Doch die vollmundig von Ugandas Staatspräsident Yoweri Museveni angekündigte Zerschlagung der LRA ist heute weiter von der Realität entfernt als je zuvor. Denn die LRA wich vor der Großoffensive in den Osten Ugandas aus und verursacht seit Juni 2003 in der Region Teso mit ihrem Terror unendliches Leid. Fast täglich werden Dörfer überfallen, Kinder entführt, Dorfbewohner erschossen, Massaker verübt, Frauen vergewaltigt, Häuser niedergebrannt und Viehherden geraubt. Tausende Flüchtlinge, die in der Nähe der Stadt Soroti Aufnahme gefunden haben, strömen jeden Abend in die Stadt. In Schulen, Kirchen, Busstationen, Ämtern und anderen öffentlichen Einrichtungen suchen sie für einige Stunden Schutz vor Übergriffen. Denn oft kommen die LRA-Kämpfer in den frühen Morgenstunden, brennen die Häuser nieder und entführen die Kinder.

Schutzlose Kinder
Im Norden Ugandas suchen jede Nacht rund 40.000 Kinder aus dem Umland in den Städten Gulu und Kitgum Schutz, erklärte die UNICEF in einem im Mai 2005 veröffentlichten Bericht. Nachdem die Übergriffe der LRA auf Kinder in jüngster Zeit wieder stark zugenommen haben, erhöhte sich die Zahl der nachts in den Städten Zuflucht suchenden Kinder zwischen April und Mai 2005 um 10.000 Kinder. Sie laufen jeden Abend bis zu zehn Kilometer, um vor Entführungen der LRA sicher zu sein. "Wenn es Abend wird, schlägt das Herz von Kindern und Eltern schneller", erklärt John Baptist Odama, der Erzbischof der Stadt Gulu. "Dann ist es Zeit, einen Platz zu finden, um sich zu verstecken", sagt der Erzbischof, dessen Kirche viele Flüchtlinge betreut und der sich seit 1998 für Frieden in der Region einsetzt. "Wenn du glücklich bist, hast du eine Decke und findest irgendwo eine geschützte Ecke auf einer Veranda oder in einer Busstation. Und dann versuchst du zu schlafen, wenn du es kannst. Viele Flüchtlinge singen gemeinsam abends oder hören Radio, um sich abzulenken und nicht an die Nacht zu denken." Viele der Menschen sind nach Wochen der Flucht erschöpft und geschwächt. Krankheiten breiten sich aus: Husten, Malaria, Masern und Durchfall-Erkrankungen sind weit verbreitet.

Kinder sind in der LRA sowohl Opfer als auch Täter. Rund 90 Prozent der LRA-Kämpfer sind in den vergangenen 19 Jahren selbst als Kinder entführt und zwangsrekrutiert worden. Mehr als 20.000 Kinder sind von der LRA bereits im Norden und Osten Ugandas verschleppt worden. Mädchen im Alter von 14 oder 15 Jahren werden nach ihrer Entführung systematisch von den LRA-Kommandeuren als Sex-Sklaven missbraucht, erklärte das UN-Kinderhilfswerk UNICEF im Mai 2005. Vergewaltigungen, ungewollte Schwangerschaften und eine starke Ausbreitung von Aids sind die Folge. Seit 2002 hat die Zahl der Entführungen dramatisch zugenommen. Von Juni 2002 bis Juni 2003 wurden nach Angaben der Vereinten Nationen alleine 8.400 Kinder entführt. Zwischen Juli und Oktober 2003 wurden erneut 2.000 Kinder verschleppt, von denen jedoch 1.280 wieder von Regierungssoldaten befreit wurden. Nur 100 Kinder waren im Jahr 2001 entführt worden. Die Verschleppten müssen als Träger, Soldaten, Minensucher, Spione, menschliche Schutzschilde oder als Sexsklaven der LRA-Kommandeure dienen.

Kinder werden zum Töten erzogen
Wer als Soldat ausgewählt wird, wird von seinen Ausbildern mit großer Brutalität zum Töten und Brandschatzen erzogen. So würden Kinder oft dazu gezwungen, ihre eigene Geschwister vor den Augen der übrigen Kinder zu töten, wenn diese den Ausbildern zum Dienst an der Waffe nicht tauglich erscheinen, berichten geflohene LRA-Kämpfer. Mit blutigen Ritualen wird den Kindersoldaten die Angst vor dem Töten genommen. Das Totschlagen von Kindern ist in den LRA-Lagern ein alltägliches Ritual. Auch wird den jungen Kämpfern mit der Einnahme von Drogen die Angst vor Gewaltanwendung und Übergriffen genommen. Ihre Versorgung ist katastrophal, da das bei ihren Beutezügen beschaffte Schweine- und Ziegenfleisch ihren Kommandeuren zum Verzehr vorbehalten ist. Die kämpfenden Kinder ernähren sich von Getreide und Wildfrüchten.

Mit großer Brutalität überfallen die Kinder Dörfer und Flüchtlingslager. Mitte August 2003 hackten sie im Bezirk Lira 13 Kinder mit Macheten zu Tode. Nicht minder schrecklich war das Schicksal von 45 Kindern, die aneinandergekettet am 15. Juli 2003 in den Fluss Moroto geworfen wurden, um die Wassertiefe zu testen. Die Jungen und Mädchen im Alter von neun bis fünfzehn Jahren sind alle ertrunken. Mit unvorstellbarer Brutalität gehen die LRA-Kommandeure gegen Kindersoldaten vor, die zu fliehen versuchen. Der 14 Jahre alte Peter Ochan wurde während der zehn Monate, die er für die LRA kämpfen musste, mehrfach Zeuge, wie Kindersoldaten nach Fluchtversuchen ermordet wurden. Einmal hätten sie zur Abschreckung den Leichnam eines Flüchtlings tagelang tragen müssen, bis der Körper schon ganz verwest gewesen sei. Später seien sie angewiesen worden, sein Hirn herauszutrennen und es überall zu zeigen.

Teufelskreislauf der Gewalt
Trotz der drohenden schrecklichen Strafen versuchen immer wieder Kindersoldaten aus den Lagern der LRA zu fliehen. Tausenden gelang bereits die Flucht, doch sie sind nicht nur ihr Leben lang traumatisiert von den schrecklichen Verbrechen, die sie im Namen der LRA begehen mussten. Besonders fürchten sie, erneut von der Rebellenbewegung verschleppt zu werden. Denn sie wissen, dass entflohene Kindersoldaten besonders grausam ermordet werden.

Ugandas Staatspräsident behauptete voller Stolz, die ugandische Armee habe zwischen August 2002 und August 2003 mindestens 6.000 Kinder aus den Fängen der LRA befreit (People’s Daily, 18.9.2003). Doch Musevenis Sprachgebrauch muss schon verwundern: was wenige Stunden zuvor bei Reden vor ugandischen Soldaten noch um jeden Preis zu vernichtende Terroristen waren, sind nun nach ihrer Befreiung plötzlich arme verschleppte Kinder. Je nach Publikum verändert der Staatspräsident seine Botschaft, doch die Sorge um eine Verbesserung des Schutzes der terrorisierten Zivilbevölkerung spricht nicht aus seinen Worten. Museveni macht keinen Hehl daraus, dass er trotz der katastrophalen Folgen der Großoffensive "Eiserne Faust" auf eine militärische Lösung des Bürgerkrieges setzt. Museveni warnte nachdrücklich am 8. September 2003 vor jeder geheimen Kontaktaufnahme mit der LRA. Wer mit der Rebellenbewegung insgeheim spreche, riskiere wegen Staatsverrats gehängt zu werden (New Vision / Kampala, 10.9.2003). Inzwischen lässt die Regierung auch Milizen unter der Minderheit der Karamojong im Osten des Landes aufbauen und mit Waffen ausrüsten, eine fatale Entscheidung, die die Gewalt nur weiter eskalieren lässt.

Zivilbevölkerung engagiert sich für den Frieden
Es gab viele Ursachen für den Ausbruch des Bürgerkrieges vor 19 Jahren. Einer der wichtigsten Gründe war sicherlich, dass sich viele Menschen im Norden Ugandas von der Regierung vernachlässigt fühlten. Doch inzwischen hat die LRA mit ihrem Terror jedes Vertrauen unter den Acholi und anderen Bevölkerungsgruppen im Norden und Osten des Landes verspielt. Mit dem von ihr angestrebten Sturz der Regierung Museveni und dem Aufbau eines Staates nach den biblischen zehn Geboten verbindet niemand mehr die Hoffnung auf eine Verbesserung der katastrophalen Lage. Rund 20.000 Kinder und Erwachsene demonstrierten am 14. Juli 2003 in der Stadt Kitgun für ein Ende des Krieges. "Wir wollen keine Killer werden" und "Wir wollen nicht sterben" war auf Spruchbändern in der Demonstration zu lesen.

Seit 1998 engagiert sich die "Friedensinitiative der religiösen Führer von Acholi" (ARLPI) für ein Ende des Bürgerkrieges. Mit öffentlichen Erklärungen, Demonstrationen, Friedensgebeten und mit ganz konkreten Vermittlungsversuchen setzen sich Christen, Orthodoxe und Muslime in der ARPLI gemeinsam für ein Ende des Krieges und der humanitären Tragödie ein. "Warum hat die internationale Staatengemeinschaft uns vergessen", fragen bohrend die religiösen Führer im Norden Ugandas jeden Staatsgast, der das Land besucht. Massiv dringen sie auf mehr internationale Aufmerksamkeit für den Bürgerkrieg und fordern die Einrichtung von gesicherten Korridoren, durch die humanitäre Hilfe zur Not leidenden Bevölkerung gebracht werden könne. Vor allem aber fordern sie internationale Initiativen zur Beendigung des Krieges. Angesichts des mangelnden Friedenswillens der Konfliktparteien erhoffen sie sich inzwischen nur noch von einer Stationierung internationaler Friedenstruppen ein Ende des Terrors gegen die Zivilbevölkerung. Zu Recht verweisen sie darauf, dass die internationale Staatengemeinschaft im Jahr 2003 mit Friedenstruppen im Kongo, in Liberia und der Elfenbeinküste intervenierte, um massive Menschenrechtsverletzungen zu stoppen und die Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten zu schützen. Doch bislang haben weder der Weltsicherheitsrat, noch die Europäische Union oder die USA konkrete Schritte unternommen, um die Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Norden und Osten Ugandas zu stoppen.

Aus "pogrom / bedrohte Völker" (Nr. 221 - 5/2003).


Siehe auch:
* www.gfbv.it: www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/031208de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/031111de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/031023de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/030910ade.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/030829de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/02-2/020808de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-2/030826de.html | www.gfbv.it/3dossier/africa/ruanda/ruan-de.html | www.gfbv.it/3dossier/africa/rwanda.html

* www: www.unicef.de/fileadmin/mediathek/download/i_0095.pdf | www.kindersoldaten.de | www.kindernet.at/strassenkinder/ki_sol.htm

Letzte Aktual.: 17.11.2005 | Copyright | Suchmaschine | URL: www.gfbv.it/3dossier/africa/uganda.html | XHTML 1.0 / CSS / WAI AAA | WEBdesign, Info: M. di Vieste

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