Von Raimund Weiss
Bozen, Wien, Dezember 2004
In einem Kino in Phnom
Penh läuft gerade der Dokumentarfilm "Todesmaschine S-21".
Folterer erklären, wie sie Gefangene im größten
Sicherheitsgefängnis der Roten Khmer während ihrer
Schreckensherrschaft zwischen 1975 und 1979 behandelt haben. Rund
14.000 Menschen sind in den Klassen des ehemaligen
Schulgebäudes gequält und ermordet worden. An den
Wänden der Todesmaschine S-21, heute eine Gedenkstätte
in Phnom Penh, hängen Fotos von Opfern, die vor ihrer
Exekution fotografiert und akribisch dokumentiert wurden.
Systematischer Massenmord einer Regierung, die sich einem
utopischen Kommunismus verschrieben hatte und in einer
totalitären Militärdiktatur endete.
Die Partei der Roten Khmer unter Führung von Pol-Pot
ließ im neugegründeten Staat "Democratic Kampuchea"
die Städte zur Zerschlagung des Klassenfeindes
entvölkern. Sie ermordete Regimegegner wie die ethnische
Minderheit der Cham, die Wirtschaftselite, Intellektuelle,
Künstler und Mönche für geringste Vergehen oder
weil sie einfach zur "falschen" Bevölkerungsgruppe
gehörten. Militärische Zwangsarbeitslager wurden
eingerichtet und Menschen zum Bau von Bewässerungsprojekten
gezwungen. Die Produktionsquoten in der Landwirtschaft sollten
zuerst verdoppelt und dann verdreifacht werden. Ziel war es, die
Überschüsse nach Übersee zu exportieren und mit
den Mehreinnahmen eine Industrialisierung Kambodschas
einzuleiten. "Unser Sozialismus ist durch Geschwindigkeit
charakterisiert. Im Vergleich zu anderen Ländern sind wir in
Bezug auf unsere Methoden extrem schnell", ließ die
Pol-Pot-Regierung verkünden.
In einem Land, wo 80% der Bevölkerung von
landwirtschaftlicher Subsistenzwirtschaft und Tauschhandel
lebten, sollte das buchstäblich bedeuten: "Speed kills".
Während die Regierung exportierte, starben Hunderttausende
an Unterernährung, Genickschüssen oder unter
Spatenschlägen. Im Kino ist es still. Es lähmen Angst,
Betroffenheit und das bedrückende Gefühl, auf die
Strassen Phnom Penhs zurückkehren zu müssen, wo die
Folterer der Roten Khmer nach wie vor in Freiheit sind. 25 Jahre
nach dem Massenmord gibt es immer noch keine Gerichtsverfahren.
Im Dokumentationszentrum in Phnom Penh ist zu lesen, dass gegen
20.000 in Freiheit lebende Mitglieder der Roten Khmer belastendes
Beweismaterial vorliegt. Nur Kang Kech Eav alias Duch, der
Direktor der Todesmaschine S-21, und Ta Mok, der treueste General
von Pol-Pot, sitzen in Untersuchungshaft.
Sogar die führenden politischen Köpfe und
Hintermänner des Massenmordes, der 1,7 Millionen Menschen
das Leben kostete, sind auf den Strassen Phnom Penhs anzutreffen.
Nuon Chea, Mitglied des Zentralkomitees, dem obersten
Entscheidungsorgan der Pol-Pot-Regierung, erschien im Dezember
2002 in Phnom Penh vor Gericht als freier Mann. Ein
Khmer-Rouge-Kommandant wird für den Mord an drei
ausländischen TouristInnen verurteilt. Nuon Chea
verlässt nach dem Prozess den Gerichtssaal. Er ist als
Entlastungszeuge gekommen, nicht als Angeklagter. Niemand
protestiert. Der Richter, welcher den Khmer-Rouge-Kommandanten
verurteilt hatte, wird fünf Monate später in Phnom Penh
auf offener Strasse erschossen. Auch von Ieng Sary, dem
ehemaligem Außenminister der Pol-Pot-Regierung, aus dessen
Ministerium mehrere Beamte in den Todeszellen von S-21
verschwanden, und von Khieu Samphan, dem Staatspräsidenten,
ist bekannt, dass sie im Westen Kambodschas bis heute ein freies
Leben führen. Sie weisen jede Verantwortung für den
Massenmord zurück. "Ich habe von S-21 erst über den
Kinofilm erfahren", erklärt Khieu Samphan, während sich
Ieng Sary verteidigt: "Ich kann nicht akzeptieren, dass das
Regime der Roten Khmer wegen Völkermordes angeklagt
wird."
Seit 1997 verhandelt Kambodschas Regierung mit
den Vereinten Nationen über die Einrichtung eines Tribunals.
Im Januar 2001 schien alles beschlossen. Das kambodschanische
Parlament ratifizierte das "Gesetz zur Einrichtung einer
außerordentlichen Gerichtskammer zur Ahndung der Verbrechen
der Roten Khmer". Doch dann kam alles anders. Im Februar 2002
wurden die Verhandlungen von den UN abgebrochen. Kambodschas
Regierung bestand auf einer Amnestie für
Khmer-Rouge-Außnminister Ieng Sary. Kambodschas König
Norodom Sihanouk hatte Ieng Sary im Jahr 1996 amnestiert, weil er
zwei Drittel der Rote-Khmer-Streitkräfte auf Regierungsseite
gebracht hatte. Die UN wollten eine Prüfung der Amnestie.
Aus dem damals unter Leitung von Ieng Sary stehenden
Roten-Khmer-Aussenministerium wurden mehrere Beamte in das
berüchtigte Sicherheitsgefängnis S-21 deportiert und
ermordet.
Kambodschas Regierung lehnte dennoch ab: Einmal vom König
ausgesprochene Amnestien seien nicht rückgängig zu
machen. Auch wollte Kambodschas Regierung das Gericht auf ihrer
Seite wissen. Im Tribunal sollten mehrheitlich die von ihr
nominierten Richter vertreten sein. Die UN und
Menschenrechtsorganisationen fürchteten um die
Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit des Tribunals.
Mehrere amtierende Regierungsmitglieder sind ehemalige Rote
Khmer. Dazu zählen der derzeitige Premierminister Hun Sen,
Innenminister Sar Kheng, Senatspräsident Chea Sim,
Finanzminister Keat Chhon und Heng Samrin, der Ehrenvorsitzende
der Regierungspartei CPP (Cambodian People's Party). Im Juni 2003
kam auf Druck von UN-Mitgliedsstaaten nun doch ein neues
Vertragswerk zustande. Der Kompromiss lautet, die Amnestierung
von Ieng Sary sei zu prüfen, und beim Tribunal sind nur
mittels Zustimmung von mindestens einem von den UN nominierten
Richtern Urteile möglich. Am 5. Oktober 2004 hat das
kambodschanische Parlament das neue Abkommen einstimmig
verabschiedet.
Die UN schätzen die Laufzeit des Tribunals auf drei Jahre.
Angeklagt werden sollen alle "führenden und
hauptverantwortlichen Mitglieder der Roten Khmer für
Verbrechen zwischen 1975 und 1979". Dazu könnten neben Nuon
Chea, Ieng Sary, Khieu Samphan, Ta Mok und Duch auch Ke Pauk, der
Parteisekretär der Zentralzone, und die regimetreuen
Militärdivisionskommandanten Sou Met und Meah Mut
zählen. Es ist jedoch noch nicht bekannt, wer
tatsächlich angeklagt werden soll. Die gerichtlichen
Voruntersuchungen haben noch nicht begonnen. General Ta Mok und
Duch, der Direktor der Todesmaschine S-21, sitzen seit Jahren in
Untersuchungshaft. Eine Anhörung fand bisher nicht statt.
Auch bleiben Tausende weitere Täter unbehelligt. Das Land
kann sich keine politische Destabilisierung leisten, sagt
Kambodschas Regierung. Laut Umfragen aus dem Jahr 2003 ist
Kambodschas Bevölkerung gespalten. 48% befürworten eine
Verurteilung der Khmer- Rouge-Führer, 32% halten es für
sinnlos, 20% wissen es nicht.
Derzeit wird die Finanzierungsfrage mit potentiellen
Geldgeberstaaten verhandelt. Das Tribunal soll nach
Schätzungen 50 Millionen US-Dollar kosten. Schon baut sich
die nächste Hürde des über Jahre verzögerten
Tribunals auf. Kambodschas Regierung will nicht zahlen,
während Premierminister Hun Sen der Presse erklärt:
"Ich befürchte, die ausländischen Richter kennen
Kambodscha nicht. Sie müssen Kambodscha gut verstehen. Ich
bin nicht besorgt über die kambodschanischen Richter und
Staatsanwälte, denn sie verstehen Kambodscha". Aber was gibt
es bei Massenmord zu verstehen? Es ist wie im Kino. Der Film ist
zu Ende, das Grauen in den Köpfen jedoch nicht. Die
Todesmaschine S-21 ist ein paar Häuserblöcke entfernt,
und alle wissen, sie kehren zurück auf die Strassen von
Phnom Penh, in die Wirklichkeit von freien Tätern und die
eigenen Erinnerungen an den Massenmord.
Aus Bedrohte Völker Nr. 4, 12/2004, www.gfbv.at/pdf/bv-81.pdf.