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Kriegsverbrechen

Was jeder wissen sollte

Bozen, Göttingen, 3. Dezember 2003

Inhalt
Kriegsverbrechen: Was jeder wissen sollte, von Roy Gutman, David Rieff
Kambodscha: Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen, von William Shawcross
Nagorno-Karabach: Verschickung von Zivilpersonen, von Thomas Goltz

Kriegsverbrechen

Was jeder wissen sollte

Von Roy Gutman, David Rieff .:: oben ::.

Anfang der neunziger Jahre, als sich die Führer der westlichen Welt noch zum Ende des Kommunismus und dem Fall des sowjetischen Reiches gratulierten, begann die Sicherheitsstruktur, die zum Eintritt dieser Ereignisse beigetragen hatte, zu zerfallen. Das Nordatlantische Bündnis unter der Leitung der Amerikaner, vier Jahrzehnte lang wirkungsvolles Gegengewicht zur russischen Vorherrschaft in Osteuropa, erwies sich als unfähig, mit einem einzigen jugoslawischen Despoten, Slobodan Milosevic, fertig zu werden. Das Bündnis, das der Gefahr einer nuklearen Apokalypse gegenübergestanden hatte, sah sich außerstande, eine schlüssige Reaktion auf einen kleinen, mit konventionellen Mitteln ausgetragenen Konflikt in Südosteuropa zu zeigen.

Der Krieg war auf den europäischen Kontinent zurückgekehrt. Zunächst in Kroatien und dann in Bosnien wurde er anscheinend ohne die Beachtung der Regeln der Kriegführung ausgetragen, die im Gefolge des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust aufgestellt worden waren. Diese Regeln für das Verhalten im Krieg bildeten einen weniger bekannten Bestandteil der nach 1945 entstandenen Architektur der internationalen Sicherheit. Sie standen für die Bemühung, eine Wiederholung der schlimmsten Ausschreitungen des Zweiten Weltkriegs zu verhindern: die Konzentrationslager, die Massendeportationen, die Bombardierungen zur Verbreitung des Schreckens unter der Zivilbevölkerung. Mit diesen Regeln in der Hand konnten die Nachkriegsregierungen in Europa und Nordamerika ihren Völkern wenigstens versichern, daß die Lektionen gelernt und neue Normen errichtet worden waren.

Es ist keine Übertreibung zu sagen, daß diese Verhaltensmaßregeln sogar im Falle eines Krieges einen Schutzwall zwischen Zivilisation und Barbarei bilden sollten. Die Nürnberger Prozesse von 1945 schrieben das Prinzip fest, daß es so etwas wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit gibt, systematische Verbrechen gegen Zivilpersonen, die zwar innerhalb eines Landes begangen, aber auch anderswo gerichtlich verfolgt werden können. Die Konvention gegen Völkermord von 1948 wies diesem schlimmsten Verbrechen des Verbrechenskatalogs eine rechtliche Bedeutung und Rechtskraft zu.

Die Genfer Konventionen von 1949 kodifizierten die Regeln in Kriegen zwischen Staaten und entwickelten sie weiter, wobei zwischen rechtmäßigem Verhalten und unerlaubten und strafbaren Handlungen im Krieg unterschieden wurde. Zusammen mit den zwei Zusatzprotokollen von 1977 bilden die Genfer Konventionen die zentrale Sammlung von allgemein anerkannten Regeln zur Kriegführung. Wissenschaftler und humanitäre Organisationen, die den Schutz von Nicht-Kombattanten nach diesem Recht betonen wollen, bezeichnen dieses Gebiet als "Humanitäres Völkerrecht". Das Militär spricht lieber von Kriegsrecht und bezieht in diese Definition die Problematik der Ursachen von Kriegen mit ein.

In den wohlhabenden westlichen Ländern haben sich die Regeln des humanitären Völkerrechts etabliert, nachdem die teilweise grausamen Kolonialkriege erst einmal vorbei waren. Man vergleiche nur einmal zum Beispiel das militärische Verhalten Amerikas in Vietnam, wo gegen viele Normen des humanitären Völkerrechts verstoßen wurde, mit seinem Versuch, diese Normen im Golfkrieg gewissenhaft einzuhalten. Leider haben sich die Konflikte in die arme Welt verlagert, wo dieses Rechtssystem von Regierungen und Aufständischen regelmäßig ignoriert wird. Und in der Zeit unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges fühlte sich keine bedeutende westliche Macht für die Konflikte in der Dritten Welt zuständig, solange es nicht um Öl ging.

Es ist daher kaum verwunderlich, daß die Struktur des humanitären Völkerrechts weniger als zwei Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer vor dem Zusammenbruch zu stehen schien. Es brauchte erst einen Krieg in Europa - Kroatien 1991 - um das Interesse der Öffentlichkeit wachzurütteln. Der Krieg in Bosnien-Herzegowina (1992), die Völkermorde in Ruanda (1994) und Tschetschenien (1995) sorgten dafür, daß die Alarmglocken noch lauter schrillten, auch wenn sie schon weit früher hätten losgehen sollen.

Der Auslöser war Bosnien. Mitten im "zivilisierten" Europa hatten serbische Streitkräfte Konzentrationslager eingerichtet, deportierten Nicht-Serben in Viehwagen, zerstörten Städte und Dörfer, organisierten die systematische Vergewaltigung kroatischer und muslimischer Frauen und gingen im Namen einer "ethnischen Säuberung" gegen Zivilpersonen vor. Das große westliche Bündnis sah tatenlos zu, und ohne das grelle Licht der Medien, wie bereits über zwei Jahrzehnte zuvor in Vietnam, ohne den Aufschrei der Öffentlichkeit in Westeuropa und Nordamerika wäre die Barbarei vielleicht noch endlos weitergegangen.

Als Reaktion auf diesen Aufschrei der Öffentlichkeit schickten einflußreiche Mächte Nahrungsmittel und Medikamente und entsandten UN-Streitkräfte zur Beaufsichtigung der Hilfsgüterverteilung, dies aber eher im Bestreben, die öffentliche Meinung zu beschwichtigen, denn als politische Antwort auf die Ursache dieser von Menschen herbeigeführten Katastrophe. Verspätet - und lange, nachdem die schlimmsten Verbrechen bereits begangen worden waren - wurden die ersten Kriegsverbrechertribunale seit Nürnberg eingerichtet, erst für Bosnien und dann auch für Ruanda. Dies geschah zumindest teilweise als Reaktion auf den Druck von Menschenrechtsorganisationen, Hilfsorganisationen, religiösen und anderen nichtstaatlichen Organisationen und Nachrichtenmedien.

Das war an sich schon etwas ganz Neues. Zwar können nichtstaatliche Organisationen und engagierte Einzelpersonen zu Recht für sich in Anspruch nehmen, 1948 die Allgemeine Menschenrechtserklärung der UNO und die Konvention zum Völkermord konzipiert, aufgesetzt und angenommen zu haben, doch traditionell hat die Öffentlichkeit bei der Eindämmung von Kriegsverbrechen kaum eine Rolle gespielt. Die Anwendung internationaler Normen war stets Sache der Regierungen, des Militärs und des in Genf ansässigen Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, das seit über einem Jahrhundert bei der Aufstellung, Überwachung und Anwendung der Genfer Konventionen hilft.

Noch weiß niemand, ob die Tatsache, dass nichtstaatliche Organisationen in den Blickpunkt der Öffentlichkeit geraten sind, dazu beitragen kann, die Verantwortung hin zu einer Weltordnung zu verlagern, die auf einer Zusammenarbeit zwischen Regierungen, zwischenstaatlichen Organisationen wie den Vereinten Nationen und privaten Gruppen beruht. Andererseits wird möglicherweise das Wort vom Beginn einer Ära des internationalen Rechts und vom Ende der alten, scharf umrissenen Vorstellung von der Souveränität der Staaten überbewertet. Doch welche Struktur der Weltpolitik sich im nächsten Jahrhundert auch herausbilden, die Redakteure und Autoren, die an diesem Buch beteiligt sind - Anwälte, Journalisten und Wissenschaftler -, sind der Ansicht, daß das Kriegsrecht die Sache aller ist. Es gehört zu den großen Leistungen der Zivilisation und ist in diesem Zeitalter der Ungewißheit und Unordnung wichtiger denn je.

Zur Zeit jedenfalls ist Berechenbarkeit in Konflikten nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Und realistisch betrachtet, wird sich das humanitäre Völkerrecht nicht ohne die Unterstützung von Regierungen durchsetzen können. Aber nun, da das Interesse der Öffentlichkeit am humanitären Völkerrecht wächst und dieses einst esoterische Gebiet allmählich Schlagzeilen macht, liegt ein Gefühl des Wandels in der Luft. Ob es nun, zum ersten Mal seit den Nürnberger Prozessen, um die Verurteilung eines ruandischen Bürgermeisters wegen Völkermords geht oder um die Bemühung, Inspektoren zur Aufklärung von Kriegsverbrechen in den Kosovo zu entsenden, oder um den Versuch eines spanischen Staatsanwalts, den früheren chilenischen Diktator Augusto Pinochet wegen der Verbrechen an seinem Volk vor Gericht zu stellen, oder um die Entscheidung der US-Regierung, die Riesensumme von 5 Millionen Dollar für die Ergreifung verurteilter bosnischer Kriegsverbrecher auszusetzen - die Zeichen stehen auf einen radikalen Wandel.

Jetzt lautet die Frage, ob sich diese Entwicklung durchsetzen kann und ob sich die Herrschaft des Rechts, festgelegt in internationalen Verträgen, wirklich auf Konflikte anwenden läßt. Gründe zur Skepsis gibt es reichlich. Sicher ist jedoch, daß dies ohne das Problembewußtsein der Öffentlichkeit und ohne deren Engagement nicht geschehen wird. Und ohne das Wissen über die grundlegenden Tatsachen zum Kriegsrecht kann es beides nicht geben.

Der Bedarf ist groß. Heute werden Kriege immer öfter nicht zwischen Armeen ausgetragen, deren Offiziere einem Ehrenkodex verpflichtet sind, sondern von Kämpfern, darunter vielen Kindern, die keine Soldaten im konventionellen Sinn des Wortes sind. Das Ziel dieser Konflikte besteht häufig in einer ethnischen Säuberung - der zwangsweisen Vertreibung der Zivilbevölkerung des Feindes - und nicht in dem Sieg einer Armee über die andere. Die Hauptopfer eines derartigen Krieges - Gemetzel trifft den Sachverhalt meist besser - sind Zivilisten.

Wie schrecklich hoch die Zahl der Toten im Ersten Weltkrieg auch war: die Millionen von Opfern fielen hauptsächlich auf dem Schlachtfeld. Es waren Soldaten, getötet von Soldaten, nicht Zivilisten, die durch gesetzlose, willkürliche oder geplante Brutalität zu Tode kamen. Das Verhältnis zwischen militärischen und zivilen Opfern lag bei neunzig zu zehn. Im Zweiten Weltkrieg war das Verhältnis ungefähr fünfzig zu fünfzig. Heute kommen auf jeweils zehn gefallene Militärangehörige etwa neunzig tote Zivilisten. Die Realität unseres Zeitalters, zu sehen in Angola, Somalia, Bosnien, Ruanda und Tschetschenien, besteht darin, daß Folterungen um sich greifen, die Ermordung von Zivilpersonen an der Tagesordnung ist und die Vertreibung der Überlebenden aus ihren Wohngebieten häufig eines der Hauptziele einer militärischen Offensive darstellt.

Dieses Buch wurde mit Blick auf den 50. Jahrestages der Genfer Konvention im August 1999 veröffentlicht, um der Öffentlichkeit Gelegenheit zu geben, sich über die Grundsätze des Verhaltens im Krieg zu informieren. Es besteht aus drei Arten von Artikeln. Das Kernstück des Rechts und so auch dieses Buches sind die groben Verstöße oder auch schweren Kriegsverbrechen, die in den vier Genfer Konventionen von 1949 und im Ersten Zusatzprotokoll von 1977 dargestellt sind.

Die Herausgeber haben versucht, für jeden Verstoß ein eindeutiges Beispiel zu finden, ohne Ansehen der Länder oder Gegner, und baten dann Reporter, die jeweils vor Ort gewesen waren, eine anschauliche Fallstudie dessen zu liefern, was sie gesehen hatten. Diese Artikel sind mit dem Begriff Verbrechen gekennzeichnet. Führende Wissenschaftler in den Vereinigten Staaten und im Ausland haben kürzere Artikel zu Fachthemen beigetragen; die meisten davon sind mit dem Begriff Recht gekennzeichnet.

Außerdem gibt es zu wichtigen Themen Artikel in Essay-Länge von Journalisten und Wissenschaftlern, sie sind unter Schlüsselbegriffe aufgeführt. Um einen besseren Überblick über die aktuelle Konfliktsituation zu bieten, haben die Herausgeber Reporter und einen Historiker gebeten, die Konflikte unserer Zeit aus einem neuen und kritischen Blickwinkel zu betrachten und sie im Licht der Kriegsverbrechen zu untersuchen. Diese zehn Fallstudien bieten Einblicke in die Dynamik von Verbrechen in neun Kriegen (Ruanda wird zweimal aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet) und können als Buch im Buch gelesen werden. Die Fallstudien werden ergänzt durch die Überblicke über das geltende Recht durch drei Experten: "Kategorien von Kriegsverbrechen" von Steven Ratner, "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" von Cherif Bassiouni und "Völkermord" von Diane Orentlicher. Jeder Artikel wurde von unserem Rechtsredakteur Kenneth Anderson, seinen Kollegen am Washington College of Law der American University und von führenden militärischen Rechtsexperten in den Vereinigten Staaten und Großbritannien überprüft.

Der alphabetische Aufbau, der Gebrauch von Fettdruck zum Kennzeichnen von Querverweisen und die grafische Gestaltung sollen bewirken, daß das Buch leicht zu benutzen ist. Die Fotografien stellen visuelle Lesezeichen dar und dokumentieren gleichzeitig die Realität hinter den Worten. Die Texte enthalten einige der bezwingendsten Reportagen des modernen Journalismus. Sydney Schanbergs Fallstudie über Kambodscha, Roger Cohens Artikel über die ethnische Säuberung in Bosnien, Gwynne Roberts' Bericht über die Vergasung kurdischer Zivilisten in Halabja und deren Nachwirkungen, Frank Smyths Erzählung über eine Verhaftung im Irak, Ed Vulliamys Bericht über Konzentrationslager und Corinne Dufkas Bericht über Kindersoldaten in Liberia sind einige der Artikel, die den Grund für die Entstehung dieses Buches lieferten.

Einige Beiträge bieten Nicht-Militärs einzigartige Einblicke in militärische Themen. So erfahren beispielsweise Reporter bzw. Besucher oder Inspektoren von Kriegsgefangenenlagern aus Wayne Elliotts Artikel über Kriegsgefangene, worauf man sein Augenmerk richten muß. Elliott demonstriert, wie allein die Tatsache, daß Fragen gestellt werden, die Aufmerksamkeit auf die Beachtung der Regeln bzw. auf Regelverstösse lenken kann und die Befehlshaber daran erinnert, daß die Augen der Welt auf sie gerichtet sind. Hamilton DeSaussures Essay über militärische Ziele macht dem Leser die moralische Debatte klar, die in einem Offizier ablaufen sollte, bevor er beschließt, was anzugreifen und was zu verschonen ist.

Kriegsverbrechen war als Handbuch für Reporter geplant. Aber so wie der Krieg zu wichtig ist, um ihn den Generälen zu überlassen, so ist auch Berichterstattung über den Krieg zu wichtig, um sie unkritisch den Nachrichtenmedien zu überlassen. Auch die allgemeine Öffentlichkeit sollte über moralische und juristische Maßstäbe des Rechts informiert sein. Einer der Gründe für eine Interessenübereinstimmung besteht darin, daß die Berichterstattung über Konflikte in unserer Zeit immer häufiger ohne einen Filter, ein Rahmenwerk oder einen Kontext erfolgt. Ein zweiter besteht darin, daß jeder, der die Dinge von nahem beobachtet, nur ein begrenztes Gesichtsfeld hat.

Journalisten, die über Kriege und humanitäre Notfälle der Welt nach dem Kalten Krieg berichten, wissen viel besser als ihr Publikum oder ihre Kritiker, wie sehr sie auf unbekanntem Gelände operieren. Inmitten all der Verwüstung, Verwirrung und Desinformation zu verstehen, was vor sich geht, ist alles andere als leicht. Und fast nichts in ihrer Ausbildung bereitet die Reporter darauf vor, wie sie die notwendige Unterscheidung zwischen rechtmäßigen, unerlaubten und strafbaren Handlungen machen können.

Ist es nach internationalem Recht ein Kriegsverbrechen oder eine schreckliche, destruktive, aber rechtmäßige Kriegshandlung, wenn man sieht, wie ein Hospital in Sarajewo beschossen, ein humanitärer Hilfskonvoi an einem Kontrollpunkt an der Grenze zwischen Dagestan und Tschetschenien blockiert wird oder in Sri Lanka ein Kampf stattfindet, bei dem keine Gefangenen gemacht werden?

Ist es eine legitime Sanktion seitens eines Staates, wenn die Heime angeblicher Terroristen in Schutt und Asche gelegt werden, wie es regelmäßig in Israel geschieht, oder handelt es sich dabei um ein Kriegsverbrechen? Wenn Kombattanten in der Zivilbevölkerung untertauchen, wie es in Vietnam oder kürzlich erst in Ruanda der Fall war, verstößt das gegen die internationalen Konventionen?

Der beste Indikator für ein schweres Kriegsverbrechen ist häufig die massive Vertreibung von Zivilpersonen. Aber Menschen rennen um ihr Leben, um von einem Ort des Verbrechens oder vor unmittelbar drohenden Verbrechen zu fliehen, wie es häufig während des Bürgerkriegs im Sudan geschah, oder weil ihre Anführer es ihnen befohlen haben, mit dem Hintergedanken, mit militärischen Kräften zurückzukehren, wie dies die Serben 1991 taten, als sie das kroatische Slawonien verließen. Möglicherweise fliehen sie auf Anordnung ihrer politischen Anführer, die sie als Verbrechensopfer hinstellen wollen, wie die Tadschiken, die 1993 nach Afghanistan flohen, oder weil sie und ihre Anführer schwere Verbrechen begangen haben und die Gerechtigkeit oder Rache fürchten, wie es bei den ruandischen Hutus der Fall war, die 1994 im Gefolge des Völkermords nach Ost-Zaire flüchteten. So etwas läßt sich schon unter den günstigsten Bedingungen nur schwer sagen - um so schwieriger ist es unter Termindruck.

Manchmal ist das Kriegsrecht frustrierend ernüchternd. Wie dieses Buch zeigt, befaßt sich das humanitäre Völkerrecht nicht mit den Gründen oder Ursachen eines bestimmten Krieges oder damit, welche Seite recht und welche unrecht hatte, sondern allein damit, wie der Krieg geführt wird. So ist es zum Beispiel gut möglich, daß ein Aggressor einen Eroberungskrieg gemäß den Genfer Konventionen führt oder daß der Angegriffene in einem legitimen Selbstverteidigungskrieg Kriegsverbrechen begeht. Doch die Tatsache, daß das Recht nicht auf jede Frage eine Antwort hat oder uns vor jedem moralischen Dilemma schützen kann, vor das uns ein Krieg stellt, bedeutet nicht, daß es gar keine Antworten hat oder uns keinen Schutz vor Barbarei und Verbrechen bietet.

Verstehen ist immer schwierig, doch nie mehr als in einem Krieg, wenn man der Verlockung einfacher Erklärungen vielleicht nur schwer widerstehen kann. Die britische Journalistin Lindsey Hilsum behauptet, wenn ein Journalist berichtet, daß Anarchie herrsche, oder zu vereinfachenden Klischees greift, z.B. einen bestimmten Konflikt als das Produkt uralter ethnischer oder Stammesanimositäten beschreibt, dann habe er wahrscheinlich nicht ganz verstanden, was dort vor sich ginge.

Ganz offensichtlich kommt Journalisten eine bedeutende Rolle zu, aber sie sind nicht die einzigen, die den Blick auf die Brutalität von Konflikten in unserer Zeit gerichtet halten. Gruppen wie Human Rights Watch, Amnesty International und die Gesellschaft für bedrohte Völker richten ihr Augenmerk verstärkt auf Verstöße gegen das Menschenrecht, aber sie können nicht die gesamte Verantwortung für die Aufdeckung von Kriegsverbrechen übernehmen. Menschenrechtsgruppen verfügen über ein außergewöhnliches Fachwissen und engagierte ständige Mitarbeiter, doch ihre Ressourcen sind begrenzt, sie kommen vielleicht erst später an den Tatort, haben nur begrenzten Zugang oder brauchen etwas Zeit, um ihre Berichte zu erstellen. Und wie viele private, auf Spendengelder angewiesene Gruppen hat jede ihren eigenen Auftrag und ihr eigenes Programm.

Mitarbeiter von Hilfsorganisationen vor Ort sind zu den Augen und Ohren der Welt in Konfliktgebieten geworden. Meist sind sie als erste vor Ort und gehen als letzte weg. Aber der Versuch, Kriegsverbrechen zu verhindern oder auch nur über sie zu berichten, gehört üblicherweise nicht zu ihren Aufgaben, und sie sind dafür im Normalfall auch nicht ausgebildet. Wenn sie diese Grenze öffentlich übertreten, riskieren sie die Ausweisung, mit allem, was das für die gefährdete Bevölkerung bedeutet, der sie helfen wollen. Doch mit dem Wissen darüber, was bei der Kriegführung rechtmäßig, was unerlaubt und was strafbar ist, können sie oder andere Beobachter diejenigen darauf aufmerksam machen, die die Aufgabe und die Mittel haben, die Öffentlichkeit zu informieren oder zu handeln.

Kriegsverbrechen soll die allgemeine Öffentlichkeit in die Lage versetzen, Nachrichten aufgrund eines gewissen Hintergrundwissens besser zu verstehen, indem es Maßstäbe für die Kontrolle von "Wachhunden" und Regierungen aufzeigt. Was genau die Regierungen unternehmen sollten, um Verstöße gegen das Kriegsrecht in großem Maßstab zu verhindern, ist nicht Gegenstand dieses Buches. Manchmal kann allein die Tatsache, daß schwere Verstöße gegen das Menschenrecht bekannt werden, sich auf das Verhalten auf einem kleinen Kriegsschauplatz auswirken; in anderen Fällen, wie auf dem Balkan, kann nur eine militärische Intervention oder deren Androhung etwas bewirken.

Unsere Hoffnung ist, wenn die Rechtsgrundsätze allgemein bekannt sind und die Nachrichtenmedien und andere Beobachter der Öffentlichkeit die relevanten Tatsachen präsentieren, daß aufgrund dieser Sachkenntnis dann auch Lösungen gefunden werden.

Joseph Pulitzer hat dies am klarsten ausgedrückt, als er schrieb: "Es gibt kein Verbrechen, das nicht in Heimlichkeit lebt. Wenn man diese Dinge ans Licht bringt, sie beschreibt, sie angreift, sie in der Presse der Lächerlichkeit preisgibt, dann wird die öffentliche Meinung sie früher oder später hinwegfegen." Das zumindest ist die Hoffnung aller, die zu diesem Buch beigetragen haben.

David Rieff ist Mitherausgeber des Buches "Kriegsverbrechen" und schreibt für Foreign Affairs, Harper´s, The New Republic Review of Books, The Times Literary Supplement und für den New Yorker. Er ist Autor von Slaughterhouse: Bosnia and the Failure of the West.

Roy Gutmann ist Journalist im Washingtoner Büro des Newsday und Leiter des Projekts "Crimes of War". Ihm wurde 1993 für seine Recherchen über Konzentrationslager und andere Praktiken der ethnischen Säuberung in Bosnien die Pulitzer-Preis verliehen.

Kambodscha

Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen

Von William Shawcross .:: oben ::.

Unmittelbar vor Weihnachten 1975 fuhr ich von Bangkok aus ein paar hundert Meilen nach Osten, an die Grenze Thailands zu Kambodscha. Es war etwa acht Monate, nachdem die kommunistischen Roten Khmer die von den USA gestützte Regierung von General Lon Nol besiegt und die Macht in Kambodscha übernommen hatten.

Seitdem hatten die Roten Khmer alle Angehörigen westlicher Länder (und die meisten anderen Ausländer) ausgewiesen, alle Menschen aus den Städten hinausgetrieben und ein radikales maoistisches Experiment begonnen, mit dem sie das Land in ein autarkes vorindustrielles Zeitalter versetzen wollten. Die einzigen Zeugen des Terrors, den dieser Plan beinhaltete, waren die Flüchtlinge, die es bis zur Grenze nach Thailand geschafft hatten. (Die, die Vietnam erreichten, wurden von den vietnamesischen Kommunisten ruhig gehalten, die zu jener Zeit noch mit den Roten Khmer verbündet waren.)

Die Flüchtlinge, die ich in einem Lager des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) bei der Grenzstadt Aranyaprathet traf, hatten alle furchtbare Geschichten zu erzählen. Sie sprachen davon, daß Kader der Roten Khmer Babies gegen Bäume schlugen, bis sie tot waren, und dass jeder Erwachsene, den man verdächtigte, noch Bindungen zum alten Regime zu haben, zu Tode geprügelt oder erschossen wurde, sie sprachen von Aushungerung und dem vollständigen Fehlen einer ärztlichen Versorgung, von brillentragenden Männern, die getötet wurden, weil sie "Intellektuelle" seien.

Ich hatte keinen Zweifel daran, daß diese Flüchtlinge die Wahrheit erzählten. Die Geschichte hat gezeigt, daß Flüchtlinge das normalerweise tun. Weniger klar war zu jener Zeit, weshalb die Roten Khmer derart grausam vorgingen. Das Töten ging weiter und nahm im Lauf der darauffolgenden dreieinhalb Jahre sogar noch zu. Es wurde kein Versuch einer Intervention unternommen, um dem ein Ende zu setzen. Als der US-Senator George McGovern eine militärische Intervention zum Schutz der Menschlichkeit vorschlug, erntete er nur Spott.

Ende 1978, nachdem vielleicht 1,5 bis 3 Millionen der 7 Millionen Menschen in Kambodscha gestorben waren, wurden die Roten Khmer von ihren früheren vietnamesischen Verbündeten gestürzt. An ihrer Stelle errichtete Hanoi ein kommunistisches Satellitenregime. Dessen Politik läßt sich auf keinen Fall mit der der Roten Khmer vergleichen, aber dennoch handelte es sich um ein brutales Einparteiensystem.

1980 besuchte ich Kambodscha und wurde zu einem Massengrab außerhalb von Phnom Penh geführt, wo Opfer der Roten Khmer beerdigt lagen. Diese Menschen waren zu Tode geprügelt worden; ihre Hände waren immer noch zusammengebunden, ihre Schädel waren eingeschlagen, und an einigen Knochen hingen immer noch Fetzen faulenden Fleisches.

Ich hatte schon in meiner Kindheit von solchen Massengräbern gehört - mein Vater war britischer Chefankläger in Nürnberg, und es gehört zu meinen frühesten Erinnerungen, wie ich die Aufnahmen seiner Reden für die Anklage hörte. In einer schildert er die furchtbaren Greueltaten, die er in einem Massengrab bei einem Ort namens Dubno gesehen hatte. Das Bild, wie Familien jeden Alters auf Gräben zugetrieben wurden, an denen zigarettenrauchende SS-Männer darauf warteten, sie zu erschießen, machte einen Eindruck auf mich, der mich mein Leben lang nicht losließ. Natürlich hatte ich gehofft, einen solchen Anblick niemals selbst zu erleben. Aber in Kambodscha widerfuhr mir genau das.

Seit dem Sturz der Roten Khmer ist nie richtig der Versuch unternommen worden, die Anführer der Roten Khmer vor Gericht zu stellen. Im Sommer 1979 inszenierten die Vietnamesen einen Schauprozeß gegen die Anführer in deren Abwesenheit - es war eine Farce. Seitdem hat es, teils aus politischen Gründen, keine erfolgreiche Bemühung gegeben, die Roten Khmer der Gerechtigkeit zuzuführen.

Die Frage lautet, wegen welcher Verbrechen genau man sie anklagen sollte. Da die Mehrheit ihrer Opfer ebenfalls Kambodschaner waren, läßt sich die Völkermord-Konvention auf den ersten Blick wohl auf die Mehrzahl dieser Morde nicht anwenden; so lautete bis vor kurzem die vorherrschende Meinung in der internationalen Rechtsgemeinschaft. Jedoch gibt es Beweise des ersten Anscheins, daß sie insbesondere ethnische und religiöse Gruppen wie die Cham sowie Angehörige der vietnamesischen Minderheit und buddhistische Mönche angriffen. Diese Angriffe würden wahrscheinlich der Völkermord-Konvention entsprechen, insofern, als sie "mit dem Vorsatz" begangen wurden, diese Gruppen "ganz oder teilweise zu zerstören".

Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden mit zwischen- und innerstaatlichen Konflikten in Verbindung gebracht, aber die Meinung, daß dies nach dem Völkerrecht nicht unbedingt immer so sein muß und daß Morde in großem Maßstab auch dann, wenn kein bewaffneter Konflikt vorliegt, Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen können, gewinnt immer mehr an Boden.

Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien hat entschieden, daß Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht mit bewaffneten Konflikten in Verbindung stehen müssen, und das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofes von 1998 erwähnt eine derartige Verbindung nicht. Eine Studie des US-Außenministeriums von 1995 kam zu der Schlußfolgerung, daß die Roten Khmer wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht gestellt werden könnten, und die Vereinigten Staaten und andere Regierungen versuchten 1998 erfolglos, Pol Pot noch kurz vor seinem Tod vor Gericht zu bringen.

Die systematischen Morde der Roten Khmer, die Ausrottung, unannehmbare Zwangsarbeit, Folter, Zwangsverlegungen der Bevölkerung - sie alle stellen Beweise des ersten Anscheins für Massenverfolgungen dar. Bei einer strafrechtlichen Verfolgung der Roten Khmer wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit würden Anklagen wegen Verfolgung sowie Ausrottung und Mord wahrscheinlich eine zentrale Rolle spielen. Die Nürnberger Prozesse und spätere Tribunale haben festgelegt, daß die folgenden Handlungen Elemente einer Verfolgung darstellen:

- der Entzug staatsbürgerlicher Rechte,
- der Entzug des Rechts zu lehren,
- Berufe auszuüben oder Bildung zu erwerben und nach eigenem Willen zu heiraten;
- Verhaftung und Inhaftierung; Prügel, Verstümmelung, Folter, Beschlagnahme von Eigentum;
- Deportation in Ghettos, Sklavenarbeit und Ausrottung;
- Plünderung und Zerstörung von Geschäften als Terrormaßnahme oder in Verbindung mit anderer Gewalt; Vorenthaltung der Rechte in bezug auf ein regelgerechtes Gerichtsverfahren, eine kollektive Geldstrafe, Beschlagnahme von Vermögenswerten, Errichtung von Ghettos, erzwungenes Tragen von Sternen, Boykott von Geschäften, das Predigen von Haß und Aufhetzung zu Mord und Ausrottung.

Das Römische Statut des Internationalen Gerichtshofes von 1998 führt unter den aufgelisteten Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch Verfolgung auf und definiert sie als "den völkerrechtswidrigen, vorsätzlichen schweren Entzug von Grundrechten aufgrund der Identität der Gruppe oder der Gemeinschaft." Das Statut verbietet "Verfolgung einer identifizierbaren Gruppe oder Gemeinschaft aus politischen, rassischen, nationalen, ethnischen, kulturellen oder religiösen Gründen, Gründen des Geschlechts ... oder aus anderen nach dem Völkerrecht universell als unzulässig anerkannten Gründen im Zusammenhang mit einer in diesem Absatz [über Verbrechen gegen die Menschlichkeit] genannten Handlung oder einem der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegenden Verbrechen." Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit muß laut dem Statut als Teil "eines großangelegten oder systematischen Angriffs" begangen werden.

Bisher ist in Kambodscha noch niemand zur Verantwortung gezogen worden. Obwohl inzwischen beinahe zwanzig Jahre vergangen sind, seit die Roten Khmer gestürzt wurden und seither weitere Mißhandlungen an dem kambodschanischen Volk begangen wurden, suchen die Verbrechen der Roten Khmer ihresgleichen. Frieden und Gerechtigkeit gehen Hand in Hand. In Kambodscha gibt es immer noch keinen echten Frieden; einer der Gründe dafür ist die Tatsache, daß sich dort infolge des totalen Fehlens einer Verantwortlichkeit eine Kultur der Straflosigkeit entwickelt hat.

Nürnberg verkörperte die Rhetorik des Fortschritts. Das Urteil von Nürnberg wurde in Rebecca Wests Worten verstanden als "eine Art legalistisches Gebet, daß das Himmelreich bei uns sein sollte". Es war vorauszusehen, daß dieses Gebet keine Erfüllung finden würde. Doch obwohl die in Nürnberg niedergelegten Vorschriften in den letzten fünfzig Jahren so unbarmherzig ignoriert wurden, sind sie doch nicht vergessen. Vielleicht werden sie jetzt, mit der Errichtung des internationalen Gerichtes in Rom, noch einmal in die Praxis umgesetzt. In Kambodscha, ebenso wie in Bosnien und Ruanda, müssen die Greueltaten der letzten Vergangenheit untersucht werden.

William Shawcross, Journalist, berichtet über Osteuropa und Südostasien.

Nagorno-Karabach

Verschickung von Zivilpersonen

Von Thomas Goltz .:: oben ::.

Japarna Miruzeva, 26, lebt mit ihren vier Kindern im Keller eines ausgebombten armenischen Hauses und meint, sie befinde sich damit in einer glücklichen Lage. Das finden auch die etwa hundert anderen Familien kurdischer Abstammung, die in den Ruinen etwa genauso vieler teilweise (und manchmal fast vollständig) zerstörter armenischer Häuser in Shariar leben, das einmal jedenfalls nach sowjetischen Standards, eine malerische Stadt war und berühmt für ihre Branntweinbrennereien. Sie ist von hügeligem Ackerland umgeben, das sich bis zu den Bergen der sogenannten Republik Berg-Karabach zieht - der vorwiegend von Armeniern bewohnten Region, die rechtlich immer noch zu der ehemaligen Sowjetrepublik Aserbaidschan gehört, sich aber 1992 abgespalten und zu einem unabhängigen Staat erklärt hat.

Das Leben in Shariar ist bestenfalls trostlos. Das Brunnenwasser ist brackig und schwer zu bekommen, Essen ist knapp, es gibt keine Ärzte, und die umliegenden Felder wurden zweimal vermint - einmal von den Armeniern, die sie einst bestellten, und dann von der aserbaidschanischen Armee, die die Stadt verteidigen muß, wenn die Armenier wieder kommen sollten, um sie zurückzufordern.

Aber Japarna Miruzeva und die anderen kurdischen Familien in Shariar glauben, daß sie keinen Ort haben, an den sie sonst gehen könnten. Sie hoffen immer noch auf eine Rückkehr nach Kelbajar, der Stadt, aus der sie von armenischen Kämpfern vertrieben wurden. Und sie wollen sich nicht wie Hunderttausende andere intern Vertriebene in die elenden Zelt- oder Güterwagen-Städte oder Mehrfamilien-Schulzimmer abschieben lassen, die über ganz Aserbaidschan verstreut sind.

Und trotzdem können die Miruzewas wenig oder gar keine Hilfe von der internationalen Gemeinschaft erwarten, da Shariar bei den internationalen Organisationen, die mit den Angelegenheiten der Flüchtlinge und intern Vertriebenen des Karabach-Konfliktes betraut sind, als Gefahrenzone gilt (das Amt des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge hält Städte wie Shariar für zu gefährlich, um seine Mitarbeiter und Vertragspartner dort arbeiten zu lassen).

Tatsächlich verstoßen die aserbaidschanischen Behörden, indem sie den kurdischen Flüchtlingen erlauben, in Shariar zu bleiben, vom völkerrechtlichen Standpunkt aus gegen eine ganze Reihe von Bestimmungen der Genfer Konventionen, die die Verlegung der eigenen Bevölkerung in eine besetzte Zone verbieten. Die Tatsache, daß diese kurdischen Familien nicht weggehen wollen und daß zumindest in diesem Fall eine Kluft zwischen der strengen Einhaltung des Völkerrechtes und der menschlichen Realität besteht, ändert nichts an der rechtlichen Situation.

Die Realität ist, daß es die aserbaidschanischen Regierungsbehörden in Baku praktisch finden, daß sich Kurden in den in Trümmern liegenden Städten und Dörfern an der Frontlinie zu den Armeniern in Nagorni-Karabach befinden. Den Kurden zu erlauben, in eine Zone zu ziehen, in der eine ethnische Säuberung stattgefunden hat, widerspricht dem Recht der Genfer Konventionen, das in zwischenstaatlichen Konflikten gilt. "Die Besatzungsmacht darf nicht Teil ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet verschleppen oder verschicken", heißt es in Artikel 49 der Vierten Genfer Konvention. Tatsächlich stellen "Einzel- oder Massenzwangsverschickungen sowie Verschleppungen von geschützten Personen aus besetztem Gebiet" eine schwere Verletzung oder ein Kriegsverbrechen dar. Selbst bei einem innerstaatlichen Konflikt gilt gemäß dem Zweiten Zusatzprotokoll von 1977: "Die Verlegung der Zivilbevölkerung darf nicht aus Gründen angeordnet werden, die in Zusammenhang mit dem Konflikt stehen."

Wenn die Sicherheit von Zivilpersonen oder "zwingende militärische Gründe" wie die Verschiebung einer Front es erfordern, dann kann die Bevölkerung vorübergehend evakuiert werden, muß aber zurückgebracht werden, wenn eine Entschärfung der Krise eintritt. Artikel 17 des Zweiten Zusatzprotokolls besagt: "Muß eine solche Verlegung vorgenommen werden, so sind alle durchführbaren Maßnahmen zu treffen, damit die Zivilbevölkerung am Aufnahmeort befriedigende Bedingungen in bezug auf Unterbringung, Hygiene, Gesundheit, Sicherheit und Ernährung vorfindet."

Die aserbaidschanische Regierung hat keine dieser Anforderungen erfüllt und internationalen Organisationen wie dem Halo Trust sogar die Räumung der Minen in dem Gebiet untersagt, was einen eindeutigen Verstoß gegen die Verpflichtung der Unterzeichnerstaaten der Genfer Konventionen darstellt, nach denen gemäß Artikel 49 der Vierten Konvention Nichtkombattanten nicht in einer "den Kriegsgefahren ausgesetzten" Gegend zurückgehalten werden dürfen.

Bei den Nürnberger Prozessen, die den Genfer Konventionen von 1949 vorausgingen, wurden mehrere Vertreter der Nazi-Regierung wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit verurteilt, weil Zivilpersonen aus besetztem Gebiet als Sklavenarbeiter nach Deutschland verschleppt und Deutsche zur Neuansiedlung in besetztes Gebiet verlegt worden waren. Das Urteil gegen verschiedene Angeklagte erwähnte allerdings nur die Deportationen, nicht die Neuansiedlungen.

Die offensichtliche Lücke im heutigen Recht besteht darin, daß bei zwischenstaatlichen bewaffneten Konflikten das Recht nicht für ein Land gilt, das seine eigenen Angehörigen aus Flüchtlingszentren oder Zentren für intern Vertriebene, die in relativ friedlichen Gegenden des Landes liegen, in Gebiete in Frontnähe verlegt. Und das Problem wird akuter, wenn die Betreffenden nicht gezwungen werden, in solche Gebiete zu ziehen, sondern es freiwillig tun.

Wie ein Mitarbeiter einer internationalen Hilfsorganisation sagte: "Wenn eine Familie, die in Armenien oder Aserbaidschan in einem schmutzigen Eisenbahnwaggon lebt, beschließt, ihr schrecklicher Flüchtlingsstatus sei am schnellsten zu beenden, indem sie ihr Schicksal in die eigenen Hände nimmt und anfängt, die Wand eines Hauses wieder aufzubauen, das jemand anderem gehört, sich inzwischen aber auf der ´freundlichen' Seite der Frontlinie befindet, wer sollte ihnen dann sagen, das dürften sie nicht? Vor dem Hintergrund der menschlichen Not wirkt das rechtliche Dilemma absurd.

Thomas Goltz ist Journalist und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit den Ländern der ehemaligen Sowjetunion und der Türkei.


Siehe auch:
* www.gfbv.it: www.gfbv.it/3dossier/armeni/010720armeni.html | www.gfbv.it/3dossier/eu-min/zuelch.html | www.gfbv.it/3dossier/eu-min/zuelch1.html | www.gfbv.it/3dossier/eu-min/zuelch2.html | www.gfbv.it/3dossier/rom-dt.html

* www: www.crimesofwar.org | www.ess.uwe.ac.uk/genocide.htm | www.ifhv.de

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