Von Mateo Taibon
Bozen, 30. November 2005
Liebe Leserinnen und Leser,
Meine Muttersprache beherrsche ich - so halbwegs. Denn lernen
musste ich sie allein, autodidaktisch. In der Schule habe ich
meine Sprache nicht gelernt. Wie alle Angehörige der
ladinischen Minderheit lernte ich in der Schule die Sprache in
einem völlig unzureichenden Ausmaß. Eine Wochenstunde
für die Muttersprache war das große Privileg des viel
gelobten "Minderheitenschutzes", das den Ladinern in
Südtirol zuteil wurde.
Mittlerweile hat sich die Lage freilich wesentlich verbessert.
Hervorragende zwei Stunden pro Woche wird die Muttersprache in
den Pflichtschulen unterrichtet; in den Oberschulen ist es
weiterhin eine einzige Wochenstunde. Dies übrigens nur in
den ladinischen Tälern, denn außerhalb ist Ladinisch
selbst als Freifach nicht zugelassen - Spanisch oder
Französisch ja, Ladinisch aber nicht. Selbst dieses
Aschenputtel-Dasein musste gegen eine hartnäckige,
Jahrzehnte lange Verleumdungskampagne erkämpft werden: Der
politische Wille war der, eine rein deutsche Schule zu erzwingen.
Ohne Muttersprache. Zwecks Assilimierung, genauer gesagt,
Germanisierung - ein Geschichtskapitel, das in der
Geschichtsschreibung versteckt wird. Die Kenntnis der
Muttersprache ist, der Situation entsprechend, bei der
überwiegenden Mehrheit der Ladiner katastrophal, die Sprache
ist einer starken Erosion ausgesetzt. Sie ist bedroht.
Wo eine Mehrheit eine Minderheit assimilieren will, beginnt sie
mit der Schule - mit dem Ausschluss der Muttersprache. In halb
Europa ist assimilierender Nationalismus am Werk, still aber
effizient: Zahlreiche Minderheiten Europas, denen das Grundrecht
auf ihre Sprache und Kultur im Erziehungswesen nicht zugestanden
wird, sind bedroht.
Mit einer Sprache sterben nicht nur Worte. Es sterben auch
Vorstellungswelten, Weltanschauungen, Gemeinschaftsmodelle,
Lebensauffassungen, Traditionen. Vor allem außerhalb
Europas wird mit der Verweigerung des Unterrichts der Sprache und
Kultur der indigenen Gemeinschaften ein Jahrtausende altes Erbe
wegassimiliert - oft auch weggeprügelt. Denn zur kulturellen
Gewalt gesellt sich häufig die politische und
militärische Gewalt. Die Mapuche werden immer noch nach der
Ideologie des Diktators Pinochet traktiert, mit Hilfe
diskriminierender Gesetze, die für die Indigenen die freie
Meinungsäußerung und die Einforderung ihrer Rechte mit
Terrorismus gleichsetzen. Die nordamerikanischen Indianer konnten
erst in jüngster Zeit das Recht auf eine normale
Schulbildung erlangen.
Der Weg ist der eines zwei- bzw. mehrsprachigen und
interkulturellen Unterrichts, damit Indigene und Minderheiten auf
der einen Seite ihre eigene Kultur in die Zukunft mitnehmen
können, auf der anderen Seite aber das Rüstzeug
mitbekommen, um im Kontakt mit der globalisierten Welt bestehen
zu können. Interkultureller Unterricht wäre auch
für die Mehrheiten notwendig, die häufig völlig
ahnungslos sind, was ihre anderssprachigen Nachbarn betrifft und
dementsprechend Klischees und Vorurteilen anhängen. Die
Angehörigen der Minderheiten sind fast immer zwei- oder
mehrsprachig: Sie sind es, die den Weg zeigen für die
kulturelle und sprachliche Vielfalt.
Ihr
Mateo Taibon
Aus pogrom-bedrohte Völker 233 (5/2005)