Von Marco Oggianu. Übersetzung von Mateo Taibon.
Bozen, 21. Dezember 2006
Sardinien ist nicht Italien, doch die Selbstbestimmungsbestrebungen bleiben ohne Widerhall. Eine persönliche Darstellung.
Oristano, 4. Februar 2004. Staatspräsident Carlo Azeglio
Ciampi, auf einem offiziellen Sardinienbesuch, will in die
Präfektur eintreten. Neben der italienische Fahne und der
EU-Flagge weht, wie von einem Regionalgesetz 1999 vorgeschrieben,
die sardische Fahne mit den vier Mohren. Den ansonsten
zurückhaltenden Präsidenten stört dieser Umstand,
und so lässt er mit dem Vorwand, für die Fahne des
italienischen Staates Platz zu machen, die sardische Fahne
entfernen. Die italienische Staatseinheit ist gerettet.
Cagliari, 9. Januar 2004. Um den Besuch des
Staatspräsidenten angemessen vorzubereiten, lässt der
Bildungsassessor der Gemeinde an alle Schulen italienische Fahnen
verteilen, um vor allem unter den jungen Leuten, so seine
Begründung, "die Werte der Vaterlandsliebe" zu verbreiten.
Dass die Heimat der Sarden Sardinien ist und ihre Fahne jene der
vier Mohren, kümmert den Politiker nicht.
Cagliari, 31. Januar 2004: Anlässlich der Einweihung von
vier Kriegsschiffen der italienischen Marine schränkt
Verteidigungsminister Antonio Martino den Landtag und selbst die
Autonomie Sardiniens zur Dekoration ein: Die anwesenden
gewählten Vertreter des sardischen Volkes werden in die 3.
Reihe gesetzt. Der Höhepunkt aber kommt bei der
Pressekonferenz danach. Auf die Frage eines Journalisten zur
einer möglichen Vergrößerung der NATO-Basis auf
der Insel Maddalena vor der nordöstlichen Küste der
Insel, antwortete der Minister, trotz gegenteiligen Beschlusses
des Regionalrates: "Es gab fünf Enthaltungen, der
Unterschied zwischen Gegner und Befürwortern betrug
lediglich fünf Stimmen. Das erscheint mir ein bisschen zu
wenig, um von "Sarden" zu sprechen. Die Präsenz dieser
Personen [die amerikanischen Militärs, Anm. d. Red.] bringt
Wohlstand und erlaubt uns, viele wirtschaftliche Ressourcen
einzusparen. Wir haben Alliierte, die Geld ausgeben, um auch uns
zu schützen".
Über diese Angelegenheit erschienen einige Zeilen in einigen
der wichtigsten Tageszeitungen. Wortreiche Zeilen - nach mehr als
einem Jahrhundert der politischen, gesellschaftlichen und
militärischen Besetzung der sardischen Insel ist die Haltung
des italienischen Staates und seiner Medien gegenüber seiner
größten Minderheit die Geschwätzigkeit. Es
ändern sich die Zeiten, die Worte, die Substanz aber kaum.
"Seid still, ihr seid Italiener", hätte man vor wenigen
Jahren gesagt. Heute spricht man von logistischen Angelegenheiten
und von Vaterlandsliebe.
Sardinien ist nicht Italien. Die Geographie verdeutlicht es, die
Geschichte verdeutlicht es, Sprache und Kultur ebenfalls. Die
Sarden sind nicht Italiener, sie waren es nie. Auch dann nicht,
als Hunderte von Ihnen in den Dolomiten, am Piave, in der
Wüste Afrikas oder im Schnee von Stalingrad für eine
Heimat kämpften, die nicht die ihre war in einem Krieg, der
nicht der ihre war. Auch dann nicht, als sie für Jahrzehnte
Parteien ankreuzten, die nicht die ihren waren. Nicht einmal, als
sie von oben verordnete, katastrophale Wirtschaftspläne
akzeptierten, die sie zur Massenauswanderung in die Städte
Oberitaliens zwangen. Auch heute nicht, wo sie sich (in der
Minderheit) den Leuten von Berlusconi oder Prodi anvertrauen -
oder auch keinem von beiden: Es sind die Statthalter einer
ausländischen Macht.
Sardinien wurde auch dann nicht Italien, als die Sarden die
Erdöl-Industrie akzeptierten: Fabriken für die
Umweltverschmutzung, Gesundheitsschädigung und
Arbeitslosigkeit. Alle waren sich einig: Gut betuchte
Stammwähler der "Democrazia Cristiana", um ihre
kapitalistische Klientel zu befriedigen, Kommunisten und
Gewerkschaftler, um sich eine Arbeiterschaft dort einzupflanzen,
wo es nie eine Arbeiterschaft gegeben hatte. Wie diese
gegensätzlichen Kräfte gesamtstaatlich getrennte Wege
gingen, so verfolgten sie auf Sardinien den gleichen Weg - mit
entsprechender Verehrung der Tricolore, der italienischen
Nationalflagge. Auch wer anderswo die Nation und ihre Flagge
ablehnte, auf Sardinien hielt er seine Flagge hoch. Die Sprache
von Dante und Manzoni war Kultur, der Rest Unkultur. Auch wenn
der Faschismus offiziell zu Ende war.
Was der Faschismus von Anfang an ohne Erfolg in Südtirol
versucht hatte, wurde auf Sardinien mit Erfolg durchgeführt:
Den "Barbaren" die römische Zivilisation bringen, die
Sprache von Dante und Manzoni, die Nationalhymne, die
Nationalflagge. Und eine Region mit einer eigenen Identität
zu einer verbotenen Nation herabwürdigen. Auch mit Hilfe der
Wirtschaft, mit dem Instrument der Minderwertigkeit aufgrund der
Arbeitslosigkeit und Auswanderung.
Damals hatten die Sarden nur eine Partei. In diese einzige Partei
hatten sie auch, zum Teil geglaubt. Es war der Partito Sardo
d'Azione. Eine Hoffnung war es, wie die Partei von Giuseppe
Mazzini einmal eine Hoffnung für Italien gewesen war. Der
Held der Insel hieß Emilio Lussu. Der Krieg, der politische
Kampf, das Gefängnis, die abenteuerliche Flucht, wieder
Krieg, der Sieg, die triumphale Rückkehr: alles schien die
großen Taten seiner Vorgänger zu wiederholen, auf dem
Weg zur Freiheit des Volkes. Doch dann, im entscheidenden Moment,
gibt der Stammesführer der Nuraghen, als den er von vielen
gesehen wurde, seinen Weg auf und schwört dem Staat Italien
die Treue. Man weiß nicht, aus welchem Grund, ob aus Angst
oder aus Opportunismus. Man müsse, so sagte er nun, das Land
wieder aufbauen, als Sarden, Italiener, Europäer, vor allem
aber als Italiener: Lussu glaubte an ein sozialistisches und
föderalistisches Italien, auch dann noch, als es längst
deutlich war, dass das Land christdemokratisch und zentralistisch
sein würde. Aber Lussu kümmerte sich nicht darum. Er
war ein Italiener, der sich als sardischer Patriot ausgab. Er
sprach auch Italienisch - immer. Er schrieb Italienisch - immer.
Es war so, als hätten Garibaldi und Mazzini Deutsch
gesprochen. Könnte man sich den Risorgimento, die
italienische Einigung, auf Deutsch vorstellen? Lussu tat genau
das: einen sardischen Risorgimento auf Italienisch. Es lag in der
Natur der Dinge, dass er sich - sobald es zu ernst wurde, als es
wirklich zum Kampf für die Unabhängigkeit hätte
kommen können - als erster zurückzog. Die Partei brach
auseinander, Sardinien wurde christdemokratisch: eine
lächerliche Autonomie, bei der Steuern, Sanität und
Schule fest in der Hand Roms blieb. Die Autonomie wurde von der
gesamten Politklasse passiv akzeptiert, Partito Sardo d'Azione
mit eingeschlossen.
Einzige offizielle Sprache wurde Italienisch. Sardisch - mit
seinen verschiedenen Idiomen - blieb die Sprache für Hof und
Stall. Die Assimilierung ging unentwegt weiter, die massive
Einwanderung durch Italiener "zivilisierte" die Insel. Nur das
Gebeit Barbagie, der älteste Teil der sardischen
Zivilisation, widerstand. Wie schon immer. Hier hat man die
höchste Wahlenthaltung ganz Italiens, vielleicht Europas,
mit Dörfern, die seit Jahrzehnten ohne Bürgermeister
sind. Die Straßenschilder sind nur italienisch und von
Kugeln der Balentes durchlöchert, dies in allen Dörfern
des Gennargentu und des Supramonte - es ist die klarste Antwort
auf Ciampi und seine Heimat, an den Assessor und seine Heimat, an
den Minister und seine Besatzungstruppen. Eine sardische Antwort,
solange diese Sprache als Sprache von Tagelöhnern, Hirten
und eben auch Gaunern eingestuft wird, die aus der Schule, aus
der öffentlichen Verwaltung und aus der offiziellen Kultur
ausgeschlossen bleibt.
Für den Rest der Insel kann die Missionierung als vollendet
angesehen werden. Die mittlerweile zu Ruinen gerosteten
Raffinerien, Kathedralen in der Wüste und Denkmäler der
Subventionierungspolitik, machen langsam den
Tourismus-Klöstern Platz: Hotels, Villen, Residences.
Für die Sarden ändert sich im Grunde nichts: Die
Firmenbosse kommen von auswärts, das Personal zum
größten Teil auch, die in den VIP-Bereichen (Costa
Smeralda) verkauften Produkte kommen größtenteils von
der italienischen Halbinsel, die Reiseunternehmen ebenfalls. Es
geht nicht um den freien Markt. Es geht um Tausende von
sardischen Arbeitslosen, die auswandern müssen, während
ihr Land von außen bewirtschaftet wird. Ganze Dörfer
gehören den Alten, Jugendliche suchen Trost für den
öden Alltag in Drogen und Alkohol, während an der
Küste der Wohlstand einiger weniger Privilegierter
(steuerfrei) eingezäunt wird.
Das ist Kolonialismus. Im 21. Jahrhundert, mitten in Europa. Es
ist ein Kolonialismus auch im Kulturellen: Italienisch ist die
Sprache der Medien, der Politik der Schule, der Universität,
der Kultur. Und der Arbeit und des Gewinns. Auch wenn eine
Anstellung häufig eine Illusion bleibt. Man spreche also
Italienisch, wenn auch mit starkem Akzent, mit einer geradezu
schmerzhaften Grammatik - aber Italienisch: Die Sprache der
Unterdrückung. Das Sardische jedoch, die Sprache, die so
viele Wissenschaftler fasziniert hat, die von allen
Universitäten der Welt als solche anerkannt wird, die selbst
durch ein Staatsgesetz anerkannt wurde, bleibt auf der Ebene
eines Dialektes festgenagelt. Oder besser: mehrerer Dialekte.
Verschiedene Varianten einer sprachlichen Einheit, die man um
jeden Preis verhindern will. Man befürchtet nämlich,
dass der sprachlichen Einheit die politische folgt. Und da kommt
dann das Problem wieder zum Vorschein, das der
Staatspräsident mit der Entfernung einer Fahne aus dem Weg
geräumt wähnte.
So gibt es eine endlose Reihe von Debatten, Diskussionen,
Dossiers, Kommissionen, Institutionen: ausschließlich auf
Italienisch. Kann eine sardische Standard-Sprache entstehen, wo
nur Italienisch gesprochen wird? Wo italienisch gestritten wird?
Wäre es nicht besser, die Standard-Form, die alle Dialekte
des Sardischen in sich vereint, gleich an den Schulen
auszuprobieren? Wäre es nicht besser, so rasch als
möglich so viele Lehrer wie möglich für den
Sardisch-Unterricht auszubilden? Wäre es nicht besser,
Fernseh- und Radioprogramme und Zeitungen in sardischer Sprache
sowie Kulturzentren zu fördern? Doch stattdessen wird
diskutiert und gestritten und wertvolle Zeit verloren,
während in den sardischen Schulen eigens dafür
hergeschickte italienische Lehrer eine fremde Sprache, Kultur und
Geschichte beibringen. Die sardischen Schüler lernen viel
über die Medici, Scaligeri oder Borgia, aber nichts
über die eigene Geschichte, über die eigene Sprache und
Kultur.
Die Rechnung geht auf. Es fehlen die sardischen Parteien, die die
Eigenständigkeit zum Programm machen (wie die SVP in
Südtirol oder die Union Valdotene in Aosta), es fehlt ein
Plan für die Zusammenführung der sardischen Dialekte in
eine sardische Schriftsprache - und es fehlt das Engagement
für eine wirksame Autonomie. Ein banales Detail: Bozen,
Trient und Aosta haben auf den Autokennzeichen das eigene Wappen
- Sardinien nicht. Rom hat im Namen der italienischen Einheit
nein gesagt, und die sardischen Politiker haben sich für
ihren Vorschlag entschuldigt. Südtirol und Aosta haben einen
sicheren Sitz in Brüssel, Sardinien teilt den Wahlkreis mit
Sizilien. Die sardischen Politiker schwiegen und gehorchen. Das
Gehorchen haben sie nämlich gelernt - und nicht nur die
Politiker, sondern auch die Journalisten, die Lehrer selbst, die
Universitätsprofessoren, die Intellektuellen. Und die
Priester. "Canes de Istelzu" - tellerleckende Hunde nennt sie der
Schriftsteller Franziscu Masala. Die "Elite", die Minderheit der
Intellektuellen haben die Sprache einer Fremdmacht angenommen und
mitgeholfen, den Rest der Bevölkerung kulturell, sprachlich
und politisch zu unterjochen. Wer dieses Verhalten missbilligt,
wird als Extremist hingestellt oder gar als Terrorist. Und
dennoch, unter der Asche ist die Glut noch nicht erloschen.
Einige Idealisten haben sie am Leben erhalten. Seit ungefähr
zehn Jahren blüht eine Musikszene auf, die sich
ausschließlich der sardischen Sprache bedient. Es sind dies
die berühmten Tazenda, die Cordas und Cannas, Kenze Neke,
Istentales, Askra oder auch Favata, Elena Ledda, Piero
Marras.
Einen Aufschwung erleben auch das Theater, die
Literaturwettbewerbe. Mit großen Zuspruch des Publikums.
Die sardische Doppelflöte "Launeddas" oder die sardische
Ziehharmonika schaffen das, was die Politik nie geschafft hat:
Die Gemeinschaft lebt wieder auf in den Dörfern; es werden
Kulturvereine gegründet und politische Gruppierungen;
Schriftsteller schreiben nicht nur Gedichte oder
Erzählungen, sondern auch Romane in sardischer Sprache. Der
Prozess ist langsam und erfasste bisher nur eine Minderheit, aber
die Entwicklung ist vielversprechend.
Falsch ist die Annahme, dass die chronischen Probleme Sardiniens
nicht von ethnischen Faktoren abhingen. Es liegt im Interesse des
Staates, die Insel in einem Stadium der Unterentwicklung zu
belassen, um Abhängigkeit zu schaffen und so separatistische
Neigungen zu vermeiden. Die Vorgangsweise ist typisch für
eine Kolonialmacht. In allen Bereichen werden die Posten von
einer Lobby besetzt, deren Treue gegenüber dem Zentralstaat
sicher ist, dazu kommen Filz und Privilegien. Wer sich
widersetzt, ist ausgeschlossen. Das einzige Kriterium ist nicht
Eignung, nicht Fähigkeit, sondern ausschließlich die
Treue gegenüber dem Nationalstaat, was einen katastrophalen
Bildungsstand der führenden Klasse zur Folge hat. Die
fehlenden Infrastrukturen, die halb ausgeführten
öffentlichen Bauten, Bauspekulation, Umweltzerstörung,
Auswanderung der Intellektuellen und schlussendlich die fehlende
Auflehnung gegen die schlechte Lage - all dies hat hierin seine
Wurzeln.
Aus pogrom-bedrohte Völker 239 (5/2006).