Von Mateo Taibon
Bozen, 6. November 2005
Ein Mensch wird in aller Öffentlichkeit ausgeraubt. Das
Gericht befragt nur den Dieb, der freilich alles abstreitet und
sich sogar als Wohltäter ausgibt, übernimmt ohne
weitere Fragen dessen Version und verprügelt zu guter letzt
das Opfer wegen Verleumdung. Auch Zeugen des Vorfalls werden
nicht angehört. Das ist doch nicht Rechtsstaat, das ist
unserer Zivilisation nicht würdig - die Reaktion auf ein
solches Vorgehen wäre sicher die helle Empörung. Und
doch geschieht dies tagtäglich in unserer Gesellschaft, ohne
dass sich die Öffentlichkeit regt, ohne dass es Protest gibt
oder Hilfe für das Opfer. Ohne dass die Vorfälle
überhaupt zur Kenntnis genommen werden.
Das geschilderte Verhalten wird tagtäglich von unseren
westlichen, freien Medien eingenommen (und mit ihnen von
Wirtschaft und Politik, aber das steht nicht zur Debatte): nicht
ausnahmslos, aber mit bedauerlicher (und beschämender)
Häufigkeit. Und mit erstaunlicher Gedankenlosigkeit.
Journalismus wäre "kritische Information" ("informazione
critica"), so die Definition der italienischen
Journalistenkammer: Meldungen sollten hinterfragt, analysiert und
auf ihren Wahrheitsgehalt hin untersucht werden, Stellungnahmen
von Politikern überprüft und an den Tatsachen gemessen
sowie andere Standpunkte eruiert werden. Auch die Gegenseite soll
befragt werden, nicht zuletzt, wenn es um die Opfer von Unrecht
und Verbrechen geht. Inakzeptabel und gegen die Ethik des
Journalimsus ist es, nur die Meinung des Täters einzuholen,
aber das Opfer zu übergehen.
Wenn es um die Benachteiligten dieser Welt geht, geschieht dies
häufig nicht. Indigene beziehungsweise Ureinwohner (meistens
gehören sie zu den untersten sozialen Schichten),
Angehörige von ethnischen und religiösen Minderheiten,
Flüchtlinge - allesamt Entrechtete - werden zu ihrer Lage
kaum befragt. Befragt werden Regierungen und Konzerne, die
für die miserable Lage dieser Menschen verantwortlich sind,
die Probleme aber leugnen und Kritik und Proteste auch noch
kriminalisieren: Befragt werden also nur die Täter, die
Opfer jedoch werden übergangen oder auch - in der
Übernahme der Version der Täter - verleumdet.
Ursachen hierfür gibt es mehrere, was indes keine
Rechtfertigung ist für ein Verhalten, das dem Anspruch des
Journalismus nicht gerecht wird. Ein wichtiger und vor allem
vordergründiger Grund ist wirtschaftlicher Natur. Viele
Zeitungen arbeiten mit wenig Personal, der Hauptzustand der
Journalisten ist jener der Eile. So werden eintreffende
Agentur-Meldungen übernommen: kopiert und (kaum
verändert) eingefügt, also weder hinterfragt noch
ergänzt um einen anderen Standpunkt, erst recht nicht auf
die Richtigkeit der Aussagen überprüft. Die Mitarbeiter
der Agenturen, von denen viele der Meldungen kommen, sitzen meist
in den (Haupt-)Städten. In die Peripherie begeben sie sich
selten. Oder aber die Meldungen werden von den großen
(politisch konformen) Medien eines Landes übernommen. So
kommen Indigene und ärmere Bevölkerungsteile, Opfer von
Diskriminierung, Rassismus und Polizei-Übergriffen sowie von
Umweltzerstörung selten zu Wort.
Die Entrechteten haben kaum Pressestellen - und damit sind wir
bei einem weiteren Grund. "Nachrichten schreiben" beschränkt
sich immer wieder auf die Wiedergabe von Stellungnahmen. Vor
allem im Bereich "Ausland" wird der größere Teil von
Agenturenmeldungen abgedeckt. Die Kommunikationsplattformen von
Indigenen, Minderheiten haben - international gemessen - eine
geringe Reichweite und werden nur von ausgewählten Medien
berücksichtigt.
Unsere satte Gesellschaft hat aber auch oft die hinterfragende
Haltung verloren. Medien zitieren, hinterfragen nicht,
prüfen nicht. Behauptungen von Regierungen oder aber
Konzernen werden immer häufiger ohne Zusatz oder
Wiederspruch wiedergegeben, sprich kopiert. Übernommen wird
auch die Terminologie; so werden Indigene, die ihre Rechte
einfordern, als "Rebellen" bezeichnet. Eine Ursache des
unkritischen Übernehmens liegt in unseren Ländern
selbst: Kritischer, unabhängiger Journalismus hat es auch
hierzulande schwer. Man muss nicht die Einflussnahme Silvio
Berlusconis auf die Medien zitieren, es reicht auch ein Blick
nach Bozen.
Hindernis Ideologie
Das Thema wird nicht gerne angesprochen, aber es gibt die Zensur
auch in den europäischen Medien. Zensur nicht von
außen, sondern von innen, von der Chefetage - "Filterung",
oder "Selbstzensur", willentliche ideologische Verzerrung durch
den Journalisten, wie auch immer: Meldungen, Fakten, Standpunkte
werden unterschlagen, dem Leser vorenthalten. Umsonst wird man
sich von einem "Giornale" des Herrn Berlusconi erwarten, dass
Menschenrechtsverbrechen rechtsgerichteter Regime behandelt
werden, umsonst von konservativen Medien allgemein eine Anklage
gegen das Unrecht, das von vielen europäischen Konzernen
mitgetragen wird und das die Wirtschaft "belebt". Entsprechend
ist die Berichterstattung über diese Länder und deren
soziale Realität eine beschönigende - und häufig
folkloristische. Häufig mit dabei - und dies besonders in
Süditrol - das pharisäische Weltbild: "Wir sind so gute
Menschen, wir helfen den armen Menschen". Doch wehe, diese armen
Menschen bekennen sich zu einer falschen Ideologie - da sind es
dann "Rebellen".
Ähnlich ist auch die linke Medienlandschaft nicht frei von
Verzerrungen. Es gibt auch hier die Bereitschaft, Verbrechen
ideologisch verwandter Regime zu verharmlosen und die Tendenz,
die Realität in diesen Ländern beschönigend
darzustellen. Jenseits von Gut und Böse sind jene
Journalisten, die von einer Konfliktpartei "eingebettet" werden,
so dass sie nur ein partielles Bild der Wirklichkeit sehen - wie
sollen sie dann nicht partiell berichten. Es ist die
Rückkehr von Zensur auf einem Umweg.
Reportagen
Es gibt sehr wohl auch die vertiefende, hochwertige
Berichterstattung - Reportagen in Wochenzeitungen oder
wöchentlichen Beilagen, oder auch in Fernsehmagazinen:
ausgefeilte, gut recherchierte Berichterstattung, die Unrecht
anspricht, deren Opfer zu Wort kommen lässt. Auffallend sind
die wöchentlichen Frauenmagazine zweier großer
italienischer Tageszeitungen, die sich immer wieder durch
engagierte Berichterstattung auszeichnen: Neben Seiten mit
Werbung, Wellness und Beauty liest man interessante Reportagen
über veschiedene, entrechtete Völker der Erde.
Der alles dominierende Markt schränkt mit dem Argument der
Nachfrage die Pressevielfalt und -freiheit stark ein: Die
Nachfrage nach diesem Qualitätsjournalismus ist nicht so
groß wie bei der leichteren Kost, die Breitenwirkung
deutlich geringer. So beklagte ein großer italienischer
Journalist - Giulietto Chiesa -, dass die Zeitungen an seinen
Berichten aus Tschetschenien immer weniger interessiert seien.
Stanley Greene hat unter Lebensgefahr - seine Unterkunft war ein
Keller - beeindruckende Fotos vom zerbombten Grosny gemacht, die
jedoch wenig Abnehmer in der Presse fanden: So findet ein
Völkermord statt - und die Weltöffentlichkeit schaut
nicht hin. Ähnlich war es im Darfur: Die häufigen
Pressemeldungen von NGOs (wie der Gesellschaft für bedrohte
Völker) verhallten lange ungehört. Irgendwann aber
schreckte die Presse auf und tat ganz erstaunt über den
Konflikt: Die Zahl der Toten war mittlerweile auf 70.000
gestiegen, jene der Flüchtlinge beziehungsweise der
Vertriebenen auf fast zwei Millionen. Die Pressemitteilung zur
pogrom-Sondernummer zum Thema war gar nicht beachtet
worden.
Die Journalisten der Standard-Presse sind derart auf
"Prominenten"-Sympton gedrillt, dass sie häufig warnende
Stimmen gar nicht mehr hören wollen.
Fachmedien
Es gibt Medien, die sich der Angelegenheiten der Indigenen,
Entrechteten, Diskriminierten annehmen - wie auch der
OEW-Rundbrief Eine Welt oder die Zeitschrift bedrohte
Völker/pogrom. Getragen werden sie in der Regel von
Nichtregierungsorganisationen (NGOs), zum Teil aber auch von
Kirchen- und Missionsdiensten. Diese Medien lassen vielfach nur
die Betroffenen zu Wort kommen. Ethisch sind sie zumeist
hochwertig, journalistisch aber immer wieder ein wenig unter dem
Niveau der großen Medien, nicht zuletzt deshalb, weil die
finanziellen Mittel beschränkt sind. Vor allem in der
Aufmachung und im Marketing können diese Medien nicht mit
den Standard-Medien konkurrieren. Die Autoren sind meist sehr
engagiert und widmen sich der Angelegenheit aus voller
Überzeugung. Die Verbreitung dieser Medien ist zumeist
jedoch relativ gering, die Leser auf einen Kreis beschränkt,
der für die Themenkreise bereits aufgeschlossen ist.
Ursache deckt sich mit Wirkung: Die manische Konsumhaltung des
Menschen, die viel Unrecht mitbewirkt, führt auch dazu, dass
die Berichterstattung über das Unrecht links liegen gelassen
wird.
Von Mateo Taibon