Bozen, 10. Mai 2002
Von Mirko Bogotaj
Unsere Freizeitgesellschaft ist nicht zuletzt von einer
täglichen beachtlichen Verweildauer der Bürger und
Bürgerinnen vor Fernsehschirmen und Radioapparaten
gekennzeichnet. Ziel und Chance der Rundfunkanstalten sollte es
sein, in diese Zeit, in diese besondere Form passiver
Freizeitnutzung die Wirklichkeit unserer (ererbten) Kultur auf
unauffällige und massenmedial konsumierbare Weise wieder
einzuführen, damit die unverzichtbaren Klänge,
Räume und Orientierungsmerkmale unseres menschlichen Seins
in diesem Europa auch selbstverständlicher Bestandteil
dieses Teils modernen menschlichen Lebens werden. Kulturelles
Erbe, nicht als Kulisse, nicht als Amüsement, sondern als
Chance, unsere eigene Vergangenheit neu, in
zeitgemäßer Form zu erleben, verstehen und fühlen
zu dürfen. Im zunehmenden Einerlei der internationalen oder
gar weltweiten Konfektion kommen auf diese - und wahrscheinlich
nur auf diese Weise neuen und eigenartigen Farben von
höchster Originalität und über die Region
hinausreichender Identität zustande, die der elektronischen
Kommunikation eine besondere Sinnhaftigkeit verleihen.
Kostspielige und sich radikal weiterentwickelnde Technik,
überhaupt die hohe Aufwändigkeit des Mediums Fernsehen
schaffen geradezu industrielle Hegemonien der Großen und
der ganz Großen in der Welt. Vielleicht ist in der
Europäischen Union so manches etwas weniger faul geworden.
Heute wissen wir, “small is beautiful", kann es aber auch
“profitable" sein? Nichtsdestotrotz haben viele Staaten die
Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen
unterzeichnet.
Auch das Rahmenabkommen. Die beiden Dokumente enthalten
Richtlinien und Maßnahmen zum Schutz von bedrohten
Sprachen. Untermauert wird das durch die Erkenntnis des
Europäischen Gerichtshofes, “die Existenz mindestens
einer Rundfunkstation, die in der Minderheitensprache sendet, zu
garantieren". Der erläuternde Bericht zur Charta hebt die
besondere Bedeutung der Medien bezüglich der
Minderheitensprachen hervor: “Der Platz, über den
Minderheitensprachen in den Medien verfügen, ist
ent-scheidend für ihr Überleben. Die
Minderheitensprachen können sich jedoch nur auf einen engen
kulturellen Markt stützen,... bedürfen
öffentlicher Unterstützung... Die Behörden handeln
auf diesem Gebiet vor allem dadurch, dass sie Initiativen
ermutigen und Mittel bereitstellen... Die Staaten verpflichten
sich, die Existenz mindestens einer Radiostation zu garantieren,
die ausschließlich oder zur Hauptsache in der
Minderheitensprache sendet. Unter den verschiedenen
Massenkommunikationsmitteln ist das Radio dasjenige, das für
Minderheitensprachen selbst mit geringer Verbreitung am
leichtesten zugänglich ist. Aus diesem Grund kann den
Staaten in diesem Punkt eine recht präzise Verpflichtung
abverlangt werden."
ITALIEN
Wie in Triest die slowenischen, im Aostatal die
französischen Programme, werden in Südtirol die deutsch
-bzw. ladinischsprachigen Programme der
öffentlich-rechtlichen RAI auf Grund des RAI-Reformgesetzes
aus dem Jahr 1975 ausgestrahlt. In diesem Gesetz werden
ausdrücklich den anerkannten sprachlichen Minderheiten in
Italien Hörfunk- und Fernsehprogramme zugestanden und durch
Konventionen zwischen der Regierung (die die Programme voll
finanziert) und der RAI geregelt. Hörfunk: Vollprogramme der
Südtiroler aus Bozen, der Slowenen aus Triest und der
Aostataler. Fernsehen: Deutsch: 10,5 Stunden wöchentlich,
Slowenisch 4 Stunden wöchentlich. Insgesamt beschäftigt
die RAI etwa 500 Angestellte in ihren Volksgruppenprogrammen.
SLOWENIEN
Für die italienische Volksgruppe in Slowenien (2.000 bei der
letzten Volkszählung) gibt es sowohl im Hörfunk als
auch im Fernsehen ein Vollprogramm aus Koper / Capodistria. Die
ungarische Volksgruppe in Lendava besitzt ein
Hörfunkprogramm - im Ausbau zum Vollprogramm - und sendet
wöchentlich 30 Minuten im Nationalen TV, 1. Programm.
Finanzierung aus den Gebühren.
UNGARN
Gute Schutzmaßnahmen, viel Verständnis und
Solidarität des nationalen MTV. Nationale Programme im
ungarischen Fernsehen: 30 Minuten pro Volksgruppe, regionale
Programme im Hörfunk und Fernsehen aus Budapest (Romanes,
Serbisch), Pecs (Deutsch, Kroatisch), Szeged (Slovakisch,
Rumänisch) und Szombathely (Slowenisch). Finanzierung:
Gebühren.
SLOWAKEI
Fernsehprogramme aus Bratis-lava für die Ungarn und Roma,
aus Kosice in Ukrainisch. Presov: Ukrainisch, Ruthenisch, Deutsch
und Roma. Sehr gutes Angebot in Ungarisch. Alle Programme
öffentlich-rechtlich, gute Bedingungen im Hörfunk,
politische Schwierigkeiten im Fernsehen.
TSCHECHISCHE REPUBLIK
Cesky rozhlos, die nationale öffentlich-rechtliche Anstalt
sendet in Deutsch, Slowakisch und Roma sowohl im Hörfunk als
auch im Fernsehen.
DEUTSCHLAND
Sorbische Redaktionen in Bautzen (MDR) und Kottbus gestalten
öffentlich-rechtliche Hörfunkprogramme auf eigener
Frequenz (Ausbauphase), die FS-Programme werden merklich
ausgebaut.
SCHWEIZ
Aus dem Studio Regiunal Rumantsch in Chur wird ein
Hörfunkprogramm in Rätoromanisch ausgestrahlt
(öffentlich-rechtlich, Ausbau zum Vollprogramm),
Rätoromanisch aus Chur wird über den Satelliten der SRG
verbreitet. Die Redaktion gestaltet bimedial auch FS-Programme
zur besten Sendezeit der SRG. Ein Paradebeispiel der
Eidgenossenschaft: Die beiden Programme werden durch den
Solidarbeitrag der deutschen, französischen und
italienischen öffentlich-rechtlichen Anstalten der Schweiz
finanziert.
SKANDINAVIEN
Gilt, sowohl was das Verständnis für die Bewahrung des
ethnischen Erbes anbelangt, als auch die konkreten
Maßnahmen für dessen elektronischen Schutz, als ein
europäischer Modellfall. Sowohl in Norwegen, Schweden und
Finnland gibt es vorbildliche Regelungen für die
Sami-Bevölkerung als auch andere Minderheiten. Die
öffentlich-rechtlichen Programme im Hörfunk und
Fernsehen werden von den Gebühren finanziert.
BELGIEN
Gut ausgebautes deutsches Hörfunkprogramm aus Eupen,
öffentlich-rechtlich auch deutsche Fernsehprogramme der
BRT.
HOLLAND
Friesische Hörfunk- und FS-Programme aus Ljouwert.
FRANKREICH
Befürwortet rechtlich heute noch die “lingua franca",
ohne den Status der sonstigen auf seinem Territorium schon lange
angesiedelten Sprachen zu berücksichtigen. Dennoch gibt es
eine Vielzahl der ethnischen Programme der
öffentlich-rechtlichen FR 3 (TV) als auch im Hörfunk.
Radio Pays, eine Rundfunkanstalt, deren Sendegebiet sich auf ganz
Groß-Paris erstreckt, bietet ihren Zuhörern eine
breite Palette von Programmen in Okzitanisch, Baskisch, Korsisch,
Katalanisch, Bretonisch, Elsässisch und Flämisch.
GROSSBRITANNIEN
Hervorragende öffentlich-rechtliche Versorgung in
Schottisch, Gälisch, Walisisch sowohl im Hörfunk als
auch im Fernsehen.
SPANIEN
Öffentlich-rechtlicher Modellcharakter.
POLEN
Gute Regional-TV-Programme (international beachtenswert) des
öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Katowice / Kattowitz
(Deutsch), Gdansk/ Danzig (Kashub), Rzesow (Ukrainisch, Lemk,
Jiddisch, Griechisch), Wroclaw / Breslau (Roma, Deutsch,
Weißrussisch, Jiddisch) und besonders in Krakow / Krakau
(Weißrussisch, Roma, Tschechisch, Slowakisch,
Ukrainisch).
KROATIEN
Fernsehen für alle Volksgruppen zentral aus Zagreb und
regional aus Rijeka (italienisch). Hörfunkprogramme
außerdem aus Daruvar Tschechisch), Pula, Rijeka
(italienisch) und Osijek (ungarisch).
JUGOSLAWIEN
Hervorragende öffentlich-rechtliche Volksgruppenprogramme in
der Vojvodina. Vollprogramm Hörfunk für die Ungarn
(Novi Sad, Subotica), eine Stunde FS - täglich aus Subotica,
mehr noch aus Novi Sad, sowie tägliche Programme in
Rumänisch, Slowakisch, Ruthenisch. Wöchentliche
Roma-Sendungen. Programme in Bulgarisch aus Nis und Caribrod. 16
weitere ethnische regionale Programme. Finanzierung: ein
verpflichtender Anteil aus der Stromgebühr. Die Albaner in
Kosovo-Gebiet boykottieren derzeit die staatlichen Programme im
Rundfunk und Fernsehen.
MAZEDONIEN
Sehr gut ausgebautes öffentlich-rechtliches Netz im
Hörfunk und Fernsehen für die Albaner, Türken,
Roma und Vlachi.
ÖSTERREICH
Der Diskussionsprozess in Österreich krankt bisher an zwei
verfehlten Ansätzen: Erstens verhandelt die Staatsraison
(und der nationale Rundfunk) mit sich selbst, denn die andere
Seite, nämlich die ethnischen Minderheiten, wird nicht an
der Diskussion beteiligt. Der Volksgruppenschutz hat auszugehen
von der Tatsache, dass eine formelle Gleichbehandlung der
nationalen Minderheiten und nationalen Mehrheiten nicht
ausreicht, um das Diskriminierungsdilemma von Demokratie und
Menschenrechten zu lösen. Denn im Genuss der Menschenrechte
und politischen Grundfreiheiten sind Mehrheit und Minderheit
unterschiedlichen Bedingungen unterworfen. Aber - die Spaltung
der Mehrheit und Minderheit in einen “modernen" Sektor mit
hochentwickelten Informationstechniken und
Unterhaltungselektronik und einen immer mehr
zurückbleibenden Teil in der zweiten Landessprache
vergrößert das Gefälle. Sprachen müssen sich
stetig den Erfordernissen der Zeit anpassen, wenn sie nicht
veralten wollen. Was bei großen, die von Millionen von
Menschen gesprochen werden, sozusagen automatisch geschieht,
erfordert bei Kleinsprachen einen besonderen Einsatz. 30 Minuten
FS-Programm wöchentlich erfüllen nicht mehr als eine
Alibi-Funktion. Die Gestalter der Programme können
allenfalls Chronisten sein und können die Vorteile der
beiden Medien aufgrund der Kürze der Sendezeit nicht nutzen.
Sofern dieser Prozess nicht von einer adäquaten Sozial-,
Bildungs-, Kultur- und Medienpolitik begleitet wird, wird die
Kluft zwischen den Kärntnern slowenischer und deutscher
Muttersprache zunehmen.
Der politische Wille zu Maßnahmen ist also dokumentiert.
Nachdem dafür die öffentlich-rechtliche Basis, wie sie
die Volksgruppen in allen anderen Staaten Europas mit
gesetzlichen Garantien besitzen, angestrebt wird, ist eine
gemeinsame Lösung mit den nationalen Rundfunkanstalten
un-umgänglich. Beschränkte lokale Rundfunk-Versorgung
in der zweiten Landessprache kann nur eine wertvolle
Ergänzung, aber nicht das Ziel sein. Denn private Modelle,
die zwar die Interessen der Betreiber befriedigen könnten,
bedeuten nicht die Erfüllung der Verpflichtungen des Staates
und des Gebührensender. Der Rundfunk ist ein eminenter
Faktor der freien individuellen und öffentlichen
Meinungsbildung, die ihrerseits eine ent-scheidende Voraussetzung
für ein demokratisches Staatswesen darstellt. Auf dieser
Grundlage entfaltet der Rundfunk in beiden Landessprachen eine
für die Demokratie konstitutive Integrationswirkung, die
nicht zuletzt darin besteht, dass durch Programme die Mehrheit
für die Minderheit und Minderheit für die Mehrheit
besser verstehbar wird. Der Rundfunk der Sprachminderheiten muss
in voller Unabhängigkeit überparteilich betrieben
werden und von jeder einseitigen Beeinflussung freigehalten
werden. Er darf infolgedessen weder dem Staat noch einer
ideologischen Gruppe der Minderheit ausgeliefert und auch nicht
dem freien Spiel der wirtschaftlichen Kräfte überlassen
werden. Die Grundversorgung ist Auftrag des
öffentlich-rechtlichen Rundfunks.
Der private Rundfunk ist nicht in der Lage, den klassischen
Rundfunkauftrag zu erfüllen, also die volle Breite der
Meinungen und kulturellen Strömungen zu vermitteln. Diese
Aufgabenstellung verdeutlicht, dass der Begriff der
Grundversorgung nicht lediglich eine Mindestversorgung
beschreibt, die der öffentlich-rechtliche Rundfunk in
Kärnten in der zweiten Landessprache derzeit bietet. Die
Grundversorgung verlangt vielmehr umfassende und vielfältige
Programmangebote - für alle Völker im Lande, - zu allen
Tageszeiten im Schritt mit dem Lebensrhythmus, - aus
Eigenproduktionen.
Erforderlich ist aber auch, dass alle Bürger des Landes in
der Lage sein müssen, die der Grundversorgung zuzurechnenden
öffentlich-rechtlichen Programme empfangen zu können.
Wir wünschen uns ein Europa der nationalen und regionalen
Vielfalt. Heimatrecht beinhaltet nicht nur das Recht eines
Volkes, in der angestammten Heimat zu leben, sondern auch das
Recht, seine Eigenart und Kultur, seine Sprache in eben dieser
Heimat un-gehindert und in aller Freiheit leben zu dürfen,
in seiner Kultur und in seiner Sprache nicht eingeengt zu werden.
Durch die zunehmende Internationalisierung des Medienbereichs
gewinnt der Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
auch eine europäische und internationale Dimension. Die
Entwicklung in Europa stellt die öffentlich-rechtlichen
Anstalten vor neue Herausforderungen. Es geht auch um die
Erkenntnis, dass es sich dabei um eine Chance zur Erneuerung
seines Selbstverständnisses handelt.
Mirko Bogotaj, ehemaliger Leiter der slowenischen ORF-Redaktion in Klagenfurt / Celovec und Mitbegründer der European Ethnic Broadcasting Association. Aus pogrom 212 (2/2002).