von Theodor Rathgeber
Tausende indigener Gemeinschaften von Chile bis Mexiko wurden
im Zuge des Ausbaus von Wasserwegen und der Errichtung von
Staudämmen bereits vertrieben. Sie verloren nicht nur ihr
Land, sondern in aller Regel auch ihren emotionalen und
spirituellen Bezugspunkt. Ebenso bedrohlich für die Existenz
- nicht nur - indigener Völker ist die Privatisierung des
Wassers sowie die extensive Wassernutzung für eine
kommerziell betriebene Landwirtschaft. Alle Eingriffe folgen der
Idee industrieller Entwicklung, die ursprünglich mit der
Hoffnung verbunden war, durch die systematische und gesicherte
Nutzung aller Ressourcen Not und Elend zu beseitigen. Für
einen Teil der Menschheit, insbesondere in den Städten,
trifft dies sogar zu. Für die betroffene lokale
Bevölkerung wurde dagegen die Not meist größer.
Insbesondere indigene Völker verloren nicht nur ihr Land,
sondern ausgeklügelte Bewirtschaftungssysteme wurden
vernichtet.
Dabei wären andere Einsichten auch in unserer 'Sprache'
verfügbar. Die im Agenda-21-Prozess entstandene "Rio +
10"-Erklärung vom August 2002 stellt fest, dass Wasser nicht
nur ein wirtschaftliches, sondern auch ein soziales Gut
darstellt. Bei der Nutzung von Wasser sollte die Priorität
auf der Befriedigung der Grundbedürfnisse sowie der
Aufrechterhaltung des Ökosystems liegen. Es ist ja nicht
schlecht, wenn Dutzende von internationalen Konferenzen und die
Beiträge wissenschaftlicher Koryphäen ein derartiges
Ergebnis zustande bringen. Es ist nur immer wieder erstaunlich,
wie solche Aussagen den Lebensweisheiten lokaler, in diesem Fall
indigener Bevölkerungsgruppen ähneln.
Beispiele in Südamerika
Allein in Brasilien wurden und werden Tausende von
Angehörigen indigener Völker vertrieben. Die
Staudämme Tucurui und Balbina haben nicht nur 6.400 km2 Land
überschwemmt, sondern in sich geschlossene Regelsysteme
für das Überleben der lokalen Bevölkerung für
immer vernichtet. Das gleiche gilt für die Staudämme
Itaipu, Guri und Yacyretá. Wenngleich die katastrophalen
Folgen für Mensch und Natur zur Genüge bekannt sind,
werden derartige Projekte unbeirrt weiter verfolgt. So würde
das Projekt Belo Monte mit insgesamt fünf
Mega-Staudämmen am Río Xingú über 10.000
km2 tropischen Regenwald überfluten und das Territorium
Juruna völlig zum Verschwinden bringen. Belo Monte soll
11.000 Megawatt (MW) Elektrizität produzieren und wäre
damit das drittgrößte Wasserkraftwerk der Welt. Vier
große Staudämme am Río Tibagi - Jataizinho,
Cebolão, São Geronimo und Maua - würden
große Teile der letzten Regenwälder an der
Atlantikküste überschwemmen und die Lebensgrundlage von
2.000 indigenen Fischern vernichten. Die Staudämme Tijuco
Alto, Funil, Itaoca und Batatal am Río Ribeira de Iguape
bedrohen die Nachfahren der widerständigen Sklaven
(Quilombos) ebenso wie Teile der Xavante.
Neben den Megaprojekten zum Ausbau der Wasserkraftwerke stellt
die Schiffbarmachung der Flüsse für große
Transporteinheiten eine zweite elementare Bedrohung für
indigene Völker und andere Flussbewohner dar. Konnte der
Ausbau des Wasserweges Paraguay-Paraná im Bereich von
Brasilien durch nationale und internationale Proteste sowie
Gerichtsentscheide vorläufig auf Eis gelegt werden, gehen
die Planungen und Arbeiten etwa an den Flüssen Araguaia oder
Tocantins für den Transport von Soja nach Europa ungebremst
voran. Neben dem Ausbau der Wasserstraße sind am Río
Tocantins darüber hinaus acht Staudämme eingeplant. Die
Gemeinschaften der Awa-Canoeiro, die bereits 10 Prozent ihres
Territoriums durch den Staudamm Serra da Mesa verloren hatten,
würden erneut in ihren Möglichkeiten, selbstbestimmt zu
leben, reduziert. Die Interamerikanische Entwicklungsbank und
internationale Investoren, wie die belgische Firma Tractebel im
Fall des Río Tocantins, stellen die finanziellen Mittel
für dieses Projekt zur Verfügung.
Berüchtigt wurde in Kolumbien insbesondere das
Wasserkraftwrk URRA I, über das "bedrohte Völker -
Pogrom" schon mehrfach berichtete. Nach einem langen und
zähen Ringen mit Regierung und Kraftwerksbetreibern konnten
wenigstens eine Entschädigung und ein Entwicklungsplan
ausgehandelt werden, der den Bedürfnissen der
Embera-Katío entgegen kam. Die Ironie des Schicksals
ließ jedoch nicht auf sich warten. Die Paramilitärs
beherrschen das dortige Gebiet und konfiszieren die
Entschädigungsleistungen, die die Betreiberfirma brav
entrichtet.
In Bolivien sind ebenfalls mehrere Staudämme und
Wasserkraftwerke geplant. Das Kraftwerk Bala am Río Beni
würde Elektrizität zum Export nach Brasilien liefern
und außer tropischem Regenwald auch die Territorien der
Pilon Lajas, Tacanas, Chimanes, Moseten, Esse Eijas und Quechuas
beschädigen. Die Wasserkraftwerke Las Pavas und Arrazayal am
Río Bermejo an der Grenze zu Argentinien hätte die
Vertreibung von 700 Familien zur Folge. Der Widerstand gegen die
kommerzielle Nutzung von Wasser konnte in Bolivien allerdings
auch einen bedeutsamen Erfolg erringen. Der multinationale
Konzern Bechtel hatte im Gefolge der von Weltbank und
Internationalem Währungsfonds betriebenen Privatisierung des
Wassers die Nutzungsrechte für die Region um die Stadt
Cochabamba erworben. Nach der Übernahme wurde die
Dienstleistung auf diejenigen beschränkt, die das gelieferte
Wasser bezahlen konnten, und die Preise dafür wurden um 40
Prozent angehoben. In der von Wasserarmut gekennzeichneten Region
protestierten allerdings städtische und ländliche
Bevölkerung vehement gegen die Existenzbedrohung. Wenngleich
ihre Demonstrationen zu Beginn mit Gewalt unterdrückt
wurden, konnten sie im April 2000 erreichen, dass die
Privatisierung wieder rückgängig gemacht wurde. Bechtel
verklagte allerdings den bolivianischen Staat wegen entgangener
Gewinne.
In Argentinien beeinträchtigen die Wasserkraftwerke Corpus
und Itacua am Río Paraná die Gemeinschaften der
Guaraní sowie der nicht-indigenen Flussbewohner.
Unbeschadet eines Referendums im Jahr 1996, in dem sich 80
Prozent gegen dieses Vorhaben aussprachen, wird das Projekt
fortgesetzt. Rücksichtslos weiterbetrieben werden auch die
weiteren Projekte am Río Paraná im Grenzgebiet von
Argentinien (Bundesstaat Misiones) und Paraguay, das ebenfalls
die Guaraní in Mitleidenschaft zieht.
Beispiele in Mittelamerika
In Panamá schlugen die Auseinandersetzungen um den 1979
begonnenen Staudamm Bayano hohe Wellen. Der Stausee vertrieb
4.500 Angehörige der Kuna und Embera-Wounan und machte die
traditionelle Ökonomie aus Fischen, Jagen und Sammeln
unmöglich. Das ruhende Wasser begünstigte
außerdem das vermehrte Auftreten von Malaria. Eine
Organisation der Kuna brachte den Konflikt allerdings bis vor die
Interamerikanische Kommission für Menschenrechte, um die
Folgen zu mildern und den schleichenden Tod aufzuhalten. Neben
einer Entschädigung in Höhe von 50 Millionen US-Dollars
forderten sie eine Rückgabe ihres von Siedlern illegal
besetzten Landes sowie eine Garantie für die verbliebenen
Flächen.
In Costa Rica sind entlang des Río Torola mehrere
Staudämme geplant, gegen die sich der Widerstand der lokalen
Bevölkerung richtet. In Honduras widersetzen sich an der
Grenze zu El Salvador die Lenca zusammen mit den örtlichen
Kleinbauern bislang erfolgreich dem Kraftwerk El Tigre. In
Guatemala wird momentan die Geschichte des Staudamms Chixoy am
Río Negro aufgearbeitet, dessen Bau 1980 während der
Militärdiktatur begann. Mehr als 400 Angehörige der
Maya Achi wurden damals unter den Augen der Weltbank, der
Interamerikanischen Entwicklungsbank, der Firmen Lahmeyer
International und Hochtief (Deutschland), Motor Columbus und
Swissboring (Schweiz), International Engineering Company (USA)
sowie Gogefar (Italien) massakriert. Heftige Auseinandersetzungen
heute sind um Staudammvorhaben am Río Usumacinta im
Grenzgebiet zu Mexiko entbrannt.
Offizielle Stellen in Mexiko und Guatemala haben solche
Pläne für den Oberlauf des Río Usumacinta im
Juni 2002 angekündigt. Der Bau der fünf Staudämme
im Grenzgebiet von Petén (Guatemala) sowie Chiapas und
Tabasco (Mexiko) wird von der lokalen Bevölkerung abgelehnt.
Schon jetzt gehören der Landkreis Ocosingo in Mexiko sowie
der Bundesstaat Petén in Guatemala zu den
militarisiertesten Zonen der jeweiligen Länder. Was das
heißt, erfuhren die Mazatecos, die sich gegen das Kraftwerk
Miguel Aleman am Río Papaloapán zur Wehr setzten.
Ihre Häuser wurden angezündet, und sie mussten fliehen.
Erfolgreicher war dagegen die indigene Bevölkerung in
Chiapas im über 15 Jahre währenden Kampf gegen das
Wasserkraftwerk Itzantún. Eine ähnliche
Beharrlichkeit benötigen all jene Gemeinschaften, die im
Einzugsbereich des Plan Puebla-Panamá liegen, eines
riesigen Ausbauvorhabens mit Staudämmen, Hafenanlagen,
Flugplätzen, Öl- und Gaspipelines, Straßen- und
Eisenbahnverbindungen zur infrastrukturellen, kommerziellen
Erschließung Mittelamerikas.
Insbesondere solchen Plänen muss man massiven Widerstand
entgegensetzen. Der lokale Widerstand allein wird jedoch, wie so
oft, nicht reichen. Ein wegweisendes Beispiel gaben 98 indigene
Gemeinschaften und Organisationen aus 21 Ländern im Ort
Quetzal im Bundesstaat Petén, die sich im März 2002
trafen, um über Alternativen nicht nur zu den Vorhaben am
Río Usumacinta zu beraten. Die ausländischen
Teilnehmenden kamen aus Australien, Belize, Bolivien, der
Dominikanischen Republik, Costa Rica, El Salvador, Honduras,
Italien, Kanada, Kolumbien, Mexiko, Panamá, Spanien und
den USA. Erfahrungen in der Organisation des Widerstands und mit
der internationalen Vernetzung wurden ausgetauscht und eine
internationale Kampagne beschlossen. Nun haben nicht alle die
Möglichkeit, an solchen Treffen und Kampagnen mitzuwirken.
Eine Anfrage an die Botschaft eines Landes wäre jedoch ein
ebensolcher Beitrag zu einer vernetzten Gegenwehr gegen die
kommerzielle Zurichtung indigener Lebenswelten.
"Den Fluss stauen ist wie das
Verstopfen der Venen beim Menschen. Es hat sofort Folgen für
das Ganze, es stellen sich Krankheiten ein"
Embera-Katío, Kolumbien
Aus pogrom-bedrohte Völker 222 (6/2003).