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Von Claus Biegert
Bozen, Göttingen, 11. November 2015
Der See Moraine in Alberta. In der kanadischen Provinz werden ganze Wälder gerodet, um Öl aus Teersand zu fördern. Foto: James Wheeler / Flickr.
"Wir vom Volk der Oceti Sakowin und unsere Brüder und Schwestern der Cree und Dene First Nations können nicht länger stillhalten angesichts der ökologischen Katastrophe, die uns auf unserem Land in Alberta droht. Denn von dort kommt das dreckige Öl, dessen Förderung so viel Treibhausgase freisetzt. Mit unserem Widerstand gegen die Keystone-XL-Pipeline wollen wir (...) zukünftige Generationen vor den schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels schützen", schreibt in The Guardian der Mdewakanton Dakota und Dine, Dallas Goldtooth, der für den Zusammenschluss Indigenous Environmental Network eine Kampagne gegen das Mega-Projekt ins Leben gerufen hat.
Der Krieg der Zukunft, so prophezeite Ende der 1970er Jahre
der indianische Autor und Philosoph John Mohawk Sotsisowa, werde
zwischen den Zerstörern der Natur und den Verteidigern der
Natur ausgetragen werden. Zur selben Zeit sang Leonard Cohen von
einem Krieg zwischen denen, die behaupten, es sei Krieg, und
jenen, die ihn leugnen … and the ones, who say, there
isn't. Beide, der Schriftsteller der Irokesen und der Troubadour
aus Montreal, trafen damals mit ihren Prognosen den Kern von
"Idle no more!", einer neuen indigenen Bewegung, die -
ausgelöst durch rassistische Gesetzesentwürfe,
anhaltende Gewalt gegen indianische Frauen, die gigantische
Gewinnung von Öl aus Teersand ebenso wie die
Gasförderung durch Fracking - quer durch Kanada Wurzeln
schlägt und zunehmend von weißen Kanadiern Zuwachs
erhält. Straßenblockaden, Demonstrationen,
Hungerstreiks, Aufmärsche vor Regierungsgebäuden sind
die Antworten auf den von Seiten der Regierung verweigerten
Dialog. Im Sommer 2013 griff die Bewegung auch auf die USA
über.
"Idle no more!" Wörtlich bedeutet der Schlachtruf: "Nicht
länger untätig!" Eine ausführlichere
Übersetzung liefert Eriel Tchekwie Deranger, eine Frau der
Dene aus den Nordwest-Territorien, auf www.idlenomore.ca: "Unsere
Völker und unsere Mutter Erde können nicht länger
zuschauen, wie sie als Geiseln der Ökonomie festgehalten
werden, während unsere Heimat in Industriezonen verwandelt
wird. Es ist Zeit, dass wir aufwachen und wieder die
Verantwortung als Hüter des Landes übernehmen." Sie ist
eine der vielen Stimmen der First Nations, wie die indianischen
Ureinwohner Kanadas korrekt bezeichnet werden. Die Frauen sind
laut, sehen sich aber trotzdem nicht als Anführerinnen. Die
Bewegung zur Rettung des Planeten, so schreibt der amerikanische
Umweltautor Bill McKibben in einem Essay zu den Protesten, "ist
eine Bewegung ohne Führer".
Eine Handvoll waren die "Idle no more!"-Frauen 2012 - Sylvia
McAdams, Jessica Gordon und Sheelah Mc-Lean hießen die
ersten -, als sie sich die 450 Seiten der Gesetzesvorlagen zum
Lesen aufteilten, kaum waren ihnen die Pläne der kanadischen
Regierung zur Abschaffung indianischer Souveränität zu
Ohren gekommen. Premier Stephen Harper greift mit den
Gesetzespaketen Bill C-38 und Bill C-45 eine rassistische Idee
wieder auf, die vierzig Jahre zuvor von Premier Pierre Trudeau
und seinem Minister für Indianische Angelegenheiten, Jean
Crétien, als Assimilationsmodell "White Paper Policy"
schon einmal gescheitert war. Indianer sollten den übrigen
Bürgern des Landes gleichgestellt werden und ihre Reste an
Rechten und Reste an Land für immer verlieren. Gescheitert
waren damals auch die USA, die im Schulterschluss versucht
hatten, in der Tradition ihrer Terminationspolitik der 1950er
Jahre Reservatland nicht nur weiter zu beschneiden, sondern
endgültig abzuschaffen.
Der Ruf "Idle no more!" ging im November 2012 wie ein Lauffeuer
durch den Norden Kanadas und sorgte für die ersten
Nachrichten, als eine Stammesführerin der Cree, Chief Teresa
Spence, ihr Büro in der Subarktis verließ, nach
Süden flog und vor dem Regierungsgebäude in Ottawa
einen Hungerstreik begann. Das weibliche Profil des Protests ist
kein Zufall: Für die First Nations haben die Unterjochung
der weiblichen Ureinwohner und die Unterjochung der weiblichen
Erde einen gemeinsamen Ursprung. Anfang 2013 veröffentlichte
die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch
einen erschütternden Report, der auf 84 Seiten aufdeckt,
dass es in Kanada bis heute lebensgefährlich sein kann,
Indianerin zu sein. Zu Hunderten waren indianische Mädchen
von Polizisten der RCMP (Royal Canadian Mounted Police)
vergewaltigt und misshandelt worden, Morde an indianischen Frauen
waren nicht oder nur nachlässig untersucht worden. Der
Highway 16 in der Westprovinz British Columbia wurde von den
Angehörigen in "Highway of Tears" ("Straße der
Tränen") umbenannt - Dutzende indianischer Frauen waren
entlang dieser Fernstraße vergewaltigt oder getötet
worden.
Die alten Verträge mit den indigenen Nationen zu annullieren
und die First Nations mit den übrigen Bürgern der
Provinzen gleichzustellen, entspricht einer Politik des
kulturellen Völkermords; die Vereinten Nationen haben
dafür den Begriff Ethnozid geprägt. Die Regierungen -
da steht Kanada in der Weltgemeinschaft nicht allein - wollen an
die Rohstoffe innerhalb ihrer Staatsgrenzen, und sie wollen sie
bis zum letzten Rest und finden mit dem Ruf nach Energieautonomie
auch im Volk den gewünschten Widerhall. Auf der Gegenseite,
nach John Mohawk Sotsisowah die Seite der "Verteidiger", hat man
an Erfahrung dazu gewonnen: Das Internet und ein Netz
indianischer Radiostationen garantieren zeitgleiche
Gegenöffentlichkeit bis in die letzten Winkel. Und die
nicht-indianischen Umweltorganisationen sind inzwischen zu
solidarischen Partnern geworden - zusammengeschweißt von
der gemeinsamen Bedrohung.
In der Subarktis, wo Jagd und Fischfang zur Subsistenzwirtschaft
der Indianer gehören, hat die Gewinnung von Öl aus
Teersand verheerende Auswirkungen. Teer- oder Ölsand ist ein
Gemisch aus Ton, Silikaten, Rohöl, Wasser und diversen
Kohlenwasserstoffen, das im Tagebau und Untertagebau gewonnen
wird. Für den weiträumigen Tagebau wird das
Gelände gerodet und der Waldboden abgetragen. Aus dem
darunter liegenden Sand wird auf chemischem Weg das Bitumen (auch
Erdpech genannt) getrennt, durch starkes Erhitzen
fließfähig gemacht und in Pipelines zu den Raffinerien
befördert. Liegt der gesuchte Sand tiefer, dann kommt - ab
50 Metern - das In-Situ-Verfahren zur Anwendung. Dazu werden zwei
Schächte parallel in den Boden gebohrt; durch einen dieser
Schächte wird unter Hochdruck ein Chemikalienmix mit
Wasserdampf nach unten gepresst, der das Bitumen vom Sand
löst und das Ganze fließfähig macht. Im zweiten
Schacht wird das Gemisch nach oben geholt und zur Pipeline
befördert. Die Ölproduktion aus Sand setzt 14 Prozent
mehr Treibhausgase frei als die konventionelle Produktion von
Rohöl. James Hansen, Klimaexperte der
US-Weltraumbehörde NASA: "Öl aus Teersand ist einer der
schmutzigsten, am stärksten klimabelastenden
Treibstoffe."
Seit 2011 transportiert die Keystone-Pipeline des Konzerns
TransCanada an die 50 Millionen Liter Ölgemisch täglich
von Alberta, der Heimatprovinz des Premierministers, zu den
Erdölraffinerien in den USBundesstaaten Illinois, Oklahoma
und Nebraska. Nun will TransCanada eine Keystone-XL-Pipeline
errichten, die bis zu 133 Millionen Liter täglich
bewältigen kann. Das Öl soll dann von Oklahoma zu
Raffinerien und Häfen in Texas am Golf von Mexiko gebracht
werden. US-Präsident Barack Obama aber hat den Baustart der
umstrittenen Pipeline Keystone XL per Veto verhindert. Er will
eine erneute Überprüfung des gigantischen Projekts
abwarten, gegen das Umweltschützer Sturm laufen. Die
Republikaner wollten sofort mit dem Bau beginnen. Innerhalb
Kanadas sind neue Ölrouten über Ontario in die
Provinzen Quebec und New Brunswick geplant. Hierzu sollen
Leitungen genutzt werden, die bisher Erdgas von Ost nach West
transportiert haben. Umweltorganisationen fürchten Pannen,
da Rohöl wesentlich säurehaltiger ist als Erdgas und
damit früher zu Korrosionen führen kann.
Auch ohne Unfälle lässt Ölsand eine Spur der
Zerstörung hinter sich. Die Mehrheit der Menschen in der
Region um Fort Chipewyan sind Ureinwohner der Dene-Nation. Ihr
Land ist von Cadmium, Arsen, Quecksilber und krebserregenden
Kohlenwasserstoffen verseucht. Die Krebsrate der Bewohner von
Fort Chipewyan liegt 30 Prozent über dem Landesdurchschnitt.
Die Lebensräume der letzten indigenenVölker sind
identisch mit den Regionen noch nicht gehobener
Bodenschätze. Für die Hüter der Erde ergibt sich
eine klare Forderung an uns: Wir müssen uns ändern.
Denn wir, die wir von überall her die Zutaten für
unseren industriellen Lebensstil holen, zerstören dabei
weltweit die Grundlagen für das Leben auf diesem Planeten.
Während die großen Nachrichtenagenturen die kanadische
Umweltbewegung bislang weitgehend ignorierten, sieht der Londoner
Guardian in "Idle no more!" eine Protestbewegung, die das Antlitz
des Planeten verändern könnte, vor allem weil sich
Weiße mit ihr identifizieren und sie mittragen.
Wer wird unsere Erde verteidigen? Wer die Rechte der Natur? Diese
Fragen beschäftigen neuerdings auch den amerikanischen
Linguisten und Gesellschaftskritiker Noam Chomsky. Der
Sprachforscher, eine Kultfigur der amerikanischen Linken, betont
in seinem - vom Internet- Pressedienst Truthout (www.truth-out.org)
veröffentlichten - Vortrag, dass er diese Fragestellung der
Weltsicht indigener Völker verdankt. Und wer, so Chomsky
weiter, werde die Global Commons hüten, die
Allgemeingüter der Menschheit, die unser aller Besitz sind?
Global Commons: die Meere, die Landstriche ohne Zäune, die
Berge, das Trinkwasser aller Menschen, Luft, die alle
ungefährdet atmen können. Fragen, die von indigenen
Aktivisten in UN-Foren seit Jahrzehnten gestellt werden. Wenn
jetzt plötzlich die Erkenntnis übergreift, dass die
Rolle der Hüter der Erde nicht allein von den Ureinwohnern
wahrgenommen und bewältigt werden kann, sondern dass alle
Erdbewohner gefragt und gefordert sind, dann könnte diese
Einschätzung im Guardian durchaus realistisch sein.
[Zum Autor] Claus Biegert arbeitet für den Bayerischen Rundfunk, die Süddeutsche Zeitung sowie die Magazine Oya und natur. Er wurde bekannt durch zahlreiche Publikationen über seine Recherchen bei den Indianern in den USA und Kanada. 1992 hat er mit anderen die Weltkonferenz "World Uranium Hearing" in Salzburg organisiert. Indigene Völker berichteten dort von den Folgen der Atomindustrie. Biegert ist Gründer des Nuclear-Free-Future-Award und Beiratsmitglied der Gesellschaft für bedrohte Völker.
Aus pogrom-bedrohte Völker 288 (3/2015).
Vedi anche in gfbv.it:
www.gfbv.it/2c-stampa/2013/131122de.html
| www.gfbv.it/3dossier/ind-nord/indian-mv.html
| www.gfbv.it/3dossier/ind-nord/lubicon.html |
www.gfbv.it/3dossier/ind-nord/lubicon1.html |
www.gfbv.it/3dossier/ind-nord/shoshone.html |
www.gfbv.it/3dossier/ind-nord/indtrust.html |
www.gfbv.it/3dossier/ind-voelker/global-sozial.html
www: www.idlenomore.ca | https://de.wikipedia.org/wiki/First_Nations
| www.nativeharvest.com |
www.nativeweb.org |
www.cwis.org