von Theodor Rathgeber, November 2002
Die ILO-Konvention Nr.
169 ist die bislang einzige internationale Norm, die indigenen
Völkern rechtsverbindlich Schutz und Anspruche gewahrt; also
eine Art internationales Grundgesetz. Die "Übereinkunft Nr.
169 über indigene und in Stämmen lebende Völker"
der International Labour Organization (Internationale
Arbeitsorganisationen) wurde 1989 von der jährlichen
Hauptversammlung der ILO verabschiedet. Von den 176
Mitgliedsstaaten der ILO haben 15 die Konvention
ratifiziert.
Die ILO-Konvention Nr. 169 bezieht sich auf ca. 300 Millionen
Menschen - laut UN-Bericht 1996 also vier bis fünf Prozent
der Erdbevölkerung - die sich zu indigenen Völkern,
Nationen und Gemeinschaften zählen. Sie stellen die
ursprünglichen Bewohner in ihren Gebieten dar, verfügen
mindestens über Restbestände einer eigenen Sprache,
Religion und Kultur und leben vielfach noch in enger Beziehung
mit der Natur. Häufig sind sie Opfer von Ausbeutung,
Unterdrückung, Diskriminierung bis hin zum Völkermord.
Ihre Lebensgrundlagen werden u.a. durch Konzerne und Staaten,
aber auch durch Reglementierungen etwa zum Naturschutz bedroht,
die ihnen eine freie Entscheidung über die eigene Zukunft
unmöglich machen.
Warum sollten
Länder der EU die ILO-Konvention 169
unterzeichnen?
In Politik und Wirtschaft agieren Industrieländer wie die
Bundesrepublik Deutschland mit teilweise unmittelbaren Folgen
für indigene Völker, deren Territorien und Ressourcen.
Deshalb haben diese Staaten eine direkte Verantwortung
gegenüber diesen Völkern. Außerdem diskutieren
die Staaten seit der Rio-Konferenz 1992 global über
nachhaltige Wirtschaftsweisen, den Schutz des Regenwaldes oder
die Aufrechterhaltung der biologischen Artenvielfalt. Indigene
Völker steuern dazu wesentliche Erfahrungen bei. Dies kann
natürlich nur gelingen, wenn ihre Existenz als Kollektiv
verbindlich geschützt wird, d.h. wenn den Angehörigen
einer Gemeinschaft ihre Herkunft und Identität
(Siedlungsgebiete, Landrechte, Religion, Sprache, Kultur und
kulturelle Symbolgefüge) garantiert werden.
Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung (BMZ) verabschiedete im November 1996 das
Sektorpapier (073/1996) zur Entwicklungszusammenarbeit mit
indianischen Bevölkerungsgruppen in Lateinamerika. Das
Papier empfiehlt, die Entwicklungszusammenarbeit an der
Konvention Nr. 169 zu orientieren und z.B. die Prioritäten
für den Entwicklungsprozess von den indigenen Völkern
festlegen zu lassen.
Der entscheidende Schritt ist jedoch bislang unterblieben. So
argumentieren die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland bis
heute, die Konvention 169 gelte ausschließlich für
Staaten mit indigener Bevölkerung auf dem eigenen
Staatsgebiet. Eine Ratifizierung durch die Bundesrepublik sei
daher völkerrechtlich zwar möglich, aber nicht
sinnvoll, da in Deutschland keine indigenen Völker leben.
Ein von einer nachteiligen Maßnahme der Bundesrepublik
betroffenes indigenes Volk in einem Partnerland hätte trotz
Ratifizierung keine juristische Handhabe dagegen. Außerdem
konnte eine Ratifizierung aus "Solidaritätsgründen" als
subtile Einmischung in die - indigenen - Angelegenheiten anderer
Staaten verstanden werden. Inoffiziell befürchtet wird
allerdings auch, dass die Konvention 169 indirekte Bindewirkungen
nach sich ziehen konnte, die den Spielraum der Politik einengten.
Die Argumentation klingt wenig überzeugend. Die
Bundesregierung hat in der Vergangenheit internationale Abkommen
ratifiziert, ohne dass diese unmittelbar einschlägig
für den rechtlichen Geltungsbereich des deutschen Staates
gewesen waren; etwa zur Abschaffung der Todesstrafe oder die
Charta der Regional- und Minderheitensprachen des Europrates. Die
Todesstrafe ist per Verfassung bereits seit 1949 abgeschafft, und
ebenso wenig weist das Grundgesetz Minderheiten aus. Gleichwohl
hat die Bundesregierung beide Abkommen aus guten Gründen
unterzeichnet: Je mehr und je gewichtiger die Signatarstaaten
einer Konvention sind, desto eher gelingt es, einen universell
gültigen Normenkatalog zu schaffen. Das Standard-Setting
reiht sich außerdem in die zunehmenden Bemühungen um
einen eigenständigen völkerrechtlichen Schutz für
indigene Völker ein, wie ihn etwa die Allgemeine
Erklärung der Rechte Indigener Völker oder eine
ständige Vertretung indigener Völker bei den Vereinten
Nationen (Stichwort "Permanentes Forum") vorsehen.
Außerdem: Wenn schon von Einmischung die Rede sein soll,
dann muß festgehalten werden, dass diese durchaus
stattfindet; bislang allerdings zu Lasten der indigenen
Völker. Und der Begriff Solidarität beinhaltet - grob
gesprochen - in seinen ursprünglichen Zusammenhangen, andere
selbst unter Inkaufnahme eigener Nachteile zu unterstützen,
weil es ihnen, gemessen an Freiheit und Gerechtigkeit, deutlich
schlechter geht. Im Kontext der ILO-Konvention ginge es also
darum, dem Übereinkommen eine normative Wirkung hin zu
globaler Rechtsstaatlichkeit für indigene Völker zu
verleihen. Die Stärkung dieses internationalen Standards
erachtet inzwischen aber auch die Europäische Union (EU) als
sinnvoll. Die Diskussionen darüber lassen nicht den Schluss
zu, die EU wollte die Normbindung verwässern oder sich in
interne Angelegenheiten anderer Partnerstaaten einmischen.
Die Niederlande - ebenfalls ohne indigene Völker auf ihrem
Staatsgebiet - haben bei der Begründung zur Ratifizierung
verkündet, in Zukunft beim Handel mit Tropenhölzern
oder bei Tiefflügen über dem Gebiet der Innu in Kanada
neue Maßstäbe zu setzen. Ebenso soll das Abkommen zum
Wegweiser bei der Planung und Durchführung von
Entwicklungshilfeprojekten werden. So werden Grundlagen und
Leitlinien für eine neue nationale Außen- und
Wirtschaftspolitik eingeführt, die Anspruch auf eine
faktische Verbindlichkeit erheben. Allein schon der durch die
Ratifizierung zum Ausdruck kommende politische Wille, die
Außenbeziehungen gemäß den Normen der
ILO-Konvention zu gestalten, ist Ausdruck einer veränderten
politischen Konzeption. Die ILO selbst ermuntert in ihrem
Handbuch zur Konvention Nr. 169 diejenigen Staaten zur
Ratifizierung der Konvention 169, in denen keine indigenen
Völker beheimatet sind. Neben humanitären und
solidarischen Gründen soll daraus eine veränderte, neue
Entwicklungspolitik hervorgehen. Sollten Länder wie die
Bundesrepublik jedoch die ILO-Konvention ratifizieren und sich
von deren Normen leiten lassen, ergeben sich mittelbare
Konsequenzen, die in ihrer faktischen Bindungswirkung den
direkten Verpflichtungen nicht nachstehen.
Indigene Völker hätten unter Verweis auf die Normen
der lLO-Konvention - mit Ausnahme der innerstaatlichen
Klagemöglichkeit - alle Instrumente in der Hand, um
über politischen, sozialen, wirtschaftlichen und ethischen
Druck die für sie nachteilige Maßnahme abzuwehren.
Durch die dreigliedrige Struktur der ILO würde nicht zuletzt
den Gewerkschaften - und mittelbar wohl auch den
Nichtregierungsorganisationen (NGOs) - ein größerer
Handlungsspielraum eröffnet, der ihnen einen legitimen
Einfluss auf die Inhalte der Politik einräumt; d.h.
politischen Druck auf das Image solcher Länder
auszuüben, die gegen das Übereinkommen
verstoßen.
Die Unterzeichnerstaaten der ILO-Konvention sind verpflichtet,
alle fünf Jahre einen Bericht über die Umsetzung des
Abkommens vorzulegen. Das Bemühen, Bedingungen für eine
nachhaltige und sozial gerechte Entwicklung sowie neue Formen der
Entwicklungszusammenarbeit mit indigenen Völkern zu schaffen
und mit ihnen einen politischen Dialog über Fragen der
globalen Strukturpolitik zu führen, fände in der
lLO-Konvention 169 einen möglichen, angemessenen
Rahmen.
Auch innerhalb der Europäischen Union gewinnen die Belange
indigener Völker an Bedeutung. Das Europaparlament forderte
bereits 1994 die EU-Regierungen auf (Entschließungsantrag
A3-0059/94), der ILO-Konvention 169 beizutreten. Die EU-
Kommission verabschiedete 1998 ein Strategiepapier zur
verbesserten, zukünftigen Entwicklungszusammenarbeit
zwischen EU und indigenen Völkern. 1998 folgte eine
entsprechende Resolution. In beiden Papieren unterstreicht die EU
die Bedeutung der ILO-Konvention als Normgerüst für die
Beziehungen mit indigenen Völkern. Schließlich fordert
die UN-Dekade zu den Indigenen Völkern der Welt (1994-2004)
seit nunmehr acht Jahren zu "neuen Partnerschaften" auf. Die
Ratifizierung der lLO-Konvention 169 ist dazu ein wesentlicher
Beitrag.
Angesichts der Hinhaltung auch der jetzigen Bundesregierung
haben sich in Deutschland mehrere Organisationen zum sogenannten
"Koordinationskreis ILO-Konvention" geschlossen:
Adivasi-Koordination, amnesty international, FAN (Food First and
Information Network), Gesellschaft für bedrohte Völker,
Klimabündnis Geschäftsstelle Frankfurt, INFOE (Institut
für Ökologie und Aktions-Ethnologie) und WUS (World
University Service).
Die sich hinziehende, beharrliche Lobby-Arbeit kann erste
Früchte ernten. Mittlerweile sprechen sich das
Außenministerium und das Ministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ausdrücklich
zugunsten der Ratifizierung der ILO-Konvention 169 aus. Das
federführende Ministerium für Arbeit und Soziales (BMA)
verhält sich dagegen noch reserviert, wenngleich die
schroffe Ablehnung früherer Jahre nicht mehr vorhanden
ist.
Wer ist die
ILO?
Die ILO wurde 1919 gegründet. Es handelt sich um eine
Sonderorganisation der UNO, die sich drittelparitätisch aus
Vertretern von Regierungen, Arbeitnehmer- und
Arbeitgeberorganisationen der Mitgliedsstaaten zusammensetzt. Die
ILO soll für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen, Lebens- und
Arbeitsbedingungen im internationalen Rahmen verbessern und somit
zu einem friedlichen Zusammenleben beitragen. "Der Weltfriede
kann auf Dauer nur auf sozialer Gerechtigkeit aufgebaut werden"
ist einer der Grundsätze der ILO. Um die Aufgabe weltweiter
sozialer Mindeststandards erfüllen zu können, hat sich
die ILO auch dem dringenden Erfordernis angenommen das
Überleben indigener Völker zu sichern. Das
"Internationale Arbeitsamt" in Genf ist das ständige
Sekretariat der Organisation.
Die überarbeitete Konvention 169 anerkennt die Existenz der
indigenen Völker und unterstreicht ausdrücklich das
Recht auf kulturelle und ethnische Verschiedenheit. In insgesamt
44 Artikeln legt sie einen Grundrechtskatalog für die
"indigenen und in Stämmen lebenden Völker" vor. Dazu
gehören insbesondere:
- volle Gewährleistung der Menschenrechte und
Grundfreiheiten (Art. 2, 3)
- Recht auf Gestaltung der eigenen Zukunft (Art. 6, 7)
- Recht auf kulturelle Identität und auf auf
gemeinschaftliche Strukturen und Traditionen (Art. 4)
- Recht auf Land und Ressourcen (Art. 13-19)
- Recht auf Beschäftigung und angemessene
Arbeitsbedingungen (Art. 20)
- Recht auf Ausbildung und Zugang zu den Kommunikationsmitteln
(Art. 21)
- Recht auf Beteiligung bei der Findung von Entscheidungen, die
diese Völker betreffen (Art. 6)
- Gleichberechtigung vor Verwaltung und Justiz (Art 2, 8,
9).
Die Konvention 169
stärkt die rechtliche Stellung der traditionellen
Selbstverwaltungsorgane. Besonderen Schutz genießen die
ursprünglich besiedelten Territorien, bis hin zum Recht auf
Rückforderung, die kulturelle Identität, die
natürliche Umwelt sowie die auf indigenen Territorien
vorkommenden Ressourcen. Von großer Bedeutung sind auch die
Normen, die den von Entwicklungsvorhaben betroffenen Völkern
ein Konsultations- und Partizipationsrecht einräumen.
Gemäß den Ausführungsbestimmungen zur
ILO-Konvention 169 müssen die Konsultationen im guten
Glauben und den kulturellen Gegebenheiten angemessen
ausgeführt werden; d.h. die Angehörigen einer
Gemeinschaft müssen die Ziele und Folgen eines Projektes
tatsachlich verstehen und beurteilen können. Konsultationen
und Partizipation sollen zusammen mit 'authentischen'
Organisationen stattfinden - um möglichst eine Einigung
herbeizuführen.
Spezifisch für die Lebensbedingungen indigener Völker
ist die Anerkennung kollektiver Rechte - vor allem der Landrechte
- wie sie die lLO-Konvention 169 zugrundelegt. Andere
völkerrechtliche Instrumente zum Schutz indigener
Völker - etwa die Menschenrechtscharta, das Verbot des
Völkermords oder die wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen (WSK-) Rechte - sind als individuelle Rechte
(für die einzelnen Angehörigen einer Gruppe) konzipiert
und tragen dem besonderen Erfordernis des Gruppenschutzes nicht
genügend Rechnung.
Schließlich übernimmt die ILO-Konvention 169 den
Begriff ?Volk' aus dem Völkerrecht, um im Unterschied zur
ILO-Konvention 107 mit dem Begriff 'Bevölkerung' anzudeuten,
dass indigene Völker über ihren politischen Status
selber bestimmen wollen. Die Konvention 169 weist zwar darauf
hin, dass der Begriff Volk in dieser Übereinkunft keine
völkerrechtliche Bindung mit sich bringt. Die
Repräsentanten indigener Völker sind mit dieser
Unbestimmtheit entsprechend unzufrieden und kämpfen für
ein eindeutiges Recht auf Selbstbestimmung; wie es die im Entwurf
vorliegende Allgemeine Erklärung der Rechte indigener
Völker im Artikel 3 vorsieht. Auch sonst gibt es Kritik
wegen teilweise vage formulierten Bestimmungen und fehlenden
Sanktionen, sollte ein Staat die ILO-Normen nicht
erfüllen.
Dass die Normen der lLO-Konvention 169 ihre rechtspolitische
Wirkung mit Erfolg entfalten können, belegen etwa die
Auseinandersetzungen um den Staudamm Urrà I bei den
Embera-Katio oder die Erdölforderpläne bei den U'wa
(jeweils in Kolumbien). Ohne die aus der ILO-Konvention 169
abgeleiteten Konsultations- und Partizipationsrechte würden
beide Projekte schon längst ihre zerstörerische Wirkung
entfaltet haben.