Von Almut Schilling-Vacaflor
Bozen, Göttingen, April 2006
Kurz nach dem Amtsantritt von Evo Morales fand
(2. und 3. Februar 2006) in Quirpini (Chuqisaca) das 13.
Zusammentreffen der höchsten Autoritäten der indigenen
quechua-sprechenden Gemeinschaften (Ayllus) aus Chuquisaca statt.
Auch die Organisation der CONAMAQ (Consejo Nacional de Ayllus y
Markas del Quilasuyu), ein Zusammenschluss der Aymaras und
Quechuas (die gemeinsam fast 90% der originären
Bevölkerung Boliviens ausmachen), war bei der Versammlung
anwesend. Da es einen Konsens und gemeinsame Ziele mit der
zweitgrößten indigenen Bevölkerungsgruppe, den
Aymaras gibt, können die beschriebenen Meinungen und Inhalte
als repräsentativ für die originäre
Bevölkerung des gesamten Hochlands Boliviens betrachtet
werden. Landesweit bereiten sich derzeit die indigenen
Organisationen und Gemeinschaften auf ihre verstärkte
Partizipation im Staat vor und erarbeiten konkrete Forderungen,
Vorschläge und Ziele, um tiefgreifende Änderungen zu
verwirklichen und Bolivien, wie sie sagen, "neu zu
erschaffen".
300 Führungspersonen aus der Umgebung von San Lucas und von
Sucre, der offiziellen Hauptstadt von Bolivien, nahmen am 2. und
3. Februar an dem Treffen und dem veranstalteten Ritual, dem Fest
das sich "Candelaria" nennt, teil. Diese Feier ist auf das
katholische Fest "Maria Lichtmess" zurückzuführen, mit
dem die Weihnachtszeit endet und Lichteprozessionen und Segnungen
von Kerzen durchgeführt werden. An diesem Tag begann
traditionell auch die bäuerliche Arbeit, da die Tage nach
einer volkstümlichen europäischen Weisheit ab dem 2.
Februar länger werden. Die Quechua-Bevölkerung
Boliviens integrierte diesen katholischen Feiertag in ihre eigene
Kultur. In Quirpini wurde eine Messe gefeiert und Rituale
für die Mutter Erde (Pachamama), die für die indigene
Bevölkerung auch von der Jungfrau Maria repräsentiert
wird, durchgeführt. Die Mutter Maria konnte in die indigene
Weltanschauung übernommen werden, indem in ihr die Pachamama
gesehen wurde und vor allem aus diesem Grund wird "Maria
Lichtmess" auch heute noch von der originären
Bevölkerung in weiten Teilen Südamerikas
gefeiert.
Das Treffen spiegelt in den Augen der Teilnehmer die kulturelle
Rückgewinnung von präkolonialen Organisationen wider,
da die Struktur der indigenen Gemeinschaften (Ayllus) zum Teil
erst in den letzten Jahren wiederbelebt worden ist. Sowohl in der
Kolonialzeit als auch in der Republik Boliviens und seit 1994
durch die neoliberale und diskriminierende
Dezentralisierungspolitik, wurden die traditionellen indigenen
Strukturen bekämpft und geschwächt. Doch da sie nie
vollkommen zum Verschwinden gebracht wurden, stehen die
Versammlungen der originären Autoritäten und ihrer
Ayllus unter dem Motto: "Sie haben die Blumen geschnitten, aber
sie konnten den Frühling nicht aufhalten". Der Begriff
"Ayllu" bezeichnet die indigenen Gemeinschaften, die ihre eigenen
Institutionen und Organisationsformen aufweisen. Sie haben ihre
eigene Rechtsprechung, ihr eigenes politisches System, Formen der
kollektiven Produktion und des Tauschhandels, ihre eigene
Religion, eine indigene Muttersprache, ihr traditionelles
Medizin- und Erziehungssystem, etc.
Um ihre kulturelle Identität und ihre Lebensweise
aufrechterhalten zu können, kämpfen die indigenen
Gemeinschaften für die Anerkennung ihrer Rechte in einer
Gesellschaft, die charakterisiert ist durch den kulturellen
Pluralismus, die Gleichwertigkeit aller Bevölkerungsgruppen
und durch das Recht der Mitbestimmung. Die Ayllus Boliviens
fordern die Anerkennung ihrer indigenen Autoritäten, den
Gebrauch von indigenen Sprachen in staatlichen Organisationen,
die Erschaffung von indigenen Universitäten und Schulen, die
Anerkennung der Religionen der Ayllus, die Anerkennung von
indigenen Territorien im Rahmen von kollektiven Landrechten (TCOs
= Tierras Comunitarias de Origen) und Ressourcen für
Entwicklungsprogramme in den Ayllus. In den letzten Jahren gibt
es die Tendenz in Bolivien, dass die indigenen Gemeinschaften und
die verschiedenen Ethnien des Landes verstärkt
zusammenarbeiten und gemeinsame Strategien und Forderungen
entwickeln, um ihre Ziele mit mehr Nachdruck verfolgen zu
können. Ein Ausdruck dessen ist beispielsweise der "Pacto de
Unidad" (Einheitspakt) zwischen indigenen Gemeinschaften des
Hoch- und des Tieflands (2004), bei dem gemeinsame
Vorschläge zur geplanten Verfassungsänderung erarbeitet
wurden.
Die Versammlung der Autoritäten in Quirpini wurde mit einer
katholischen Messe auf Quechua eröffnet. Der Direktor des
"Kulturzentrum Quechua-Guarani" in Sucre, Prof. Filemön
Ulpana, führt dies darauf zurück, dass die katholische
Messe lange Zeit die einzige Möglichkeit war, um sich zu
treffen und auszutauschen. Da alle anderen Veranstaltungen der
indigenen politischen Führer verboten waren, wurden unter
dem Deckmantel der Messe wichtige Informationen ausgetauscht. Auf
die katholische Zeremonie folgte in Quirpini das traditionelle
Ritual der Koa. Dabei wird eine Opfergabe - bestehend unter
anderem aus Kräutern, Kokablättern,
Süßigkeiten in Form von Symbolen, Schmalz und Alkohol
für die Pachamama (Mutter Erde) verbrannt, um ihr zu danken.
Bei der Versammlung wurden Arbeitsgruppen zu folgenden Themen
gebildet: Entwicklung der Ayllus, Landrechte,
Verfassungsänderung und die Bildung von indigenen
Gemeinden.
Im Bezug auf die Entwicklung der Ayllus wurde beschlossen, dass
ein Revitalisierungs- und Rückbesinnungsprozess auf die
traditionelle Medizin gefördert werden soll. Es wurde
mehrmals die Kritik geäußert, dass die steigende
Abhängigkeit vom okkzidentalen Medizinsystem
schädigende Konsequenzen für die Ayllus hat, da sie
ihre kulturelle Identität und ihre Autonomie schwächt
und finanzielle Abhängigkeitsverhältnisse schafft.
Weitere Ziele sind die Schaffung von Programmen für die
Bildung und die Verbesserung des Zugangs zu Informationen
für die Mitglieder der Ayllus. Dieser Punkt hat gerade in
der aktuellen Phase des politischen und sozialen Wandels in
Bolivien hohe Priorität, da sich die indigenen
Gemeinschaften bewusst sind, dass sie ihre Rechte nur dann gut
vertreten und im Staat partizipieren können, wenn sie
ausreichend vorbereitet und informiert sind. Im Bezug auf die
Erziehung und die Bildung wurde außerdem betont, dass diese
der Kultur und der Realität der Ayllus angepasst werden
sollen, mit der Begründung, dass das Unterrichtssystem des
Okzidents ihren Bedürfnissen und ihrer Wirklichkeit nicht
gerecht werden.
Über das Thema der Landrechte wurde der Konsens erzielt,
dass die Landrechte nicht nur das Recht auf den Boden beinhalten
sollen, sondern auf das gesamte Territorium, was auch die
natürlichen erneuerbaren und nicht-erneuerbaren Ressourcen
miteinschließt. Hierbei spielt das Übereinkommen 169
der ILO (International Labour Organisation) eine wichtige Rolle,
da es das Recht der originären Bevölkerung auf die
Mitbestimmung bei Entscheidungen, die ihr Territorium betreffen,
garantiert. Das internationale Übereinkommen beinhaltet auch
das Recht auf die Teilhabe an Gewinnen, welche durch
Aktivitäten auf originärem Boden erzielt wurden, und
das Recht auf Entschädigungen, falls indigener Lebensraum
verschmutzt oder zerstört wurde. Das Abkommen 169 wurde zwar
bereits vor Jahren ratifiziert, allerdings wird es in der Praxis
weitgehend ignoriert und nicht umgesetzt. Daher fordern die
indigenen Autoritäten dessen Anhebung auf Verfassungsrang
und seine zukünftige Respektierung und Einhaltung. Als
weiteres wichtiges Ziel wurde die Ernennung von kollektiven
Landrechten (TCOs - Tierras Comunitarias de Origen) erklärt,
welche gewisse Selbstbestimmungsrechte und Autonomien beinhalten.
Die indigenen Territorien wurden immer stärker fragmentiert
und reduziert. Von Seiten des Staates wurde versucht, das
kapitalistische System in den indigenen Gemeinschaften zu
implementieren und Landrechte in Form von individuellem Eigentum
zu vergeben. Die Ayllus stellen sich eindeutig gegen diese
Politiken und fordern kollektive und unveräußerliche
Rechte auf ihre Territorien, um ihre Lebensräume
zurückzugewinnen.
Die Verfassungsänderung ist ein essentielles Anliegen
für die indigenen Gemeinschaften. Bei der Versammlung in
Quirpini wurde festgehalten, dass die bisherigen Verfassungen
Boliviens ohne die Partizipation der indigenen Bevölkerung
geschrieben wurden. Da die Verfassung in den Augen der indigenen
Autoritäten ein Gesellschaftsvertrag aller Gruppen Boliviens
sein sollte, erkennen sie die derzeit gültige nicht als
legitim an. Es soll eine neue Verfassung geschrieben werden, bei
deren Erstellung alle Ethnien und Bevölkerungsgruppen
vertreten sind und Bolivien soll als plurinationaler,
partizipativer und die Gleichwertigkeit anerkennender Staat neu
erschaffen werden. Die Wahl von 26 Asambleistas (Teilnehmerinnen
an der verfassunggebenden Versammlung), welche die indigenen
Ethnien Boliviens vertreten und nach eigenen Normen und
Gewohnheiten gewählt werden, soll umgesetzt werden. Wichtige
Ziele, die von den indigenen Repräsentanten im Rahmen der
Verfassungsänderung angestrebt werden sollen, sind die
Autonomie und die selbstbestimmte Entwicklung der Ayllus, die
Nationalisierung der natürlichen Ressourcen, die
Rückgewinnung der kollektiven Landrechte und die
verstärkte Partizipation der originären
Bevölkerung in staatlichen Institutionen und bei nationalen
Entscheidungen.
Ein weiterer wichtiger Themenbereich ist die Anerkennung von
indigenen Gemeinden innerhalb der staatlichen Gemeinden. Dies
betrifft die politische Strukturierung auf lokaler Ebene und eine
Neuafteilung der Kompetenzen zwischen den staatlichen und den
indigenen Autoritäten. Es wird gefordert, dass das Amt eines
Sub-Bürgermeister etabliert wird, welcher Entscheidungen
für seine indigene Gemeinde treffen kann. Dadurch
würden die Funktionen des Bürgermeisters im Bereich der
indigenen Gemeinde eingeschränkt. Die Zusammenarbeit
zwischen den indigenen und den staatlichen Organisationen wird
für bestimmte Aktivitäten als notwendig und sinnvoll
identifiziert, beispielsweise für die Erstellung von
Entwicklungsplänen auf Gemeindeebene. Die Existenz der
ländlichen Gewerkschaften würde durch die Anerkennung
von indigenen Gemeinden in weiterer Folge in Frage
gestellt.
Die Versammlung der indigenen Führungspersonen endete mit
einem Fest, bei dem lokale Tänze in Trachten, begleitet von
traditionellen Musikinstrumenten, vorgeführt wurden.
Tänze wie der Puqllay und der Karneval haben rituelle
Bedeutungen. Der Tanz des Karnevals beispielsweise ist der
Pachamama (Mutter Erde) und ihrer Fruchtbarkeit gewidmet. Die
dabei verwendeten weißen, die grüne und die gelbe
Fahne symbolisieren die Reinheit, die Pflanzenwelt und die Mutter
Erde. Der Tanz symbolisiert die Bitte um eine gute Zukunft und
eine reiche Ernte. Die verschiedenen Tänze wurden mit
Gesängen über das Zusammentreffen begleitet, wobei die
wichtigsten Themen noch einmal zusammengefasst wurden. So konnte
man Texten über Evo Morales und die bolivianische
Verfassungsänderung - begleitet von traditionellen Melodien
- lauschen, welche die Hoffnungen und Erwartungen der indigenen
Gemeinschaften nach Jahrhunderten der Unterdrückung
widerspiegeln.
Evo Morales: Ein Portrait
Von Robert Lessmann
Evo Morales Ayma wurde am 26. Oktober 1959 im Dorf Iasllave bei
Oruro geboren. Zur Schule waren es zehn Kilometer zu Fuß.
Es gab keine Bänke. Die Kinder saßen auf Stapeln von
Lehmziegeln. Nur drei von sieben Geschwistern überlebten.
"Oft gab es nichts zu essen", erinnert er sich: "Aber wir waren
nicht arm. Das ging allen so." Mit 13 ging er nach Oruro und
arbeitete neben der Schule in einer Bäckerei, verdiente Geld
als Maurer und Trompeter. Als er zum Militärdienst
eingezogen wurde, ging seine Familie in den Chapare, um Koka
anzubauen. Auf dem Altiplano wollte man nicht mehr bleiben. "Wenn
es auch der Frost war oder der Hagel, der unsere Ernte
vernichtete, niemals war der Staat da oder die Regierung, um uns
zu helfen. Mir wurde damals schon klar, dass wir selbst
kämpfen mussten, dass wir dafür verantwortlich waren,
uns selbst zu verteidigen."
Nach dem Militärdienst folgte Evo seiner Familie in den
Chapare nach, half zunächst seinem Vater mit der Koka, der
ihn im Gegenzug beim Studium in Cochabamba unterstützte.
Schließlich kaufte er selbst Land und baute Koka an. In
seinem sindicato war er Sportbeauftragter, organisierte
Fußballturniere, was ihm bei den Mädchen den Beinamen
"der junge Fußballer" eintrug. Im Jahr 1984 wurde er zum
dirigente gewählt, zum Chef seines sindicatos. Er war damals
der jüngste unter den dirigentes. Seit 1991 steht er dem
Koordinationskomitee der sechs cocalero-federaciones des Chapare
vor. Seit 1997 ist er Parlamentsabgeordneter.
Als Verantwortlicher für Proteste wurde er immer wieder
verhaftet und deportiert. Einmal entzog man ihm sein
Abgeordnetenmandat, weil man ihn für gewalttätige
Zusammenstöße verantwortlich machte, bei denen
Polizisten ums Leben gekommen waren. Das brachte ihm bei den
Wahlen 2002 zusätzliche Stimmen ein, weil man den
Mandatsentzug als ungerechtfertigt ansah. Immer wieder wurde er
auch beschuldigt, mit dem Drogenhandel unter einer Decke zu
stecken. Er weist das entschieden zurück. Dagegen spricht
neben seinem bescheidenen Auftreten (Luxus scheint ihm von Natur
aus gleichgültig zu sein) vor allem eines: Niemals wurden
diese Vorwürfe bewiesen, nie wurde auch nur Anklage
erhoben.
Zitate aus dem Kapitel: "Ein Bauernführer erzählt"
in: Robert Lessmann: "Zum Beispiel Bolivien", Lamuv-Verlag,
Göttingen, 2004.
Aus pogrom-bedrohte Völker 236 (2/2006)