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Kurden in der Türkei

Flucht aus der Müllstadt

Von Raffaele Oriani

April 2002

Ein Bergvolk, das es sein darf - nicht Volk, nicht in den Bergen: Millionen Kurden leben in der Türkei unter miserablen Zuständen, ohne Wasser und Kanalisation. In Italien kommen sie zu Hunderten an; sie geben alles, um auf einen LKW oder in einem Boot unterzukommen. Ihr Traum jedoch ist ein anderer, wo auch immer sie sich befinden: In ihre Dörfer zurückzukehren, aus denen sie vertrieben wurden.

Der Flüchtlingsstrom ist in Wahrheit nur ein Tropfen, nur das ferne Echo einer Tragödie, die sich seit Jahren an den Peripherien der wichtigsten türkischen Städte abspielt. Es fällt der Tropfen, die illegalen Einwanderer kommen an Land und reizen die allzu reizbaren Nerven der Hüter vaterländischen Bodens. Am 21. Januar 2002 werden 52 Kurden im Laderaum eines LKW aufgefunden, das Mandelschalen hätte transportieren sollen, am 31. Januar legt in Gallipoli ein Schiff an, das 477 Flüchtlinge an Bord hat, in den gleichen Tagen gibt die Staatsanwaltschaft von Triest Ermittlungen über eine Bande bekannt, die angeblich mehr als 20 Flüchtlinge pro Tag über die Wälder des Karst nach Italien schafft; am 19. März werden von der Finanzpolizei in einem Anhänger, der "eigentlich Polystyrol transportieren sollte", 48 illegale Einwanderer aufgegriffen. Kurden offensichtlich, einige irakisch, die Mehrheit von ihnen türkisch: Es scheint eine Invasion, ein Exodus. Aber im Grunde ist es nichts anderes als ein nervendes Tröpfeln. Denn der wahre, erschöpfte Strom der Zwangsmigranten bleibt in der Türkei: In Istanbul, Ankara, Diyarbakir oder Konya. Hier, an den Peripherien der anatolischen Städte, verbringen Millionen Kurden ihr Leben und nähren sich von Ressentiments und Angst, um eine Mitnahme in den Westen bettelnd; doch träumen sie mit offenen Augen die Felder, die Ziegen, die Kälte und die Anstrengungen der Dörfer, aus denen sie vertrieben wurden. Aber wenn es schwierig ist, nach Italien zu gelangen, so ist es unmöglich, in die Dörfer jenes Landes zurückzukehren, das "Kurdistan" zu nennen verboten ist.

"Für die türkischen Militärs sind wir alles Terroristen", ärgert sich Baymal, der seit 30 Jahren in Istanbul lebt und versucht hat und es weiter versuchen wird, aus einem Land zu fliehen, das ihn nicht will. "Ich komme aus der Region von Erzurum und habe die ganze Türkei durchquert, denn wenn du dort, wo ich herkomme, Kurde bist, ist jeder Vorwand gut, um dich in die Kaserme zu holen, dich zu schlagen, nach deinem Vater, Bruder, nach deinen Freunden zu fragen. Um verdächtigt zu werden, genügt es manchmal, zwei Brote zuviel zu kaufen, denn sie wissen, wieviele Leute bei dir in der Familie mitessen, und wenn ihre Rechnung nicht stimmt, so heißt das, dass du Vorrat für die Guerilla sammelst." Baymal ist geflohen, um in Ruhe sein Stück Brot essen zu können. Hunderttausende, wenn nicht Millionen sind geflüchtet, weil sie alles verloren hatten: Laut einer Untersuchungskommission des türkischen Parlaments wurden in den 90er Jahren 3.184 Dörfer jener Gegend zerstört, die "politically correct" von Ankara weiterhin "Südostanatolien" genannt wird. Nach Information verschiedener Menschenrechtsorganisationen beträgt die Zahl der Flüchtlinge aus den von der türkischen Armee bombardierten, verminten, verbrannten Dörfern zwischen zwei und drei Millionen.

Istanbul ist eine immense Metropole, ständig schwankend zwischen Champs-Elysées und Spanischem Viertel, unentschlossen, ob sie auf die kühle Faszination der großen Hotels setzen soll oder auf die aufregende Vitalität ihrer vielen Märkte. Aber jenseits der Boutiquen von Beyoglu, der Moscheen von Eminönü und der Lokale von Aksaray zerfällt die Stadt; die Autobahn läuft an einem vorbei und die Peripherie kommt auf einen zu, um in Ayazma aufzuhören, wo der Vorort zum Müllort wird. Nichts als Schutt, Armut, dazu der Ehrgeiz und die Angst, Kurde zu sein. Denn Ayazma ist eine der zahlreichen Auffanglager für Flüchtlinge aus den Dörfern. Da ist der Flüchtlingsstrom: Kadri, der von seinem Dorf in der Nähe von Bingoel erzählt und von den Militärs, die an einem Oktobertag brüllend hereinkamen: "Weg von hier!", "aber wohin?", "einfach weg" - nach wenigen Tagen wurde berichtet, dass vom Dorf kein Stein auf dem anderen geblieben war. Oder Mehmet - er kommt aus der Gegend von Van, ist seit sechs Jahren in Ayazma und war einer der ersten, die sich ein Haus mit Mauern gebaut hat, um dann zusehen zu müssen, wie es von der Polizei abgerissen wurde; er hat es wieder aufgebaut und hat dann wieder die Trümmer zusammengesucht, bis er endlich verstanden hat, wem er wieviel zahlen musste, damit man ihn endlich in Ruhe ließe. Die Türken nennen diese Häuser "gecekondu"; jene Behausungen, die in einer Nacht gebaut werden und in Ayazma den Flüchtlingen jenes Dach über dem Kopf geben, das in so vielen anderen Lagern ein Traum ist.

Statistiken gibt es keine, aber beim Hilfsverein Göc versichert man, dass in Istanbul, Ankara und in den Städten im Südosten noch Tausende Flüchtlinge in Baracken, Zelten oder in den Kellern der Peripherie leben. In Ayazma hat man ein Dach über dem Kopf, doch reicht es nicht, um Mehmet, seiner Frau und seinen fünf Kindern das Lachen wieder zu geben. Es gibt zwar das Haus, doch fehlt das Trinkwasser ("der Tankwagen kommt einmal im Monat vorbei, hier misst man den sozialen Status in Behältern und Plastikkanistern"), für das Abwasser gibt es keine Abdeckungg ("glauben Sie mir, im Sommer könnte man an der Hitze, an den Insekten und am Gestank zugrundegehen"), die Straßen sind aus Lehm, Elektrizität ist Diebesgut. Der Müll düngt den Boden, färbt die Umwelt und macht die Ziegen neugierig. Und dennoch träumen in Ayazma, wie in den vielen anderen Lagern, nur ganz wenige vom Wohlstand und den Konsumgütern des Westens. Alle hoffen, in ihre Berge zurückkehren zu können, in ihre Dörfer, "wo wir", so erzählt Mehmet, "die Erde für drei Monate bearbeiteten und die Familie damit für zwölf Monate ernährten." Hier aber stirbt nicht die Hoffnung zuletzt, und so finden sich viele in den Hallen der Hotels um den Topkapi, um die Ersparnisse einer ganzen Familie gegen eine Mitnahme im Laderaum eines LKW oder eines Schiffes umzutauschen. Mit ein wenig Glück kommt der Tropfen so in Europa an und wird dort mit einem x-ten Flüchtlingsstrom verwechselt.

Seit 1999 hat die Türkei offiziell den langen Weg begonnen, der ihr die Türen der EU öffnen sollte. Es ist ein fernes Ziel, das das Land seit 1959 anstrebt und an das 70% der Bevölkerung glauben. Und 100% der maßgebenden Gesellschaftsschichten. Doch ist es schwer, den Weg nach Europa zu finden, solange man Millionen von Mitbürgern das Leben unmöglich macht, solange man sich das Recht nimmt, jeden ins Gefängnis zu werfen, der eine "separatistische" Gesinnung zum Ausdruck bringt, wenn man die Armee mit der Lösung eines Problems beauftragt, von dem ein Fünftel der Bevölkerung betroffen ist.

Europäische Türkei? Schön wär's. Wer heute etwas über die Kurden erfahren will und über die Menschenrechte, wird unweigerlich auf eine Fülle von Haftentlassenen stoßen. Es wird wohl Zufall sein, doch sowohl in Istanbul als auch in Italien hatten alle Gesprächspartner des Journalisten mindestens ein halbes Dutzend Verhaftungen hinter sich. Nicht nur die jungen Kurden, die in einem Betreuungszentrum in Triest ihre Narben als Beweis für die Folterungen zeigen. "Der Betroffene", heißt es beispielsweise in einem Befund der triestiner Gesundheitsbehörden, "hat Verletzungen von zahlreichen Peitschenhieben am Rumpf [...] und den rechten Fuß schmerzvoll versteift, was wahrscheinlich auf elektrische Stöße zurückzuführen ist" - also Elektroschock. Auch die Mitarbeiter der IHD, der türkischen Amnesty, bestätigen die Gewalttätigkeit und Aufdringlichkeit von Polizei und Militär: "Sie können einen verhaften, nur weil man in einer Pressekonferenz vom Recht der kurdischen Flüchtlinge auf Rückkehr gesprochen hat. Oder sie lassen einen von den berüchtigten Geheimtrupps abholen, und da weiß einer dann wirklich nicht, wohin er kommt." Nach Jahren brutaler Unterdrückung der kurdischen Unabhängigkeitsbewegung und des kurdischen Terrorismus scheint der asiatische Hirschbock plötzlich unbeweglich, von der Brüsseler Öffnung verblüfft und unfähig, zwischen Demokratie und Absolutismus zu wählen, zwischen Rechten für das Individuum und Sippenrecht, Staatsrecht, Militärrecht. "Seit wir die mongolischen Hochplateaus verlassen haben", sagt ein Kolumnist, der seit jeher auf der schwarzen Liste der Militärs steht, "haben wir Türken uns eigentlich immer in Richtung Westen bewegt. Jetzt müssen wir den letzten Schritt machen: Wir müssen zwischen Militärdemokratie und effektiver Demokratie entscheiden." Und das beste Barometer sind gerade sie, die Kurden von Ayazma. Sie verlangen nicht mehr Unabhängigkeit, sondern nur Respekt. Und die Möglichkeit, auf LKWs und Schiffe verzichten zu können, um in die Kälte zurückzukehren, zu den Anstrengungen und zum Zauber ihrer Berge.

Aus "Io Donna", Beilage zu "Corriere della sera", Nr. 17/27. April 2002. Übersetzung: Mateo Taibon. Aus "pogrom/bedrohte Völker" (Nr. 217 - 1/2003).


Siehe auch:
* www.gfbv.it: www.gfbv.it/2c-stampa/02-2/020823de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/02-2/020611de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/01-3/011116de.html | www.gfbv.it/3dossier/armeni/010720armeni.html | www.gfbv.it/3dossier/kurdi/kurtur-de.html

* www: www.yezidi.net | www.iccnow.org

Letzte aktual.: 25.2.2004 | Copyright | Suchmaschine | URL: www.gfbv.it/3dossier/kurdi/orianikur.html | XHTML 1.0 / CSS | WEBdesign, Info: M. di Vieste
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