Tilman Zülch, Sarah Reinke und Haydar Karaboya
Bozen, Göttingen, 25 Februar 2004
Der Nationalitätenstaat Türkei strebt in die
Europäische Union. Sie würde ca. 70 Millionen neue
Bürger in die Gemeinschaft einbringen. Unter ihnen sind nach
Schätzungen der Gesellschaft für bedrohte Völker
allein 15-20 Millionen Kurden, d.h. jeder vierte türkischer
Bürger spricht Kurdisch oder ist kurdischer Abstammung. Ohne
eine grundsätzliche Lösung dieses dann
größten und schwierigsten Nationalitätenproblems
der EU würde Europa mit möglicher Fortsetzung des
türkisch-kurdischen Bürgerkrieges konfrontiert,
mindestens aber mit ständigen Unruhen, die sich auch in
anderen Ländern Europas mit Einwanderergruppen aus der
Türkei niederschlagen würde.
Aus Sicht zahlreicher europäischer Institutionen und
Regierungen ist ferner die bis vor kurzem noch alarmierende
Situation der christlichen Minderheiten relevant, obwohl diese
"dank" der jungtürkischen Bewegung (1914/15), der Herrschaft
Atatürks (vor allem in den 20'er Jahren) sowie während
der Zypern-Krisen durch ethnische Säuberung und genozidale
Aktionen von 25% auf etwa zwischen 0,1 und 0,15 % der
türkischen Bevölkerung reduziert wurde. Die EKD
(Evangelische Kirche Deutschlands) geht von "etwa 150.000
Christen armenischer, syrischorthodoxer und griechisch-orthodoxer
Herkunft" aus, während das Katholische Missionswerk Missio
jedoch die Zahl der Christen mit nur ca. 100.000 Christen angibt.
Die Gesellschaft für bedrohte Völker geht davon aus,
daß die Zahl etwa in der Mitte liegen könnte.
arabisch-orth. Christen | 10.000 | 95% Provinzen Hatay und Mersin |
armenisch-kath. Christen | 2.000 | 95% Istanbul |
armenisch-orth. Christen | 60.000 | 95% Istanbul |
chaldäische Christen | 300 | 95% Istanbul |
griech-orth. Christen | 2.-3.000 | 95% Istanbul |
röm-kath. Christen | 15.000 | - |
syrisch-kath. Christen | 1.250 | 95% Istanbul |
syrisch-orth. Christen | 10.000 | Istanbul/Tur Abdin |
Andere | 10.-15.000 | - |
Die Gesellschaft für bedrohte Völker erinnert daran, daß der kurdisch-türkische Krieg (1984- 1999) 40.000 Opfer gefordert hat, unter ihnen fast 90 Prozent Angehörige der kurdischsprachigen Volksgruppe. Über 3.428 Dörfer wurden während der Kämpfe zerstört, fast zweieinhalb Millionen Menschen flüchteten oder wurden von der türkischen Armee vertrieben. Sie leben im Elened am Rande der Großstädte. 6.5000 Kurden sind bis heute politische Gefangene, die wegen "separatistischer Tätigkeiten" inhaftiert sind. Unter ihnen sind Menschen, die an Demonstrationen teilgenommen haben, Flugblätter und anderes Propagandamaterial verteilten, bei Razzien festgenommen und willkürlich beschuldigt wurden, oder Gewalt gegen Sicherheitskräfte anwandten.
Die Türkei war und ist noch kein demokratischer
Rechtsstaat im westlichen Sinne. Aber sie hat erste Reformen
erlassen und ist so EU-Richtlinien gefolgt. Bisher war der
Nationale Sicherheitsrat die höchste politische Instanz. Er
hat Regierungen abgesetzt, Ausnahmezustandesgesetze erlassen und
den Justizapparat instrumentalisiert. Die Zuständigkeit des
Nationalen Sicherheitsrates wurde beschnitten, Entscheidungen des
Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte der Weg
geebnet, das Verbot von Parteien gesetzlich erschwert, harte
Maßnahmen gegen Folterer angedroht, die Todesstrafe zu
Friedenszeiten abgeschafft.
Die Situation der Minderheiten wurde wenigstens formal durch
Erlasse erleichtert, der Straftatbestand "Propaganda zur
Zerstörung der territorialen Einheit des Staates" wurde
aufgehoben. Es wurden gesetzliche Grundlagen für den
Gebrauch der kurdischen Sprache in Privatsendern, den
Kurdischunterricht und den Gebrauch nicht-türkischer
Vornamen geschaffen, eine Amnestie für PKK-Angehörige
verkündet und die Rückkehr der vertriebenen kurdischen
Bauern zugesagt. Schließlich wurden Bestimmungen, die vor
allem religiösen nicht muslimischen Minderheiten, d.h. vor
allem christlichen Minderheiten den Erwerb von Immobilien
erschwerten, aufgehoben. Die Situation der Kurden wie der
christlichen Volksgruppen in der Türkei bietet sich deshalb
als Prüfstein für die Umsetzung der Reformen an. In
diesem Zusammenhang ist es außerordentlich bestürzend,
dass der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV)
für das Jahr 2003 eine niederdrückende Bilanz von
Menschenrechtsverletzungen vorliegt.
a) Die Kurden-Verfolgungsbilanz 2003 .:: oben ::.
Obwohl die militärischen Auseinandersetzungen im
kurdischsprachigen Südost-Anatolien weitgehend eingeschlafen
sind, müssen wir für das vergangene Jahr eine
erschreckende Anzahl von Menschenrechtsverletzungen vor allem an
Angehörigen des kurdischen Bevölkerungsviertels zur
Kenntnis nehmen. Die folgenden Zahlen gehen unter anderem auf den
türkischen Menschenrechtsverein (IHD/ Insan Haklari
Dernegi), Sektion Diyarbakir zurück. Sie werden im
Wesentlichen von anderen Institutionen, Gruppen
bestätigt:
Tote bei militärischen Gefechten: 105 Tote
Extralegale Hinrichtungen: 84 Tote
Vorwurf der Folter: 502 Fälle
Folter in Gefängnissen: 26 Fälle
Verschwindenlassen: 7 Fälle
Widerrechtliche Verhaftungen: 574 Fälle
Verletzungen des Eigentumsrechts: 3.096 Fälle
Schließung von Radiostationen: 1 Fall
Schließung von zivilgesellschaftlichen Einrichtungen: 2
Fälle
Verbote von kulturellen Aktivitäten: 36 Fälle
Konfiszierte Publikationen: 42 Fälle
Der Justizminister Cemil Cicek hat auf eine Anfrage des CHP
Abgeordneten für Ankara, Yakup Kepenek, zugegeben, daß
die Türkei in den 392 Verfahren, die bislang mit dem Vorwurf
der Folter vor den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof
gebracht wurden, eine Summe von Entschädigungen in Höhe
von 4,3 Millionen Euro an die Opfer zahlen mußte. Weiter
149 Klagen sind zurzeit vor dem Gerichtshof noch anhängig.
Die Menschenrechtsorganisation TIHV meldet, daß bis Ende
November 2003 866 Personen um Hilfe wegen erlittener Folter
gebeten hatten. Unter diesen Opfern waren 32 Kinder.
b) Die Kurden - ungebrochene Unterdrückung von Sprache und Kultur .:: oben ::.
Schon die konkreten Bestimmungen der Umsetzung dieser Gesetze
demonstriert ihre Halbherzigkeit. Der sogenannte Hohe Rat
für Radio- und Fernsehstationen (RTÜK) hat eine neue
Fassung der Verordnung "Sendungen in Sprachen und Dialekten, die
türkische Bürger im alltäglichen Leben benutzen"
verfasst. Nach der neuen Verordnung dürfen nur landesweite
Sender in anderen Sprachen als Türkisch Sendungen
ausstrahlen. Die Radioprogramme dürfen am Tag nicht
länger als 45 Minuten und in der Woche nicht länger als
vier Stunden dauern. Für Fernsehsender wurden die Programme
auf täglich 30 Minuten und wöchentlich drei Stunden
begrenzt. Es dürfen zudem keine Programme zur
Sprachvermittlung gesendet werden. Seit der Verabschiedung der
Reformen ist ein halbes Jahr vergangen und es gibt noch keine
Radio- oder Fernsehprogramme in anderen Sprachen oder Dialekten,
keine Angebote von Sprachkursen. Im Gegenteil kommt es nach wie
vor zu Schikanen beim Gebrauch des Kurdischen.
Die folgenden Fälle sollen das verdeutlichen:
Am "Tag der Menschenrechte", dem 10. 12. 2003 organisierte die
Menschenrechtsorganisation IHD eine Veranstaltung, auf der Flyer
mit der Aufschrift "Der Frieden wird siegen, jeder ist anders,
jeder ist gleich(berechtigt)" in Türkisch und Kurdisch
verteilt wurden. In Siirt wurde in drei Sprachen eine
Presseerklärung veröffentlicht, in Mersin wurde der
Flyer in 11 Sprachen verteilt. Daraufhin beschloß das
Strafgericht von Van die Flyer zu konfiszieren, so auch das
Strafgericht in Hakkari. Am nächsten Tag wurden auch in
Adiyaman, aufgrund des Beschlusses in Van, die Flyer konfisziert,
danach auch in Mardin und in Bursa. In Ankara sollte der IHD
Generalsekretär Hüsnü Öndül vor einer
Grundschulklasse eine Konferenz über die Reformen zu halten.
Die Sicherheitsbehörden zwangen den Schuldirektor die
Veranstaltung abzusagen.
Der IHD gibt bekannt, nach übereinstimmenden berichten aus
Türkisch-Kurdistan wurde bis Ende Dezember noch kein
einziger Kurdisch-Kurs eingerichtet. Als Grund hierfür wurde
angegeben, dem Erziehungsministerium sei es nicht gelungen, auch
nur ein kurdisches Curriculum übersetzen zu lassen. Einer
Sprachschule in Südanatolien verweigerten die Behörden
jedoch auch die Genehmigung für einen Kurdischkurs mit der
Begründung, die Klassentüren seien fünf Zentimeter
schmaler waren als vorgeschrieben (Frankfurter Rundschau,
19.11.2003).
Im Rahmen des Reformpaketes sechs wurde das Recht
eingeräumt, auch Kurdische Namen zu gebrauchen. Mitglieder
der Partei DEHAP und Angehörige von
Nichtregierungsorganisationen sind immer wieder an die Gerichte
herangetreten, mit der Intention, ihre türkischen Namen
durch kurdische zu ersetzen und die Buchstaben -w, -q, -x, die im
Türkischen nicht existieren anzuwenden. In den meisten
Fällen erklärten die Gerichte, sie seien nicht
zuständig für Namensänderungen. Unter dem Titel
"Kurden: Freiheit mit beschränkter Nutzung", erschien in der
österreichischen Zeitung Die Presse am 31.12.2003 ein
Bericht über die Umsetzung der Sprachenrecht der Kurden in
der Türkei. Darin heißt es, "die Angehörigen der
Minderheit sollen von den ihnen gewährten Freiheiten
möglichst keinen Gebrauch machen. Andernfalls setzen sie
sich dem Verdacht des Separatismus aus." So hat der
türkische Major der Gendarmen von Diyabarkir, Hizir Keskin,
Auskunft über Personen verlangt, die ihre türkischen
Namen in Kurdische ändern oder Sprachkurse für Kurdisch
abhalten wollen. Die Folge dieses Vorgehens könnte sein,
dass die Gefahr, als Terrorist verdächtigt zu werden, nicht
wenige davon abschreckt, ihre Rechte wahrzunehmen. Der Major,
fasst die Tageszeitung zusammen, sei kein Einzelfall: "Land auf,
Land ab tun sich die türkischen Staatsorgane schwer damit,
das kleine Quantum an Freiheit, das den Minderheitensprachen
gewährt wurde, auch wirklich zuzulassen.
Die Zeitung Hürriyet vom 13.01.2004 meldet, der Vorsitzende
der HAK-PAR, Abdulmelik Firat, sei zu sechs Monaten Haftstrafe
verurteilt worden, weil er bei einer Pressekonferenz Kurdisch
gesprochen habe. Die Haftstrafe wurde dann in eine Geldstrafe
umgewandelt. Bereits einmal war sein Stellvertreter, Ibrahim
Güclü, aus diesem Grunde verurteilt worden. Eine
positive Nachricht vermeldet der Menschenrechtsverein TIHD Ende
Januar 2004: Am 19. Januar wurde vom Bildungsministerium das
Programm für den kurdischen Sprachunterricht
vervollständigt. Ein Kurs soll zehn Wochen dauern und 18
Stunden die Woche umfassen. Im Unterricht sollen keine dem
Grundgesetz zuwider laufenden, oder separatistische Inhalte
vermittelt werden.
Die Studenten, die im Januar 2002 in Malatya eine Anfrage
bezüglich kurdischen Sprachunterrichts an der
Universität gestellt hatten, von denen 20 die
Universität daraufhin wieder verlassen mussten und 14 eine
einjährige Pause einlegen mussten, wurden rehabilitiert. Der
damalige Beschluss wurde aufgrund der Gesetzesänderungen
aufgehoben.
c) Die Kurden - keine Amnestie für politische gefangene .:: oben ::.
Bei den 6.500 kurdischen-politischen Gefangenen in der
Türkei, unter ihnen die kurdischtürkische
Parlamentarierin Leyla Zana und drei Kollegen handelt es sich im
Wesentlichen um Verurteilte oder Untersuchungshäftlinge, die
wegen Delikten wie öffentliche Meinungsäußerung,
Verteilen von kritischen Flugblättern, Teilnahme an
Demonstrationen, Veröffentlichung von kritischen Artikeln in
Zeitungen oder auch nur dem Gebrauch der kurdischen Sprache
inhaftiert wurden. All diese Delikte sind in keinem anderen Staat
Europas strafbar und Rechte wie freie Meinungsäußerung
oder Versammlungsfreiheit sind durch die Verfassung
geschützt und werden nicht wie in der Türkei als
terroristische Aktivitäten verfolgt. Provokativ hat am
Freitag, drei Tage vor der Ankunft des Bundeskanzlers in der
Türkei das zuständige Gericht in Ankara bei einer
Revisionsverhandlung die Freilassung der vier kurdischen
Parlamentarier abgelehnt.
Die wegen des sogenannten "Terrorparagraphen" inhaftierten 6.500
kurdischen-politischen Gefangenen wurden entgegen internationalen
Erwartungen nicht in die im August 2003 von der türkischen
Regierung erlassene Teil-Amnestie einbezogen. Diese hatte die
Freilassung von mehreren tausend politischen Gefangenen
vorgesehen. Viele der Betroffenen sitzen seit vielen Jahren in
türkischen Gefängnissen und hoffen nun auf ihre baldige
Freilassung. Die PKK fordert auch eine Amnestie für die
Spitzenkader der Organisation, was von der türkischen
Regierung aber abgelehnt wird.
d) Keine Rückkehr in die zerstörten Dörfer .:: oben ::.
2, 5 Millionen der etwa 15 Millionen Kurden in der Türkei
wurden im Zuge des Krieges zwischen der Türkei und der
Radikalen Kurdischen Arbeiterpartei PKK systematisch aus ihren
Dörfern vertrieben. Insbesondere "wegen der geographischen
Lage der Region", gemeint ist der mehrheitlich von Kurden
bewohnte Osten und Südosten der Türkei, "sowie der
landschaftlichen Unebenheiten und der verstreut liegenden
Siedlungen" habe der Staat die Sicherheit der Bewohner dieser
Siedlungen nicht ausreichend gewährleisten können,
lautet die offizielle Begründung für die Vertreibungen.
Daher hätten die Sicherheitsbehörden vor Ort die
Bewohner dazu bewegt, diese Siedlungen aufzugeben. Die Zahl der
Vertriebenen beläuft sich nach Angaben der 1998 einberufenen
parlamentarischen Untersuchungskommission unter Vorsitz des
ehemaligen Abgeordneten von Diyarbarkir Hasim Hasemi
ungefähr auf 2,5 Millionen Menschen aus 3.428
Dörfern.
Renommierte Menschenrechtsorganisationen, wie der IHD
(Menschenrechtsverein der Türkei), Göc-Der (Vereinigung
für Rückkehr der Flüchtlinge), TIHV
(Türkische Menschenrechtsstiftung) schätzen diese
Zahlen allerdings weit höher ein. Die kurdischen Opfer
wurden ihrer Lebensgrundlage und ihre soziale Umwelt beraubt. Sie
fristen am Rande der Großstädte in bitterster Armut
unter zumeist menschenunwürdigen und erbärmlichen
Verhältnissen ihr Dasein. Sie warten ohne jegliche
Perspektive noch immer darauf, in ihre Siedlungsgebiete
zurückkehren zu können. Trotz der von Seiten des
Staates vollmundig als "umfassendes Aufbauprogramm des Ostens und
Südostens" angekündigten Projektes, sind in Sachen der
vertriebenen Flüchtlinge, des Wiederaufbaus ihrer
zerstörten Siedlungsgebiete und schließlich ihrer
Rückkehr, bislang keinerlei konkrete Fortschritte erzielt
worden.
Eigeninitiativen weniger Menschen, mit Hilfe von
Menschenrechtsorganisationen in ihre nach der Zerstörung von
offiziellen Seiten zu "verbotenen Zonen" erklärten
Dörfer zurück zu kehren, stehen oftmals konträr
zum staatlichen Interesse am Wiederaufbau. Als Probleme kommen
die mangelnder Bereitschaft der Behörden zur Zusammenarbeit,
bürokratischen Schikanen sowie Übergriffe der so
genannten einst vom Staat aufgebauten, mit Waffen versehenen
"Dorfschützer" erschwerend hinzu. Angesichts der
hoffnungslosen Lage der Flüchtlinge, sind in erster Linie
die gesellschaftlichen Kräfte in der Türkei, die EU und
die deutsche Bundesregierung wegen ihrer Mitverantwortung
aufgerufen, sich endlich und ernsthaft des Schicksals der 2,5
Millionen kurdischen Binnenflüchtlinge anzunehmen. Konkrete
Wiederaufbauprojekte sind notwendig, um die Stagnation in der
Kurdenregion zu durchbrechen und auf diese Weise den Wiederaufbau
sowie die Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimat nach
und nach zu ermöglichen.
Die Einwohner der zerstörten Dörfer wurden ins
Ungewisse vertrieben und siedelten sich in neu entstehenden
Elendsquartieren der Großstädte der Türkei, vor
allem in deren kurdischen Sprachgebiet ein. Die 2,5 Millionen
Flüchtlinge sind weitgehend verelendet, leben ohne
sanitäre Einrichtungen, ohne sauberes Trinkwasser und ohne
medizinische Versorgung. Etwa Dreiviertel dieser Flüchtlinge
sind arbeitslos. Gut die Hälfte der Kinder besucht entweder
keine Schule oder hat nach kurzer Zeit die Schulausbildung
beenden müssen. Die Familien leben überwiegend in
Zelten, Baracken und anderen Notunterkünften. Die
Flüchtlinge im Westen der Türkei erleiden oftmals
verschiedene Formen der offenen Diskriminierung und werden Opfer
polizeilicher Razzien.
Bettelnde Flüchtlingskinder in bestimmten Vierteln der
Großstädte wie Istanbul gehören inzwischen zum
gewohnten Alltag. Weit verbreitet ist die Kinderarbeit bis
hinunter zu Vier- und Fünfjährigen. Obwohl keine
genauen Statistiken vorliegen, berichten Ärzte über
eine unter den Flüchtlingen stark angestiegene
Kindersterblichkeit. Die Selbstmordrate vor allem der Frauen
liegt in den Elendsquartieren des türkischen Kurdistan
zehnmal so hoch wie in der Westtürkei. Krankheiten wie
Anämie und Rachitis grassieren. Notwendige Impfungen von
Kindern werden kaum durchgeführt. Neunzig Prozent der
Flüchtlinge möchte nach Angaben der
Menschenrechtsorganisation Göc- Der wieder in ihre
Dörfer zurückkehren.
e) Christendiskriminierung nicht beendet .:: oben ::.
Beobachter der Situation der assyro-aramäischen Christen
vor allem in Tur Abdin berichten von vielen Erleichterungen ihrer
Situation. Flüchtlingen und Vertriebene sogar aus Westeuropa
konnten in einige Dörfer zurückgehen. Der Unterricht in
aramäischer Sprache wird nicht mehr behindert. Allerdings
beklagt man, daß dieser Unterricht ebenso wenig offiziell
anerkannt ist, wie die Volksgruppe insgesamt. Die Behörden
machen Rücksiedlern Versprechungen, verzögern aber
vielfach Baugenehmigungen, die Rückgabe von
Grundstücken sowie den Wiederaufbau der zerstörten
Infrastruktur.
Außerordentlich bedenklich erscheint der Gesellschaft
für bedrohte Völker eine neue rassistische Kampagne des
türkischen Erziehungsministeriums unter Führung des
Ministers Dr. Hüseyin Celik. Die neuen Dekrete des
Ministeriums werden von der türkischen Lehrerunion ebenfalls
als rassistisch und chauvinistisch bezeichnet. Danach werden in
Neuauflagen türkischer Schulbüchern die Volksgruppen
der Armenier, der Pontosgriechen und der Syrisch- Orthodoxen
Christen (Assyrer-Aramäer) als Spione, Verräter und
Barbaren bezeichnet, während man Synagogen, Kirchen und
Minderheitenschulen als schädliche Einrichtungen darstellt.
Ebenfalls provozierend ist die Kampagne eines Essay Wettbewerbs
der in allen Schulen der Türkei auch, ebenfalls erzwungen in
den Schulen der griechischen und armenischen Minderheiten
durchgesetzt wurde. Das Thema "der Aufstand und die
Aktivitäten der Armenier im Ersten Weltkrieg". Der
Wettbewerb endete am 1. September 2003 unter anderem mit der
Auszeichnung des Türkeiweit besten Aufsatzes.
Aus pogrom-bedrohte Völker 226 (4/2004)