Logo


In: Home > DOSSIER > Sinti und Roma in Italien

Sprache: DEU | ITA


Sinti und Roma in Italien

Aktuelle Chronik einer Minderheit in Not

Von Stefan Pollinger

Bozen, August 2008

Weltweit leben nach grober Schätzung zwischen acht und zwölf Millionen Roma und Sinti. In Italien beläuft sich die Zahl auf ca. 150.000 Personen. Das sind gerade einmal 0,25% der Bevölkerung. Nichts desto trotz werden sie als nationales Sicherheitsrisiko angesehen und sind Opfer von Gewalt, Diskriminierung und Rassismus.

Berlusconis Mitte Rechts Allianz, welche im Frühjahr des Jahres in Italien an die Macht gewählt wurde und mit ihr die rechtsradikale Lega Nord um Parteichef Bossi, lässt nun durch rassistische Gesetzesvorlagen aufhorchen. Nach Plänen der Regierung sollen allen Roma, eventuell auch Minderjährigen, Fingerabdrücke abgenommen werden. Diese Maßnahme wird unter dem Vorwand verkauft, die Kinder dieser ethnischen Minderheit vor Bettelzwang und Ausbeutung zu schützen. Unschwer ist zu erkennen, dass dieses populistische Kettenrasseln der Regierung die polizeilichen Repressionsmaßnahmen gegenüber dieser Minderheit verstärken soll. Obwohl in Aussendungen der Regierung nur von den Roma die Rede ist, darf wohl vermutet werden, dass auch andere Ethnien, wie z.B. die Sinti, die ebenso wie die Roma in so genannten "campi nomadi", sprich Nomadenlagern, gettoisiert wurden von dieser Maßnahme betroffen sind. Nach längeren Protesten von Seiten der Europäischen Union, hat man den Gesetzesentwurf entschärft und ging dazu über, nun allen Italienern die Fingerabdrücke abzunehmen.

Roma und Sinti stammen ursprünglich aus Indien. Von dort wanderten sie vor ca. 1000 bis 1500 Jahren aus nicht ganz geklärten Umständen über Persien, Armenien und Griechenland nach Südosteuropa, von wo aus sie sich über ganz Europa und schließlich über die ganze Welt verbreiteten. Historisch gesehen waren diese Gruppen nicht sesshaft und führten eine auf die europäische Bevölkerung befremdlich wirkende Lebensweise. Sie waren bekannt für ihr Geschick im Umgang mit Metallen, als Wahrsager, Gaukler, und Tierdresseure. Die meisten von ihnen gingen aber wohl Wanderhandwerksberufen nach. Die sogenannten "Zigeuner" standen damit immer schon für das Fremdartige, das Andere und das Mystische, wodurch sie sowohl zur Projektionsfläche romantischer Freiheitsträume der Sesshaften wurden, als auch, ähnlich der Juden, zu Sündenböcken für jegliches Leid herhalten mussten. Sinti und Roma wurden seit ihres Ankommen in Europa diskriminiert, verfolgt und vertrieben. Dies erzeugte auf ihrer Seite auch Vorurteile gegenüber der Restbevölkerung, welche sie "Gadze" nennen, bestärkte die Abgrenzung und den Rückzug in die bekannte Lebensweiße. Die Verfolgung der Sinti und Roma gipfelte im nationalsozialistischen Holocaust (Porrajmos), wo sie neben den Juden systematisch getötet wurden. Lange Zeit wurde dieser Umstand aber verschwiegen und tabuisiert.

Durch die wirtschaftlichen Veränderungen der letzten 100 Jahre, änderten sich die Lebensbedingungen von Roma und Sinti grundlegend. Zum einen verloren sie die meisten ihrer klassischen Arbeitsfelder. Weiters wird der urbane Raum Europas zunehmend knapp, was das Leben ohne festen Wohnsitz erschwert. Inwieweit Sinti und Roma ein solches überhaupt noch wünschen, ist unklar. Hier kann wohl nicht generalisiert werden; der Umstand hängt viel mehr von der Situation der einzelnen Familien ab und ist wohl schlussendlich individuell, wobei die starke Rolle der Familie nicht außer acht gelassen werden darf. 95% der Sinti und Roma Italiens sind zur Zeit sesshaft. Trotzdem werden sie auch in den Medien des öfteren als "nomadi", also Nomaden bezeichnet.

Die betroffenen Ethnien in Italien können entgegen der einfachen Darstellungsweise der Regierung nicht einheitlich klassifiziert werden. In grober Darstellung können sie in drei Kategorien eingeteilt werden: Eine Gruppe lebt bereits seit mehreren hundert Jahren in Italien und setzt sich sowohl aus Sinti und Roma zusammen, welche auch die italienische Staatsbürgerschaft besitzen. Insgesamt sind ca. die Hälfte der Sinti und Roma italienische Staatsbürger. Weiters flohen in den 90ern Roma vor Krieg, Verfolgung und wirtschaftlicher Not von Ex-Jugoslawien nach Italien, um hier ein neues Leben zu beginnen. Viele von ihnen waren dort bereits sesshaft. Auch sie wurden in die "campi nomadi" abgeschoben, was wohl in keinster Weise ihren Vorstellungen von diesem neuen Leben entsprach. Eine dritte Gruppe besteht aus vorwiegend in den letzten Jahren aus Rumänien und Bulgarien emigrierten Roma, die wohl von ökonomischen Zwängen und Diskriminierung getrieben wurden. Allen gemeinsam aber, sind die auf sie projizierten Vorurteile, ihre Rolle als Sündenböcke sowie die Gettoisierung in den "campi nomadi".


Die sogenannten "campi nomadi" sind eine Siedlungsform, die in den 80er Jahren auf Staatsebene ausgearbeitet wurde, um die Unterbringung der Sinti und Roma zu regeln. Damals wurde ihre Wohnungssituation aufgrund der Verknappung des urbanen Raumes zunehmend prekärer. Alle Städte mit mehr als 10.000 Einwohnern wurden verpflichtet, entsprechende "campi" einzurichten. Es wurde dabei aber in keinster Weise auf die Bedürfnisse von Sinti und Roma eingegangen. Auch wurde nicht darauf geachtet, ob die betroffenen Familien die Lager nur vorübergehend nutzen wollten oder einen dauerhaften Wohnsitz benötigten. So kam es auch zur Absurdität, dass Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien, welche ja bereits sesshaft waren, in "Nomadenlagern" untergebracht wurden. Die Lager waren somit von Anfang an nur als Übergangslösungen konzipiert, bestehen aber immer noch. Dementsprechend katastrophal war und ist auch ihre Lage sowie Ausstattung. Technische und sanitäre Einrichtungen entsprechen nicht den gesetzlich vorgeschriebenen Normen, sie befinden sich weit ab unserer Wohnanlagen, und sie entsprechen nicht den Richtlinien bezüglich Lärmschutz, Geruchsbelästigung und sanitären Infrastrukturen. Diese Siedlungen werden zu Orten der urbanen, politischen und sozialen Ausgrenzung. So liegt z. B. das Sinti-Lager in Bozen zwischen Schnellstraße, Autobahn und Zufahrtsstraßen, weit ab von jeglicher Wohnsiedlung und äußerst schwer erreichbar. Es ist wohl nicht übertrieben, wenn man hier von einer politisch gewollten Gettoisierung spricht. Die Lager werden absichtlich so konzipiert, um ihre Bewohner von der Restbevölkerung zu trennen und auszugrenzen.

Es erklärt sich nun auch der immer wieder verwendete Begriff "Nomaden" in diesem Zusammenhang. Vielmehr als eine Beschreibung der Umstände ist dieser Begriff politisch gewollt. Erstens stellt er Sinti und Roma als primitiv dar. Nur solange Sinti und Roma als Nomaden gelten, lässt sich überhaupt rechtfertigen, sie in derartigen Nomadenlagern unterzubringen. Auch sind somit schnell Entschuldigungen für verfehlte Integrations- und Bildungspolitik zur Hand. Weiters wird die Theorie des "Nomaden" sehr häufig dazu verwendet, um den Ausschluss der Roma aus den Verantwortungs- und Entscheidungsmöglichkeiten zu rechtfertigen, die erwachsenen Staatsbürgern normalerweise zugestanden werden. Noch dazu wird dadurch die geläufige Ansicht bekräftigt, Sinti und Roma seien keine Italiener und hätten auch nichts mit Italien zu tun.

Armut und Diskriminierung treiben manche Sinti und Roma in die Kleinkriminalität. Dies wiederum bestärkt Vorurteile und Diskriminierung gegenüber der ganzen Ethnie; ein Teufelskreis. Auffallend ist, dass man gerade mit Menschen, die buchstäblich am Rand der Gesellschaft leben, äußerst streng im Umgang mit Verstößen gegen Gesetzte und Verordnungen ist. Von diesen Menschen wird von der Mehrheit erwartet, dass sie äußerst korrekt und unbescholten leben, ja es wird geradezu penibelst darauf geachtet, um Vorurteile zu bestätigen. Dafür sprechen Angaben der Caritas aus Bozen. Dort wurde gegen einige Sintofamilien geklagt, welche in Wohnungen leben. Die Vorwürfe reichten von Unbeachtung der Hausregeln, unschickliche Balkone, Lärm der Kinder in den Ruhezeiten und Störung der Nachbarn bis zu schlechtem Parken.

Des weiteren wurde vermerkt, dass ähnliches Verhalten auch auf Mehrheitsfamilien zutraf, ohne besonderes Aufsehen zu erregen. Für weitere Zwischenfälle wurden hauptsächlich minderjährige Sinti zur Verantwortung gezogen. Dabei handelte es sich allerdings um den üblichen Lärm Jugendlicher, wie Streifzüge mit dem Moped, Lärm in den Haushöfen, usw. Andere deviante Verhaltensweisen, wie z. B. Drogenhandel, können nur auf einzelne Personen bezogen werden, die zudem von der eigenen Gruppe verurteilt und ausgegrenzt wurden. Vielmehr als die "scheinbar angeborene Kriminalität der Zigeuner" zeigen diese Vorkommnisse, dass die Bevölkerung des Viertels nicht dazu bereit ist, die Sinti als Nachbarn zu akzeptieren.

Nach einer in Südtirol durchgeführten Studie der ASTAT (Landesstatistikamt) sehen 48,6% der Befragten in der Zuwanderung das größte Problem Italiens. Auf Platz zwei folgt mit 41,3% die Kriminalität. Armut liegt abgeschlagen mit 17,7%. Ein kleiner Vergleich: Nach Daten der ISTAT (Nationales Statistikamt) vom 1. Januar 2007 betrug der Anteil der Ausländer in Italien 5%, während 12,9% der Bevölkerung im Jahr 2006 in relativer Armut lebten. Da landläufig nicht zwischen Immigranten, Sinti und Roma unterschieden wird, kann die Studie auch für diese herangezogen werden. Roma und Sinti lebten nach offiziellen Angaben gar nur 130.000 in Italien. Randgruppen werden also als das größte Problem Italiens gesehen. Dies geht einher mit dem historischen Wahlsieg der offen antiziganen und xenophoben Lega Nord. Es ist zu erkennen, dass in immer weiteren Teilen der Bevölkerung diskriminierende sowie rassistische Praktiken Akzeptanz finden.

Was derzeit in Italien vorgeht, hat sich im Wesenszug schon öfters in der Geschichte ereignet. Ungelöste Probleme und damit verbundene Ängste der Bevölkerung kanalisieren sich zu Schuldzuweisungen und Hass gegen Randgruppen. Diese ungelösten Probleme sind sehr viele verschiedene. Zum einen drückt sich dadurch die zunehmend rauer werdende ökonomischen Lage aus, unter der immer weitere Teile der Bevölkerung zu leiden haben. Weiters hat das Land mit Korruption, organisiertem Verbrechen und vielen politischen Versäumnissen der Vergangenheit zu kämpfen. Die prekäre Lage der "campi" ist nur eines von vielen. In den letzten Jahren hat sich in Italien eine Art Desillusionismus breit gemacht. Die Menschen sind enttäuscht von der Politik und schauen der Zukunft des Landes pessimistisch entgegen. In diesem Cocktail aus Angst und Pessimismus braute sich im Wechselspiel zwischen Bevölkerung, Politik und Medien ein explosives Gemisch aus Hass und Abneigung gegenüber Randgruppen zusammen. Die jetzige Regierung nutzt die Stimmung, um die Lage mit billigem Populismus weiter anzuheizen. Vorurteile sowohl in der Mehrheitsbevölkerung als auch in den Minderheiten werden weiter ausgebaut.

Wie sich so eine Spannung entlädt zeigen die Vorkommnisse in Neapel im Mai 2008. Nachdem sich die Nachricht verbreitete, eine sechzehnjährige Roma habe angeblich versucht, ein sechs Monate altes Kind zu entführen, kam es zur Eskalation. Banden gingen mit Steinen und Molotowcocktails auf die Lager los, worauf deren Bewohner flüchten mussten. Einige Lager wurden schlussendlich sogar niedergebrannt. Es ist wohl kein Zufall, dass gerade Neapel Schauplatz der größten Gewaltausbrüche wurde. In dieser Stadt gipfeln die Probleme Italiens. Die soziale Lage ist katastrophal. Geprägt von Armut und Arbeitslosigkeit, steckt die Stadt im Würgegriff der Camorra. Wie als Maßstab für die Korruption, stapelte sich der Müll meterhoch in den Straßen. Pogrome in weiteren Städten hatten zwar nicht dieses Ausmaß, doch die Gewalt gegen die "campi", beschränkt sich genauso wie die Probleme, nicht auf Neapel. Die sehr nüchternen Reaktionen von Seiten der Regierung zeigen, dass man um die Vorkommnisse keineswegs sehr besorgt ist.

Eine weitere traurige Episode ereignete sich im Juli 2008. Zwei Roma, Mädchen im Alter von 11 und 13, welche an einem vielbesuchten Strand, in der nähe Neapels, Andenken an die Tagesgäste verkaufen wollten, nahmen ein Bad im Meer. Beide ertranken wegen des starken Wellenganges. Ihre Leichen wurden von der Strömung an den Strand gespült, wo sie von einem Bademeister für tot erklärt wurden. Ihre leblosen Körper wurden mit Badehandtüchern bedeckt, aus denen nur mehr ihre Füße hervorragten. So blieben sie für drei Stunden liegen. Während der ganzen Zeit ging das sommerliche Treiben am Strand einfach weiter, so als wäre nichts Besorgniserregendes passiert. Die Situation wurde von einem Fotografen eingefangen; sein Bild sorgte für internationale Empörung. Es zeigt die beiden Körper der Mädchen, und im Hintergrund ein Pärchen, welches seelenruhig die Situation beobachtet und sich nicht weiter stören lässt. Das Foto steht geradezu wie ein Spiegelbild für die Gleichgültigkeit, welche in Italien gegenüber der Not von Roma und Sinti herrscht. Es scheint so, als würden sie gar nicht mehr als Menschen angesehen, womit ihnen auch menschliche Gefühle, wie Betroffenheit oder Mitgefühl nicht mehr entgegengebracht werden.

Die derzeitige Situation zeigt, dass Rassismus und Menschenrechtsverletzungen auch nach über sechzig Jahren, seit dem scheinbaren Ende des Faschismus, immer noch traurige Gegenwart, auch mitten in Europa sind. Eine friedliche Lösung der Probleme auf den Grundlagen gegenseitiger Toleranz und Integration, scheint unter Schirmherrschaft der Rechten nicht in Sicht. Vielmehr als das Verschärfen polizeistaatlicher Maßnahmen bedarf es einer Bereitschaft zum Dialog der zur Zeit getrennt lebenden Kulturen, um in Zukunft ein friedliches Miteinander zu erreichen.

Stefan Pollinger ist Praktikant bei der GfbV-Südtirol.

Quellen:
- "I pregiudizi contro gli zingari spiegati al mio cane" von Lorenzo Monasta
- "Sinti und Roma, eine Spurensuche" von Elisabeth Tauber
- "U baro drom = Der lange Weg" von Milena Cossetto, Wolftraud de Concini, Elena Farruggia, Letizia Ragaglia, Silvia Spada, Alois Weber.