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Adivasi in Indien

Vergessen, verdrängt, ruiniert - und wiederständig!

Von Theodor Rathgeber

Bozen, Göttingen, 12. April 2005

Die Unabhängigkeit Indiens 1947 hat keinerlei Besserung für den Überlebenskampf der Ureinwohner Indiens (Adivasi) gebracht. Die politische Vertretung der Adivasi betont denn auch immer wieder die fortdauernde Geschichte gebrochener Versprechen, geplünderter Ressourcen, rükksichtsloser Vertreibungen und die grundlegende Bedrohung ihrer Lebenswelten. Einiges davon wurde bereits im Jahre 1993 in der Zeitschrift Pogrom Nr. 171 zur Sprache gebracht. Es ist gleichwohl ernüchternd zu sehen, wie die zentralen Brennpunkte in Bezug auf das Überleben der Adivasi bis heute Bestand haben: Bergbau, Industrialisierung, Staudämme, Schutzgebiete für Tiere und Pflanzen, nicht aber für die angestammte lokale Bevölkerung, sowie dieAusplünderung von Mensch und Seele in städtischer Umgebung.

Die im Jahr 2004 abgewählte Zentralregierung unter Führung der hindunationalistischen Partei BJP (Bharatiya Janata Party) hatte ein Politikkonzept zur Behandlung der Ureinwohner Indiens auf nationaler Ebene entworfen, das vor entwürdigenden und herablassenden Begriffen über die angeblich rückständigen Adivasi nur so strotzte. Dabei war die Sprache nicht das einzige Problem. Aus dieser Terminologie leitete der Staat für sich die Aufgabe ab, die "Zurückgebliebenen" zu entwickeln und sie in den Schoß einer hindu-dominierten Gesellschaft zu integrieren. Vorstaatliche Landrechte, der Anspruch auf Selbstbestimmung sowie eine eigene kulturelle Identität und Spiritualität kamen in diesem Entwurf nicht vor. Die BJP-Regierung hatte zwar ab dem Jahr 2000 zum ersten Mal in der parlamentarischen Geschichte Indiens einen Minister für Angelegenheiten der Stammesgesellschaften ernannt, war ansonsten aber von der Wirklichkeit der Adivasi so weit entfernt wie kaum eine andere Regierung zuvor.

Mit dem überraschenden Sieg der Congress Partei bei den Parlamentswahlen ist dieser Entwurf zwar in der Versenkung verschwunden. Ob jedoch der Stellenwert der Adivasi für die indische Bundesregierung unter dem neuen Premierminister Manmohan Singh dadurch schon anders geworden ist, darf bezweifelt werden. Zu unkritisch verfolgt die neue Zentralregierung eine auf industrielle Kapazitäten orientierte Entwicklungspolitik. Bestärkt wird diese Politik der indischen Bundesregierung durch Staaten wie die Bundesrepublik Deutschland, deren Politik sich im Zweifelsfall ebenso für den wirtschaftlichen Eigennutz ausspricht und Menschenrechten einen hinteren Rang zuweist. Der jüngste Besuch von Kanzler Schröder in Indien mag als Beleg an dieser Stelle genügen.

Lebensentwürfe von Adivasi-Gemeinschaften, die auf einer materiellen und spirituellen Wechselwirkung mit ihrer Umgebung beruhen, bleiben unter diesen Umständen Folklore, die zur Not den nationalen Interessen eines Schwellenlandes weichen muss. Die andauernden Auseinandersetzungen um Energiegewinnung aus Wasserkraft und die dafür in Kauf genommene Vertreibung (Stichwort Narmada) belegen dies in aller Deutlichkeit. Eine der prominentesten Repräsentantinnen der Adivasi, C. K. Janu (siehe www.gfbv.it/3dossier/asia/adivasi-he.html), stellte mit Recht fest, dass indische Regierungen die Adivasi mit ihren Anliegen nur dann ernst nehmen würden, wenn es ihnen gelänge, die Zufahrtsstraßen zur Hauptstadt zehn Tage lang zu blockieren.

Trotz vieler Vorgaben durch die Verfassung nehmen die Berichte über erschreckende Ausmaße an Armut, geringen Ausbildungsmöglichkeiten, Krankheiten und sklavenähnlicher Unterjochung bei Adivasi-Gemeinschaften eher zu als ab. Einige Distrikte in den Bundesstaaten Maharashtra, Uttar Pradesh, Andhra Pradesh oder Orissa sind als Hungerzonen geradezu berüchtigt und kehren regelmäßig in die Schlagzeilen der Medien zurück, ohne dass sich Grundlegendes ändern würde. Es ist also weniger die mangelnde Kenntnis über die Verhältnisse als vielmehr ein dezidiert verfochtenes Modell sozialer und politischer Herrschaft, das solche Zustände herbeiführt. Mahasweta Devi hat dies in ihrem Roman "Pterodactylos" eindrücklich geschildert.

Wer um solche Bedingungen weiß, wird wenig überrascht sein, dass das gesetzlich begründete Recht auf kommunale Selbstverwaltung mit traditionellen Institutionen nur zäh umgesetzt wird. Die von der Zeitschrift "Down To Earth" (August 2002) geschätzten, knapp 1.200 selbstverwalteten Dörfer in den Bundesstaaten Jharkhand (600), Chattisgarh (300), Andhra Pradesh (125), Madhya Pradesh (50), Rajasthan (50) und Karnataka (40) lassen jedoch vermuten, dass diese Bewegung an Boden gewinnt. Pradip Prabhu, ein langjähriger Unterstützer der Adivasi-Bewegung, spricht voller Hoffnung von den Grundelementen partizipativer Demokratie. Er weiß um die Kraft der Adivasi zur Selbstorganisation, die sich im Widerstand ebenso zeigt wie in der Gestaltung der nahen Zukunft etwa im Koel Karo-Gebiet.

Eine wesentliche Stütze der Selbstorganisation und Selbstbestimmung stellten zu allen Zeiten die Adivasi-Frauen dar. Im Vergleich zur sonstigen Gesellschaft Indiens beanspruchen Adivasi die Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann. Dies ist noch für Milieus kennzeichnend, die historische Formen der Selbstversorgung ermöglichen und den Frauen einen zentralen Platz bei der Ernährungssicherung der Familien sowie der Gemeinschaft zuweisen. Dies bedingt bis heute die selbstverständliche Teilhabe von Frauen an Entscheidungen über die Zukunft der Gemeinschaft bis hin zu offen matriarchalischen Strukturen wie bei den Khasi im Bundesstaat Meghalaya.

Indien ist von der Verfassung und vom Augenschein her eine multikulturelle Gesellschaft. Die bestimmenden wirtschaftlichen und politischen Kräfte lassen bislang jedoch nicht erkennen, dass sie dafür die Grundlagen zur Verfügung stellen wollen, die zur Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der vielfältigen Lebensentwürfe notwendig sind. Andererseits haben Adivasi-Bewegungen und -Organisationen die letzten zehn Jahre - etwa im Rahmen der UN-Dekade der indigenen Völker - dazu genutzt, die Vielfalt, deren Nöte und Perspektiven einer größeren Öffentlichkeit im In- und Ausland zu Bewusstsein zu bringen und für ihre Existenz zu werben.

Aus pogrom-bedrohte Völker 230 (2/2005)


Siehe auch:
* www.gfbv.it: www.gfbv.it/3dossier/asia/adivasi-he.html | www.gfbv.it/3dossier/asia/adivasi-mmt.html | www.gfbv.it/3dossier/h2o/indien.html | www.gfbv.it/3dossier/klima/klima3.html#r45 | www.gfbv.it/2c-stampa/01-3/010906de.html

* www: www.adivasi-tee-projekt.org | www.adivasi.net | www.ashwini.org | www.dalits.org | www.adivasi-koordination.de

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