Im Bergland von Chiapas, dem südlichsten
Staat Mexikos, kämpft seit 1994 eine Guerillagruppe für
Autonomie und mehr Rechte für die Indigenas. Die Guerilleros
sind weltweit zum Symbol gegen die Expansion des Neoliberalismus
geworden. Benno Steinegger war Friedensbeobachter in den
chiapanekischen Widerstandsdörfern.
Lorenzo schaut ins Leere, spricht leiser und kann mich nicht
mehr ansehen. Dabei hat gerade ein sonniger Morgen im
mexikanischen Südosten begonnen und überflutet das
idyllische Bergdorf "Union Progresso" mit goldenem Glanz. Die
fruchtbare Erde duftet, erzählt von den reichlichen
Regengüssen der Nacht und erwartet es kaum noch, dass die
Wurzeln der Mais-, Kaffee- und Bananenbäumchen den
Lebenssaft aus ihr ziehen. Doch Lorenzo verschluckt sich,
während er erzählt: "Es war vor drei Jahren. Sie kamen
um fünf Uhr früh. Sie haben das ganze Dorf umzingelt
und den Kreis dann langsam enger gezogen, um auch die Bauern, die
bereits auf den Feldern waren, zu fangen. Dann haben sie uns alle
in einen großen Lastwagen gesperrt. Die Soldaten schrieen
uns an, verspotteten und verfluchten uns. Dann haben sie einige
Männer fortgeführt. Darunter war auch ich. Etwas
außerhalb vom Dorf haben sie dann fünf
compañeros ermordet. Ich habe gesehen, wie sie ihnen die
Bäuche aufgeschlitzt haben und alles herauskam ..."
Jetzt schweigt Lorenzo. Auch ich schweige, denn ich weiß
einfach nicht, was ich noch sagen soll. Die Gedanken
überschlagen sich, aber eines wird immer klarer, so wie die
aufgehende Morgensonne, die uns wärmt: Ich weiß nun,
warum ich hier in den "Altos", dem chiapanekischen Hochland, bin,
und welchen Sinn es hat, hier als Friedensbeobachter die Zeit
totzuschlagen: Meine Anwesenheit beruhigt die Dorfbewohner, weil
meine Augen für internationale Beobachtung stehen, und diese
hält das Militär mit großer Wahrscheinlichkeit
davon ab, hier weiteren Menschen die Bäuche
aufzuschlitzen.
Chiapas ist im Visier der Konzerne. Die Multis wollen sich das
Erdöl, den Kaffee, das Holz und den Kakao in Chiapas nicht
entgehen lassen. Deshalb öffnet der Staat schon seit Jahren
den Multis und der Ausbeutung des Landes alle denkbaren
Türen und versucht, alle Wege einer selbständigen
Zukunft der Indigenas zu verbauen. Diese wollen aber eine
selbstständige Zukunft und haben sich deshalb für den
Widerstand entschieden. Der Staat antwortet mit Militarisierung
und gewaltsamer Unterdrückung - schon seit Jahren.
Mario, der die Friedensbeobachter betreut, die sich in diesem
Dorf ständig abwechseln, erzählt mir, dass es "die
Strategie der Kapitalisten" sei, die Indigenen von den Feldern zu
vertreiben, um "Proletarier für ihre Firmen zu gewinnen".
"In anderen Dörfern", fährt Mario fort, "wo sie noch
weniger haben als wir, sind sie gezwungen, öfters auf den
Kaffeefeldern der Großgrundbesitzer als Tagelöhner
auszuhelfen, um überleben zu können. Sie verdienen aber
nur 50 Pesos pro Tag. Das Transportmittel, das sie auf die Felder
bringt, kostet 30 Pesos."
Marios "Union Progresso" liegt etwa drei Stunden Autofahrt und
zwei Stunden Fußmarsch von San Christobal de Las Casas
entfernt. Die Stadt ist das wirtschaftliche und kulturelle
Zentrum der Bergregion. Union Progresso liegt ruhig und lautlos
zwischen Feldern, Wäldern, Bächen und den Bergen
verborgen. Wenn ich nicht wüsste, dass hier Menschen
ermordet wurden, würden mich Idylle und Pracht dieses Ortes
so in seinen Bann ziehen, dass ich alle politischen Gründe,
die mich in dieses Bergdorf gelockt haben, auf der Stelle
vergessen könnte.
Tatsache ist aber, dass Marios Frau fiebrige Schweißperlen
auf der Stirn hat und niemand weiß, ob sie diese (heilbare)
Krankheit überleben wird. Tatsache ist auch, dass viele
Kinder dicke Bäuche mit sich herumschleppen, obwohl sie
keinen fetten Speck essen, sondern Früchte, die
Würmerlarven beherbergen und die Eingeweide der Kinder als
ihren Geburts- und Lebensraum wählen und ihnen den Bauch
aufblasen. Die Kinder essen dann, um den Hunger der Würmer
zu stillen und bekommen selbst immer weniger ab. Tatsache ist
auch, dass die wenigen Lehrer viel zu viele Schüler haben,
aber sie lehren weiter, weil sie wissen, dass Bildung das
Überleben der kommenden Generationen sichern wird. Tatsache
ist, dass sie keinen Peso dafür von der Regierung bekommen.
Tatsache ist, dass die Regierung durch ihre grün und blau
gekleideten Henker vor drei Jahren fünf Dorfbewohner
umgebracht hat, um den Widerstand zu brechen und das alte
Abhängigkeitsmodell wieder einzuführen.
Dabei sind die Indigenas oft vor die Vertreter der Macht
getreten, um Autonomie für Chiapas und mehr Rechte für
die Indigenas zu fordern. Sie haben aber immer wieder leere
Versprechungen oder Lügen geerntet. Es wurde ihnen dadurch
nicht nur die Lebensgrundlage, sondern auch die Würde
genommen. In den 70er und 80er Jahren wuchs in Chiapas der
Widerstand gegen die Staatsgewalt. "Wir hatten nichts. Aber durch
den Widerstand bekamen wir unsere Würde wieder, und nun
besitzen wir die Hoffnung, dass es besser werden kann", gibt er
mir zu verstehen. So wurde die EZLN (Nationale Befreiungsarmee)
gegründet. Und als dann am 1. Januar 1994 das
Freihandelsabkommen zwischen Kanada, USA und Mexiko in Kraft
trat, erklärte die EZLN dem mexikanischen Staat offiziell
den Krieg. Doch die EZLN wurde von den vielen
Friedensverhandlungen enttäuscht. Auch Präsident Fox,
der die 71-jährige Herrschaft der korrupten PRI (Partei der
Institutionellen Revolution) weiterführt, hat keine
Verbesserung gebracht. Er versucht den Widerstand zu brechen,
indem er die Indigenas gegeneinander aufhetzt, während die
Investoren und ihre Lastwagen immer tiefer in den Wald
eindringen, um die Reichtümer des Landes ins Ausland zu
exportieren.
Der Konflikt wird so lange bestehen, bis die Indigenas in Ruhe
leben und über ihr Land selbst entscheiden können, bis
sie nicht mehr an heilbaren Krankheiten oder durch die Gewalt der
Staatsbehörden sterben müssen und bis sie ein
anständiges Bildungssystem aufgebaut haben werden. "So lange
wird der Krieg für uns weiter gehen. Für Würde,
Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit", sagt Mario, mit seinem
beinahe ewigen und für mich oft unverständlichen
Lächeln auf den Lippen.
"Bei uns sterben die Kinder am Sonntag"
"Eliseo Hernadez Solano, Fall 291 von 650
Menschenrechtsverletzungen, die vom Juni 1999 bis Mai 2000 im
Menschenrechtszentrum Tlapa (Bundesstaat Guerrero) gemeldet
wurden. Keine aufregende Nachricht. Bloß Statistiken, die
kaum bis in die Paläste der mexikanischen Regierung finden",
erklärt mir der verbitterte Abel, Chef des
Menschenrechtszentrums in Tlapa. Für die Indigenas der
gesamten Bergregion ist Abel der einzige Bezugspunkt für
ihre Probleme. Abel hat sein Leben dem Kampf für die Rechte
der Indianer und für die Einhaltung der Menschenrechte
gewidmet. Keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, dass solche
Institutionen keine staatliche Hilfe erwarten können. "Der
Staat arbeitet gegen uns. Die Polizei und das Militär haben
selbst mich schon mehrmals bedroht. Sie können uns vom
Menschenrechtsbüro aber nichts tun, da wir internationale
Kontakte haben." Ein Ereignis der jüngsten Gegenwart
widerlegt Abels Sicherheit: eine Menschenrechtsvertreterin in
einem nördlichen Bundesstaat Mexikos wurde auf
"mysteriöse Weise" ermordet. Unter Verdacht stehen die
Beamten der föderalen Polizei.
Abel ist auch mein Bezugspunkt. Er organisiert mir zwei Fahrten
in verschiedene Gebiete der Bergregion. Die Dorfbewohner der
ersten Gemeinde, die ich besuchte, Temalacatzingo, waren gut
organisiert. Aus den zahlreichen umliegenden Dörfern kamen
die Kinder und Jugendlichen zusammen, um die öffentliche
Schule zu besuchen, die ohne staatliche Subventionen
funktioniert. Das Problem hier ist nun nicht mehr das
Militär, das bis vor drei Jahren ein Lager auf einem nahen
Hügel aufgeschlagen hatte und die Bevölkerung mit
Aufmärschen und Folterungen einschüchterte, weil hier
Anhänger der Opposition leben. Das Problem war und ist immer
noch das Wasser. Sie haben hier kaum Wasser zum Trinken;
geschweige denn, um die Maisfelder zu bewässern. Trotzdem
ist die Schule gut organisiert, denn die Indigenas wissen, dass
die Bildung ihre Überlebenschance ist. Die Frauen erscheinen
hier selbstsicher. Obwohl einige ihrer Männer Alkoholiker
sind, geben sie nicht auf, an ein besseres Leben zu glauben. Und
deshalb basteln sie aus den Schalen der Früchte kleine, bunt
bemalte Tiere, um sie zu verkaufen.
Im zweiten Dorf, in das mich Abel schickt, flechten sie
Hüte. Umgerechnet kostet einer zehn Euro-Cents. Die
"Produktionsdauer" beträgt zwei Tage. "Weiter hinten im Tal
essen sie grüne, unreife Bananen, weil sie nichts anderes
haben", und Juan, der Fahrer des Jeeps, der mich ins Dorf bringt,
lacht auf seine mexikanische Art, die ich oft nicht verstehe. Er
wird mich den Leuten des Ortes vorstellen. Die Bewohner empfangen
mich sehr freundlich und herzlich, denn sie kennen Juan. Die
wichtigsten und ältesten Leute im Dorf versammeln sich,
setzen sich vor dem Bürgerhaus auf Stühle und Bretter
und erzählten mir, wie sie hier leben. Nur einer, Ramos,
kann gut Spanisch. Er war drei Jahre in New York, hat dort als
illegaler Tellerwäscher gearbeitet und ist als
(verhältnismäßig) reicher Mann
zurückgekehrt. Er hat sich damit die Oberschule bezahlt und
ist nun der "Gelehrte" im Dorf.
Sie erzählen mir, dass das Leben hier den Wert einer
Bierflasche hat, dass Banditen in der Nacht herumziehen, dass die
Regierung ihnen nicht hilft, sondern sie unterdrückt, dass
große Firmen den ganzen Wald abgeholzt haben (deshalb ist
nun der Berg kahl), und dass sie, "die rechtmäßigen
Erben dieses Landes", Gefängnis riskieren, wenn sie
Feuerholz sammeln. Sie haben nur eine Volksschule und kaum jemand
kann es sich leisten, die Kinder in die Stadt zu schicken, um
eine Schule zu besuchen.
Dann lädt er mich ein auf ein Fest ein, bei dem beinahe das
ganze Dorf zusammenkommt. Ich bemerke sofort, dass es sich um ein
Begräbnis handelt. Sie führen mich in die dunkle
Lehmhütte. Vor mir liegt ein weißes Bettlaken auf
einigen Brettern, von Weihrauch und Kerzenlicht umströmt,
das den toten Körper einer Frau bedeckt. Wir gehen hinaus
und setzen uns. Jemand teilt Bier und Zigaretten aus. Die Leute
quatschen miteinander. "Sie war 23 Jahre alt und hatte zwei
Kinder. Wir konnten uns die Behandlung ihrer Krankheit nicht
leisten. Jetzt müssen wir darüber reden, wie wir die
Kinder erziehen. Wir lösen alle Probleme innerhalb der
Dorfgemeinschaft", erzählt mir Ramos mit seiner immer
fröhlichen Miene.
Ich habe ihn später gefragt, ob hier oft Menschen an
heilbaren Krankheiten sterben. Er lachte und sagte: "Bei uns
sterben die Kinder am Sonntag. Sie haben keine Schuhe,
müssen aber ihre großen Geschwister auf die Felder
begleiten. Hier gibt es Skorpione, deren Stich tötet, wenn
man kein Gegenmittel hat. Hier haben die Kinder keine Schuhe.
Hier bei uns arbeitet der Arzt am Sonntag nicht; auch wenn ein
Kind auf den Stufen seiner Eingangspforte stirbt."
Benno Steinegger ist in der italienischen new global-Bewegung aktiv. Aus: Neue Südtiroler Tageszeitung. Aus "pogrom / bedrohte Völker" (Nr. 217 - 1/2003). Ebenso zur Lektüre empfohlen: Indianer Süd- und Mittelamerikas: Die "Globalisierung" überleben, pogrom Nr. 191 (Okt/Nov. 1996).