Von Theodor Rathgeber
Kenneth Deer, Mohawk-Vertreter aus Kanada, brachte die unter
indigenen Repräsentanten verbreitete Meinung über die
UN-Dekade zu den Indigenen Völkern (10. Dezember 1994 -
Dezember 2004) schon früh auf den Punkt: Bereits zur
Halbzeit 1999 nannte er sie das am besten gehütete Geheimnis
der Vereinten Nationen. Selbst die Poster-Aktion der UNO im
zweiten Jahr der Dekade geriet eher zum Anti-Event, von dem
allenfalls die bereits Eingeweihten Kenntnis erhielten.
Entsprechend skurril muteten die Versuche des Hochkommissariats
für Menschenrechte an, die Poster und anderes
Informationsmaterial unter die Leute zu bringen, ohne allzu viel
Aufmerksamkeit vor allem bei misstrauischen Staaten wie den USA
zu erwecken. Bis heute ist es ein Kreis Eingeweihter geblieben,
der von der Existenz einer UN-Dekade für Indigene
Völker überhaupt weiß. Dieses Schicksal teilt
dieses Jahrzehnt allerdings mit anderen UN-Dekaden: die erste
für Frauen (1976-1985), für die Überwindung des
Kolonialismus' (1991-2000) oder für die
Menschenrechtserziehung (1995-2004).
Ist das Ausrufen einer Dekade also ein vorhersehbares Desaster?
Hat sich seit dem ersten Auftreten des Six-Nations-Vertreters
namens Deskaheh im Jahr 1923 vor dem Völkerbund
überhaupt Substanzielles zugunsten der indigenen Völker
verändert? Die abschließende Einschätzung der UNO
zur Dekade wird zwar erst 2005 der Menschenrechtskommission als
Bericht vorliegen. Ein vorläufiger Report des
UN-Generalsekretärs (Dokument Nr. E/2004/82) ist allerdings
heute schon zugänglich, und eine Bilanz vor allem in den
für indigene Völker als zentral geltenden Aspekten
lässt sich ebenfalls bereits ziehen.
Ziele der UN-Dekade
Der Beschluss der UN-Generalversammlung vom 21. Dezember 1993
(Resolution 48/163) setzte die Dekade ein, die Resolution vom 23.
Dezember 1994 gab das Leitmotiv vor: die Suche nach einer neuen
Form der aktiven Zusammenarbeit, nach neuen Partnerschaften mit
indigenen Völkern. In einer dritten Resolution (50/157)
beschloss die Generalversammlung im Dezember 1995 ein
Aktionsprogramm: Die verstärkte internationale Kooperation
sollte zu Lösungsansätzen in sechs ausgewiesenen
Problemfeldern führen: Menschenrechte, Umwelt, Entwicklung,
Gesundheit, Kultur und Erziehung. Die Vereinten Nationen als
Institution, die Sonderorganisationen der UNO wie die
Internationale Arbeitsorganisation (ILO) sowie die
UN-Mitgliedsstaaten waren aufgerufen, das ihnen Mögliche zum
Erreichen der Ziele beizutragen. Der vage Wortlaut der
Resolutionen ließ allerdings größtmöglichen
Spielraum bei der Interpretation dessen zu, was dem Kontext der
Dekade zugeschlagen werden kann.
Der Schutz indigener Rechte steht für die Betroffenen
naturgemäß an erster Stelle. Die internationalen
Institutionen sowie Staaten waren aufgerufen, indigene
Völker in die Lage zu versetzen, Entscheidungen über
ihre Belange in eigener Regie treffen zu können. In diesem
Zusammenhang erging die Aufforderung an internationale
Konsultationsrunden, indigene Völker an den Beratungen
direkt zu beteiligen: die UN-Konferenzen zu Umwelt und
Entwicklung, Frauen, Bevölkerung und Entwicklung,
intellektuelles Eigentum, Besiedlung (Habitat II), biologische
Vielfalt, am Weltsozialgipfel und an den einschlägigen
Treffen der UN-Sonderorganisationen wie etwa UNICEF.
Indigene Völker nahmen von sich aus an der Weltkonferenz
gegen Rassismus in Durban und am Rande an den Treffen der
Welthandelsorganisation (WTO) teil. Die Mechanismen der Vereinten
Nationen zum Schutz der Menschenrechte - die
Sonderberichterstatteren, Experten, Ausschüsse und
Arbeitsgruppen - gingen dazu über, in ihren
länderbezogenen oder thematischen Berichten explizit
indigene Belange aufzunehmen. Selbstredend wurde kein konkreter
Konflikt etwa um den Missbrauch indigenen Wissens einer
Heilpflanze oder fortdauernde Diskriminierung durch die Teilnahme
an solchen Konferenzen gelöst. In der Gesamtschau wurde
jedoch die Notwendigkeit unterstrichen, neue
völkerrechtliche Standards zugunsten grundlegender Rechte
indigener Völker zu erarbeiten. Nicht zuletzt erbrachte die
Teilnahme an den Konferenzen eine profunde Expertise auf Seiten
indigener Organisationen, die in Teilbereichen die frühere
Unterstützung - und damit auch Abhängigkeit - von
Nichtregierungsorganisationen überflüssig machte. Die
Aufforderung zur Konsultation mit indigenen Völkern schlug
sich ebenso in regionalen Zusammenhängen nieder. Das
zunehmend häufigere und systematischere Auftreten indigener
Repräsentanten aus Afrika und deren Insistieren auf
Anerkennung, führte bei der Organisation für
Afrikanische Einheit dazu, die Existenz dieser Völker
überhaupt wahrzunehmen und ihre Kommission für
Menschenrechte um den Auftrag zu erweitern, die Rechte von
Minderheiten und indigenen Gemeinschaften mit zu prüfen.
Ebenso wurde ein Koordinationskomitee für indigene
Völker aus Afrika gegründet (Indigenous Peoples of
Africa Co-ordinating Committee; IPACC).
Konkreter noch hatte sich die Interamerikanische Kommission
für Menschenrechte in den vergangenen zehn Jahren in ihren
Entscheidungen und Empfehlungen mehrfach zugunsten der Rechte
indigener Völker ausgesprochen und bisherige Rechtsstandards
bei der Abwägung staatlicher bzw. indigener Interessen
verändert.
Auch in diesen Fällen führten weder Berichte noch
Empfehlungen automatisch zur Abhilfe von Notlagen indigener
Gemeinschaften. Die bisherige Nachlässigkeit oder
Missachtung indigener Interessen ist jedoch zumindest für
demokratisch legitimierte und auf Rechtsstaatlichkeit Wert
legende Regierungen schwieriger geworden.
Internationale Rechtsstandards
Zu einem wichtigen Bezugspunkt, obwohl formal nicht existent,
wurde die im Entwurf vorliegende Internationale Erklärung zu
den Rechten Indigener Völker. Sie hätte auch das
Herzstück der Dekade werden sollen, aber wie es scheint,
wird die UN-Generalversammlung darüber im Rahmen dieser
Dekade nicht befinden. Der Entwurf liegt der
Menschenrechtskommission bereits seit 1995 vor. In der Kommission
treffen jedoch weisungsgebundene Regierungsvertreter
Entscheidungen, und einigen gewichtigen Staaten wie den USA,
Kanada, Australien, EU-Mitgliedern, Indien oder Brasilien passen
weder das im Entwurf vorgesehene Recht auf Selbstbestimmung noch
die Verfügung indigener Völker über die
Ressourcen, die sich auf ihren Territorien befinden. In neun
Jahren Beratung gelten gerade einmal zwei von insgesamt 45
Artikeln im Konsens mit indigenen Völkern als
angenommen.
Natürlich hätte die Menschenrechtskommission auch die
Möglichkeit, eine Erklärung nach den Vorstellungen der
Staaten zu erarbeiten. Die Blöße, einen neuen
Wertekanon gegen den erklärten Willen der Begünstigten
zu etablieren, will allerdings - von den USA einmal abgesehen -
niemand riskieren. Unbeschadet der Querelen entfaltet der Entwurf
jedoch seine Wirkung als Referenzpunkt. Die Organisation
Amerikanischer Staaten berät seit Jahren ebenfalls eine
Erklärung für die amerikanische Region; allerdings mit
den gleichen Problemen wie in Genf. In ähnlicher Weise
verhält es sich mit dem Auftrag der Dekade an die
UN-Mitgliedsstaaten, die Konvention Nr. 169 der Internationalen
Arbeitsorganisation zu ratifizieren, den bislang einzigen
verbindlichen internationalen Rechtsstandard zu indigenen
Völkern. Im Zeitraum der Dekade ratifizierten gerade einmal
zehn Staaten - von insgesamt 17 (Stand Juli 2004) - die
ILO-Konvention 169. Die formalrechtliche Wirkung blieb also recht
eingeschränkt, während auch hier eine Vielzahl
internationaler Akteure immer wieder auf die Konvention 169 Bezug
nimmt, um Inhalt und Dimension indigener Rechte aufzuzeigen. Bei
der Ausarbeitung der nationalen Gesetzgebung für indigene
Völker auf den Philippinen (Indigenous Peoples' Rights Act,
1997) standen der Entwurf der Erklärung und die
ILO-Konvention 169 geradezu Pate. Mehrere Staaten in
Lateinamerika - wie Argentinien, Bolivien, Ecuador oder Peru -
sind in diesem Zusammenhang ebenfalls zu nennen.
Nicht überall werden die Debatten um einen internationalen
Rechtsstandard positiv aufgenommen, und ein rechtlich
abgesicherter Anspruch versetzt noch keine indigene Gemeinschaft
in die Lage, selbst überlebensgefährliche Bedrohungen
abzuwehren. Im Gegenteil, sozialer Protest und politische
Aktivitäten indigener Völker werden (wie etwa in Chile
oder Mexiko) nach wie vor auch strafrechtlich verfolgt. Oder
diskriminiert, wie die Berichte der Aborigine-Organisationen
(Australien) oder der Vertreter West Papuas (Indonesien)
während der Sitzung der Menschenrechtskommission 2004
vermuten lassen. Verstanden als Prozess zur Herstellung
grundlegender Rechte indigener Völker im internationalen
Maßstab haben die Auseinandersetzungen um die
UN-Erklärung sowie die ILO-Konvention im Rahmen der Dekade
allerdings völkerrechtliches Neuland erschlossen.
Mit direkten Auswirkungen auf die "große" Politik: Die
Europäische Union beschloss 1998 ein umfangreiches
Programmkonzept für den Bereich Entwicklungspolitik, in dem
als rechtlicher Bezug sowohl die Erklärung als auch die
ILO-Konvention 169 genannt werden. Dänemark und die
Niederlande haben ähnliche Politikansätze
verabschiedet. Die Bundesrepublik Deutschland bezieht in ihrer
Entwicklungspolitik gegenüber Lateinamerika und dortigen
indigenen Völkern die ILO-Konvention wenigstens als Referenz
mit ein. In ähnlicher Weise formulierten internationale
Finanzagenturen - Weltbank, Asien-Entwicklungsbank - politische
Kriterien zur Berücksichtigung indigener Rechte bei der
Ausführung von Vorhaben. Leider ist die Weltbank momentan
dabei, vormalige Ambitionen wieder zu verwässern; etwa
für den Bereich der Industrien, die nicht erneuerbaren
Ressourcen ausbeuten.
Institutionelle Verankerung indigener Anliegen
Zu den wichtigsten Errungenschaften der Dekade gehören die
Einrichtung des Permanenten Forums für indigene
Angelegenheiten und die Einberufung eines
Sonderberichterstatters. Das Permanente Forum wurde im Jahr 2000
mittels der Resolution 2000/22 des Wirtschafts- und Sozialrates
der UNO (ECOSOC) aus der Taufe gehoben. Das Permanente Forum mit
Sitz in New York ist direkt dem ECOSOC zugeordnet und hat im Jahr
2002 zum ersten Mal getagt. Der Name "indigene Angelegenheiten"
vermeidet den Begriff "Volk" und seine völkerrechtlichen
Folgen - ursprünglich sollte die Institution "Permanentes
Forum der indigenen Völker" heißen. Außerdem
wurde festgelegt, dass dieses Forum Daten zur Lage indigener
Völker liefern und politische Beratung anbieten, aber kein
Ort der Beschwerde und politischen Debatte werden sollte. Also
wurde ihm gerade die Funktion der öffentlichen
institutionellen Überprüfung und Überwachung
verweigert. Was als absurde Konstruktion hätte scheitern und
das Forum auf eine Datenerhebungsmaschinerie verkürzen
können, wurde durch den pragmatischen Ansatz der indigenen
Forumsmitglieder wenigstens teilweise aufgefangen. Die vom
Permanenten Forum erhobenen Daten und politischen Analysen
fließen in die Statements indigener Organisationen anderer
Institutionen, etwa der Menschenrechtskommission, ein und werden
dort als qualifizierter Beleg für Mängel und
Versäumnisse von Staaten und internationalen Einrichtungen
genutzt.
Im Jahr 2001 wurde durch die Menschenrechtskommission zum ersten
Mal in der UN-Geschichte ein Sonderberichterstatter zu indigenen
Völkern berufen. Er hat zur Aufgabe, Informationen zur
Verletzung von Menschen- und grundlegenden Freiheitsrechten
indigener Völker zu sammeln, Quellen auch indigener
Organisationen dabei zu nutzen, jedes Jahr eine Bericht
darüber anzufertigen und diesen der Kommission vorzulegen.
Nach der ersten Enttäuschung, dass keine indigene Person
damit betraut worden war, gewann dieser UN-Mechanismus durch
Rodolfo Stavenhagen (Mexiko) inzwischen die notwendige Statur, um
der kontrollierenden und einklagenden Funktion gerecht werden zu
können.
Zum Ende der Dekade rückte auch die seit 1982 tätige
Arbeitsgruppe Indigene Bevölkerungen wieder in den Blick.
Diese Institution hat bislang ein immenses Programm abgearbeitet
und im Rahmen der Dekade wesentliche Standards zu indigenen
Völkern in die öffentliche Debatte gebracht, u.a. den
erwähnten Entwurf zur Erklärung der Rechte indigener
Völker sowie Studien zu indigenen Territorien, zum Schutz
traditionellen Wissens, zur Verfügung über
natürliche Ressourcen sowie zu Verträgen,
Übereinkommen und anderen Vereinbarungen zwischen Staaten
und indigenen Völkern. Die Arbeitsgruppe ist die einzige
Institution auf der Ebene der UNO geblieben, zu der indigene
Repräsentanten aus aller Welt relativ unkompliziert Zugang
haben und in einer relativ ungeschminkten Sprache ihre Interessen
und Forderungen vorbringen können. Dies sehen und hören
wiederum einige Staaten wie die USA oder Japan nicht gerne und
schieben Budgetrestriktionen vor, um eine ungeliebte Einrichtung
zum Ende zu bringen.
Zu einer mit der Dekade zeitlich begrenzten Institution wurde
auch der Internationale Tag der Indigenen Völker, der 9.
August. Zumindest an diesem Tag entsannen sich UNO, Regierungen
und Medien, dass da doch etwas war, und ermöglichten
indigenen und unterstützenden Nichtregierungsorganisationen,
Daten und Forderungen zur Lage einzelner Völker in das Licht
einer größeren Öffentlichkeit zu rücken.
Eine weitere institutionelle Verankerung erfuhren indigene
Völker beim Hochkommissariat für Menschenrechte.
Ausgestattet mit einem der schmalsten Budgets innerhalb des
UN-Systems, finanzierte keine Einrichtung der UNO so viele
Projekte, Reisen und Konferenzen, stellte
Praktikumsmöglichkeiten zur Verfügung und richtete
hauptamtliche Mitarbeiterstellen ein wie das Hochkommissariat.
Wenn also, trotz der verunglückten Posteraktion zu Beginn
der Dekade, eine Einrichtung der UNO die Dekade ernst nahm, dann
das Hochkommissariat für Menschenrechte.
In den Sprachen der Indigenen
Erfolgreich waren die Bemühungen des Hochkommissariats
für Menschenrechte, indigene Delegierte in
Schulungsprogramme zum System der Vereinten Nationen und der
Menschenrechtsmechanismen zu berufen. Die Programme umfassten
etwa Praktika von sechs Monaten bei der ILO, der
Weltgesundheitsorganisation (WHO), der UNESCO, bei anderen
UN-Sonderorganisationen und insbesondere beim UN-Institut
für Training und Forschung (UNITAR). Ebenso führte die
zum Bereich indigene Völker geschaffene Abteilung des
Hochkommissariats insgesamt 15 große internationale
Konferenzen in Kooperation mit indigenen Organisationen
durch.
Indigene Organisationen in den amerikanischen und asiatischen
Regionen bemühten sich u.a. um eigene Trainingskurse oder um
Übersetzungen der wichtigsten Menschenrechtsdokumente in
ihre Muttersprachen. Teilweise wurden sie dabei vom "Voluntary
Fund" (Freiwilligenfonds) finanziell unterstützt, der
speziell für die Dekade gegründet wurde mit dem Auftrag
der Finanzierung der Ziele und Vorhaben des Jahrzehnts. Als eine
der wenigen Einrichtungen der Dekade ist der Fonds mehrheitlich
mit indigenen Personen - fünf von sieben - besetzt, und auch
den Vorsitz führt eine indigene Repräsentantin. Bis
Mitte des Jahres 2004 unterstützte der Fonds 176 Projekte
indigener Völker in 49 Staaten. Darüber hinaus spielte
der Fonds bei Publikationen und bei der
Reisekostenunterstützung indigener Delegierter eine wichtige
Rolle, um ihnen die Teilnahme an den Konferenzen zu
ermöglichen. Knapp 1.000 Repräsentanten wurde so der
Zugang zur UNO, zu internationalen Konferenzen und zu regionalen
Konsultationen ermöglicht. Allerdings war wiederum die
zusätzliche Hilfe von Weltkirchenrat und einem von IWGIA
verwalteten Menschenrechtsfonds notwendig. Von den knapp 200
Mitgliedsstaaten der UNO fanden sich gerade einmal 21 bereit,
einen finanziellen Beitrag zu diesem Fonds zu leisten, und es
dauerte bis 1997, bis überhaupt nennenswerte Beiträge
flossen. Dänemark, Norwegen und Japan gehörten zu den
engagiertesten Zahlern.
Aktivitäten der UN-Mitgliedsstaaten
Die Staaten und Regierungen waren aufgefordert, spezielle
Komitees zur Förderung der Dekade zu gründen, die
öffentliche Meinung zugunsten der indigenen Interessen zu
mobilisieren, mit indigenen Gemeinschaften Pläne und
Programme für die Dekade zu entwickeln, bis in die
Grundschulen hinein den Unterrichtsstoff an eine faire
Geschichtsschreibung und Bewertung der Kulturen anzupassen,
insbesondere die Teilnahme indigener Gemeinschaften an den sie
betreffenden Entwicklungsplänen und -vorhaben
sicherzustellen und nicht zuletzt die Verfassungen so zu
verändern, dass die Existenz indigener Völker nicht
mehr in Frage gestellt werden könnte.
Die vagen Zielformulierungen lassen den Nationalstaaten
genügend Spielraum, um mögliche und unmögliche
Aktionen, zufällige und sowieso schon eingeplante
Betriebsamkeiten der Dekade zuzuschlagen, so dass in der
offiziellen Bilanz vermutlich eine beeindruckende
Tätigkeitsliste zustande kommen wird. Zweifelsohne haben
sich insbesondere in Lateinamerika die politischen Verfassungen
eindeutig zugunsten indigener Völker geändert. Dies war
jedoch wesentlich dem Protest dieser Völker und eher zuletzt
der Besinnung auf die Dekade geschuldet. Erfolgreich im
nationalstaatlichen wie internationalen Rahmen waren daher im
Wesentlichen die indigenen Völker, ihre Organisationen und
Netzwerke selbst.
Eine Übersicht
Mit Erklärungen zu den Konferenzen über biologische
Vielfalt, zu den WTO-Treffen in Seattle (1999), Cancún
(2003) und Genf (2004), zur Selbstbestimmung indigener
Völker in Asien (Baguio, 1999), zum Klimawandel (2000), zu
den Milleniumszielen (2001) oder zur Rolle indigener Frauen in
Amerika (2002) wurden Forderungen und Standards formuliert, die
aber noch keine Rechenschaftspflicht seitens der UNO oder der
Mitgliedsstaaten ausgelöst haben. Reicht es daher aus, wie
Mark Stevenson von der Associated Press bilanziert, von einem
"relativen Scheitern", oder, wie ein indigener Repräsentant
aus Kanada zusammenfasst, von einer "Dekade der Rhetorik" zu
sprechen? Das Scheitern, gemessen an der zeitlichen Vorgabe von
10 Jahren für die Ziele und Erwartungen, ist nicht von der
Hand zu weisen. Auch der fehlende politische Wille, den Rigoberta
Menchú in einem Schreiben an Kofi Annan vom 9. August 2004
feststellt, kann problemlos belegt werden. Gemessen jedoch an der
Aufgabe, aus diskriminierten, verfolgten und in ihrem kulturellen
Überleben bedrohten, indigenen Völkern neue - nationale
wie internationale - Partner werden zu lassen, waren 10 Jahre im
Vergleich zu den Jahrhunderten der Kolonisierung und
Unterdrückung wahrscheinlich von Anfang an ein eher
verwegener Auftrag. So fordern viele indigene Repräsentanten
eine zweite Dekade, um die Versäumnisse der ersten
aufzuarbeiten.
Aus pogrom-bedrohte Völker 227 (5/2004)