Von Julia Georgi
Bozen, 30. November 2005
Weltweit wird die interkulturelle Erziehung propagiert und
angewendet mit dem Ziel, Kindern eine bessere Zukunft zu
ermöglichen. Die Mainstreamgesellschaft sieht in der
interkulturellen Erziehung das Mittel zur
Konfliktprävention, zur Toleranzförderung, zur
Demokratiestärkung oder auch zur Integrationshilfe.
Gemeinschaften indigener Völker erhoffen sich von ihr Hilfe
im Überlebenskampf, verstärkten Kultur- und
Spracherhalt bzw. Sprachwiederbelebung, Förderung ihres
kulturellen Selbstbewusstseins und eine bessere Verteidigung
ihrer Interessen. Sie hoffen, dadurch einer Assimilation
entgegenzuwirken. Einige Völker entscheiden sich bewusst
für die Isolation; für die übrigen sind die
Forderungen in der Regel ähnlich: Schule soll sein,
Alphabetisierung auch, basierend auf der Stammessprache und
-kultur, interkulturell, damit die Kinder sich nicht in einer
fremden Welt verlieren. Iwerliewen fir bedreete Volleker, die
luxemburgische Sektion der GfbV-International, unterstützt
seit mehr als zwanzig Jahren entsprechende Projekte.
Allen Gemeinschaften ist gemeinsam, dass sie marginalisiert sind
und wenige Rechte haben bzw. wenig Möglichkeiten ihre Rechte
einzuklagen. Sie gehören zu Randgruppen, sind
einkommensschwach und in der Politik unterrepräsentiert,
versuchen aber, mit der Mainstreamgesellschaft in Beziehung zu
treten, um ihren Kindern bessere Perspektiven zu verschaffen.
Dies erfolgt meist mit Hilfe von Mittelsmännern und - Frauen
- oft in Missionarsschulen erzogenen Stammesvertretern. Was ist
das Hauptziel der interkulturellen Erziehung? Das
Zurückbringen der Sprache, der Kultur? Ist sie nur ein
Mittel für den Zugang zum staatlichen Schulsystem? Oder
öffnet sie tatsächlich den Weg, friedlich als ein Volk
unter anderen in einem Staatengebilde gemeinsam zu leben?
Schule findet nicht statt
Die Arbeit unseres Partners Bhasha, einer
Menschenrechtsorganisation aus Gujarat (Indien), begann in den
Adivasi-Gemeinschaften der Rathwas, Tadvis und Naikas.
Sprachwissenschaftler und Anthropologen gingen in die
Gemeinschaften, um ihre Sprachen zu erfassen, ihre Kulturen zu
erforschen und wissenschaftliche Abhandlungen zu verfassen. Und
dann fanden die Wissenschaftler Menschen. Menschen, denen die
Möglichkeit zur Selbstbestimmung und Anteilnahme an der
indischen Gesellschaft nur begrenzt möglich ist, u.a. weil
die Schulbildung und somit die modernen Methoden der
Einflussnahme fehlen. Wohl haben sie wie alle Inder das Recht auf
Bildung, aber in einigen Dörfern findet die Schule nicht
statt: Der Lehrer kommt einfach nicht. Oder der Unterricht findet
so statt, dass viele Kinder aus dem System wieder herausfallen
bzw. die Eltern sie nicht in die Schule schicken, sondern
für Haus- und Landarbeit einsetzen.
Die nicht offiziellen Schulen werden im Distrikt Vadorada in
einigen Dörfern ergänzend, in anderen als einzige
Schule angeboten, ergänzt durch kulturelle Veranstaltungen
und Zusammenkünfte in der Tribal-Akademie in Theighar. Alle
Kinder sprechen die gleiche Sprache. Erklärtes Ziel des
Programms ist, den Kindern einen Zugang zum indischen Schulsystem
zu ermöglichen, sie dort "abzuholen", wo sie stehen, und
ihnen unter Berücksichtigung ihrer Sprache und
Stammes-Kultur Lesenund Schreiben und die Landessprache Gujarati
beizubringen. Die Kinder lernen in ihrer Sprache, werden mit
ihren Geschichten, Melodien und Bildern unterrichtet, um sie in
ihrer Kultur zu festigen. Bei unserem Besuch wurde als Erfolg
gemeldet, dass in einigen Dörfern die informellen Schulen
wieder geschlossen werden konnten, da der daraus resultierende
Druck auf die Obrigkeit so groß war, dass die Staatsschule
(wieder) funktioniert. Wenn die Gemeinschaft und vor allem die
Eltern von der Notwendigkeit der Schule überzeugt sind, die
Schüler kommen und der Druck groß genug ist, kommt
auch der Lehrer wieder. Die eigenen Rechte einfordern zu lernen
ist Teil der Arbeit von Bhasha, um sich gegen das
Ausgeliefertsein, die Ignoranz und Vernachlässigung zu
stellen. Parallel zur Arbeit vor Ort wird auch die langfristig
vielleicht sogar wichtigere Lobbyarbeit unterstützt. In ganz
Indien soll interkulturelle Erziehung für Adivasi
eingeführt werden. Gelingt der Ansatz, ist die Arbeit nicht
mehr auf Hilfe von außen angewiesen.
Mapuche müssen Verbote von früher
überwinden
Ganz anders die Erfahrung mit den Mapuchegemeinschaften um
Temuco: Das Hauptziel liegt hier darin, der absoluten
Assimilierung entgegenzusteuern, die kulturelle Identität
und vor allem die Sprache Mapudungun wieder zu beleben und den
Schülern den Spagat zwischen zwei getrennten
Weltanschauungen, in denen der Planet Erde sich sogar
entgegengesetzt dreht, zu ermöglichen. Während der
Diktatur war Mapudungun verboten. Funktionierende Dorfschulen
gibt es in Chile für alle, und dort wird angesetzt. Eine
stiftungseigene Schule, die ausschließlich interkulturell
arbeitet, ist in der Pilotphase, offen für alle Kinder aus
der Gemeinde, Mapuchekinder und andere. Aufgrund der
jüngsten Spannungen zwischen Mapuche und der Regierung ist
das Projekt auf ausländische Finanzmittel angewiesen.
Interkulturelle Erziehung ist nach der chilenischen "ley
indigena" zwar vorgesehen, Mittel dafür werden aber nicht
zur Verfügung gestellt. Die einzelnen Klassen sind immer
dann in ihrer Existenz gefährdet, wenn die
Entscheidungsträger in den Gemeinden wechseln und der neue
Bürgermeister sich dem Projekt widersetzt.
Halbnomaden in Kenia - Leben in zwei
Welten
Ein weiteres Projekt mit dem Ziel der interkulturellen Erziehung
betreuen wir mit einer Massaigemeinschaft in Lokusero/ Kenia. Die
Massai leben halbnomadisch. Das Schulkonzept funktioniert nach
dem Vorbild der englischen Internatsschule. Drei Monate sollen
die Schüler in die Schule, dann kommen sie für drei
Monate zurück zu den Familien: Parallele Leben und Welten im
Wechsel. Zu Beginn des Projektes funktionierte im schulischen
Bereich fast nichts, es gab nur eine Baracke. Deswegen wurde in
einer ersten Phase zunächst die Schule wieder aufgebaut.
Unterstützung durch die zuständigen Politiker wurde
zugesagt, ob sie tatsächlich kommt, wird sich zeigen.
Zunächst sind alle erst einmal froh, die Schule mit einem
angeschlossenen Kulturzentrum eröffnen zu können.
Weitere Projekte liefen und laufen u.a. bei den Surui Indianern
in Randonia (Brasilien) und bei den Guaraní (Argentinien).
Ohne die Fähigkeit zum Schreiben und Lesen ist den
Völkern die Möglichkeit, ihre Interessen zu vertreten,
kaum gegeben. Die hier skizzierten Projekte werden mit Partnern
durchgeführt, die sich für das Leben und Lernen im
Nationalstaat und im Stamm entschieden haben.
Wie kann Unterstützung durch die Regierung erreicht werden?
Wie startet eine Modellschule mit Parallelunterricht? Welches
sind die Perspektiven? Den einen war die Sprache ganz verboten,
die anderen mussten sich erst Sprachen aneignen, um zur Schule
gehen zu können. Trotz aller Absichtserklärungen tun
sich staatliche Stellen weltweit schwer, interkulturelle
Erziehungsprogramme für Minderheiten (die oft regionale
Mehrheiten sind) zu fördern. Bei Erfolg ist ja auch der
Ärger mit der nächsten Generation schon
vorprogrammiert. Dann werden verstärkt Rechte eingeklagt,
und wer nährt schon gerne seine Widersacher? Langfristig
müssen die Schulen aber von den jeweiligen Gemeinden bzw.
Ländern mit Material und Lehrpersonal ausgestattet werden.
In den letzten Jahren wird die Drittmittelfinanzierung der
Projekte schwieriger: "Interkulturelle Erziehung in Indien? Da
darf doch jeder zur Schule. Sollen sie doch ihre Rechte
einklagen." Oder aber: "Chile ist ein reiches Land." Deswegen
besteht ein wichtiger Teil aller Projekte darin, die
zuständigen Behörden für die positiven Ergebnisse
zu interessieren und die interkulturelle Erziehung in den
jeweiligen Landescurricula zu integrieren. Davon, sich auf die
Vielfalt positiv einzulassen und sie nicht als Bedrohung, sondern
als Bereicherung zu erleben, sind wir noch weit entfernt.
Julia Georgi ist Mitarbeiterin der GfbV Luxemburg.
Aus pogrom-bedrohte Völker 233 (5/2005)