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Mapuche / Chile

Zum Minderwertigkeitskomplex erzogen

Von Sylvie Mergen

Bozen, 30. November 2005

Interkulturelle Erziehung bei den Mapuche in Chile: Seit 1997 unterstützt "Iwerliewen fir bedreete Volleker" ein Projekt zur interkulturellen Erziehung in Südchile, das von der Ethnologin Sylvie Mergen betreut wird.

Der bürgerlichen Kolonialherren abgeschaute Pose. Foto: Ediciones CEDEM.Während der achtziger und neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts scheinen die Lateinamerikanischen Regierungen sich der Problematik der indigenen Bevölkerungen bewusster geworden zu sein. In einigen Ländern wurden in dieser Zeit neue Gesetze erlassen, in denen die Rechte der Indigenen verankert sind (u.a. Brasilien 1988, Mexiko und Kolumbien 1991, Bolivien 1994). In Chile wurde 1993 die "Ley Indigena" beschlossen. In diesem Gesetz wird festgehalten, dass die chilenische Regierung die Aufgabe hat, die Entwicklung der indianischen Gemeinschaften zu respektieren, zu schützen und zu unterstützen. Doch obwohl im Artikel 28 der interkulturelle, zweisprachige Unterricht festgeschrieben ist, findet weder die Kultur noch die Sprache der Indigenen im formalen Unterricht Berücksichtigung. Die wenigen Seiten in den Schulbüchern, die sich mit den Mapuche beschäftigen, vermitteln ein verfälschtes und unrühmliches Bild der Indigenen. Viele NGOs nutzten den offiziellen Rahmen dieser Gesetze, um interkulturelle Bildungsprojekte in Gebieten mit mehrheitlich indianischer Bevölkerung einzuführen.

So lief 1997 in Chile ein von der luxemburgischen Sektion der Gesellschaft für bedrohte Völker mitfinanziertes Projekt zur Thematik der interkulturellen, zweisprachigen Erziehung an. Dieses wurde von der chilenischen NGO "Fundación de Desarrollo Campesino" (FUNDECAM/Stiftung für Landwirtschaftsentwicklung) in Zusammenarbeit mit Mapuchegemeinschaften ausgearbeitet. Längst nicht alle Mitglieder der Mapuchegemeinschaften waren jedoch von der zweisprachigen Erziehung überzeugt. Der Zusammenhalt in den Mapuchegemeinschaften und das Selbstverständnis der Kultur waren, aufgrund von jahrelangen Diskriminierungen, geschwächt. Viele Familien sahen keinen Sinn in zweisprachiger Erziehung, da sie die Ansicht vertraten, dass ausschließlich das Spanische ihren Kindern eine bessere Zukunft sicherstellen würde. Ihnen war die Überzeugung anerzogen worden, dass Mapudungun eine minderwertige Sprache sei. Kein Wunder, dass Kinder und vor allem Jugendliche ihre indigene Herkunft verleugnen, da sie sich dieser schämen.

Wissenschaftliche Studien zum häufigen Fehlschlagen des Schulbesuchs und zur hohen Abbrecherrate bei indianischen Kindern weisen darauf hin, dass mehrheitlich mit pädagogischen Konzepten gearbeitet wurde, die die kulturelle Identität der Kinder nicht einbeziehen. Auch die hohe Analphabetenrate darf nicht unbeachtet bleiben: bei den Mapuche liegt sie bei 10%, in Gesamtchile bei 4%. Wenn man diese Kinder mit ihrer eigenen Kultur und Sprache vertraut macht, hebt man ihr Selbstwertgefühl, indem man ihnen zeigt, dass sie auf ihr kulturelles Erbe stolz sein können. Der interkulturelle, zweisprachige Unterricht verfolgt das Ziel den Mapuchekindern eine bessere und ihrer Lebensrealität angepasstere Schulbildung zu verschaffen. Die Kinder sollen die Möglichkeit erhalten, sich in beiden Sprachen und Kulturen zurecht zu finden, beide anzunehmen und nicht die eigene Herkunft zu verleugnen. Beide Kulturen stehen im Unterricht auf gleichem Niveau. FUNDECAM arbeitet vornehmlich in Aurakanien, der IX. Region Chiles, in Gebieten, wo die Mehrzahl der Bevölkerung Mapuche sind.

Ein wesentliches Problem war, dass zu Beginn keinerlei didaktisches Material zur Verfügung stand. Dieses wurde im Laufe des Projektes erarbeitet. Als erstes wurde ein Sprachlehrbuch mit dem Titel "Mapudungun" ausgearbeitet und gedruckt. In Zusammenarbeit mit einigen Lonkos (Chefs der Gemeinschaft) und Kimches (weise Menschen, die eine gute Kenntnis der Sprache und der Weltanschauung der Mapuche besitzen) entstand das Buch "We Wirinkimeltun Ka Pepiluwvn Picike Ce" über die Kultur und Weltanschauung der Mapuche. Ein weiteres Buch über Heilpflanzen und die Medizin der Mapuche wurde ebenfalls publiziert.Weitere Unterrichtsmaterialien, wie zum Beispiel Plakate, wurde in den verschiedenen Gemeinden entwickelt.

Bevor der interkulturelle Unterricht in eine neue Klasse oder Schule eingeführt wird, werden anhand von Tests, welche FUNDECAM ausgearbeitet hat, die Kenntnisse in Sprache und Kultur festgestellt. Der Unterricht baut auf den vorhandenen Kenntnissen auf. Eine Arbeitsgruppe aus Lehrern, Mitarbeitern von FUNDECAM und Kimches arbeitet das Schulprogramm aus, das sich je nach Gemeinschaft unterscheidet. Die Kimches, die an den Schulen unterrichten, werden von der jeweiligen Gemeinschaft ausgewählt. Sie unterstützen die Arbeit der Lehrer, die meist keine Mapuche sind und sich weder mit der Sprache noch mit der Kultur auskennen. Neben dem Sprachunterricht werden auch Workshops für die Schüler veranstaltet. Inhalt dieser Ateliers sind kulturrelevante Themen. So lernen die Schüler die Medizin und Pflanzenwelt der Mapuche kennen. Gärten werden angelegt und Heilpflanzen gezüchtet, um die Kinder damit vertraut zu machen. Sie lernen den Umgang mit der Natur und die Verbundenheit der Mapuche mit ihrer Mutter Erde kennen. Erste Kenntnisse der Mathematik der Mapuche werden vermittelt, sowie traditionelle Handwerkskunst gelehrt. Des Weiteren werden wichtige rituelle Feste mit den Schülern zusammen gefeiert; sie werden mit traditionellen Zeremonien vertraut gemacht. Ein wichtiges Fest ist der "We Tripantu", das Neujahrsfest der Mapuche am 24. Juni. Die Wiederkehr der Sonne steht für die Erneuerung des Lebenszyklus, die Erneuerung der Kräfte des Kosmos und der Natur. Eine wichtige religiöse Zeremonie ist das "Ngillatun", das aus den unterschiedlichsten Gründen stattfinden kann, wie bei Naturkatastrophen, bei politischen Ereignissen und vor wichtigen Entscheidungen. Auf einem Ngillatun bedanken sich die Teilnehmer für eine gute Ernte oder bitten um Regen für Menschen, Tiere und Pflanzen. Dabei gerät die Machi (oder Schamanin) in Trance, sie tritt mit bösen und guten Naturkräften in Kontakt und gibt anschließend den Mapuche Rat.

Die Machi sind Frauen mit besonderen Fähigkeiten, die die Zeremonien der Mapuche leiten und mit Naturmedizin heilen. Sie stellen die Verbindung dar zwischen der natürlichen und der übernatürlichen Welt. Zu diesem Zweck benutzen sie die "Kultrun", eine zeremonielle Trommel, auf welcher das Universum symbolisch viergeteilt dargestellt ist. Neben der Lehrtätigkeit organisiert FUNDECAM auch Ausbildungsseminare für Lehrer, um sie mit der Sprache und Kultur der Mapuche vertraut zu machen mit dem Ziel, die interkulturelle, zweisprachige Erziehung zu institutionalisieren. Wichtige Grundsteine in diese Richtung wurden während der letzten Jahre gelegt. Es wurde didaktisches Material geschaffen, das verfügbar und überall einsetzbar ist. Es wurden Abkommen mit Gemeinden abgeschlossen; eine enge Zusammenarbeit mit anderen NGOs und Universitäten wird angestrebt. Die Mapuche haben ein neues kulturelles Selbstbewusstsein erlangt und wollen, dass ihre Kinder, wie schon Generationen vor ihnen, mit ihrem Wissen, ihrer Sprache und ihren Traditionen aufwachsen. Im Idealfall würde interkultureller Unterricht Eingang in den gesamten chilenischen Schulbetrieb finden. So könnten Vorurteile gegen Indigene abgebaut werden, und dies ist die Voraussetzung gegenseitiger Anerkennung und Respekterweisung.

Von Seiten der Regierung ist angesichts der angespannten Lage zwischen Mapuche und der Obrigkeit keine große Unterstützung zu erwarten. FUNDECAM ist weiterhin auf ausländische Unterstützung angewiesen. Nur so können die Auswertung und Publikation ihrer Erfahrungen finanziert werden. Nur bleibt die ausländische Hilfe immer mehr aus; aufgrund der relativ guten wirtschaftlichen Situation Chiles ziehen sich immer mehr Unterstützungsorganisationen zurück. Es bleibt zu hoffen, dass trotz aller Widrigkeiten der interkulturelle zweisprachige Unterricht eine Zukunft hat, denn nur so hat die Vielfalt der Kulturen eine Überlebenschance.

MAPUCHE

Das Volk der Mapuche lebt im Süden Chiles und Argentiniens. Der Name setzt sich aus "Mapu" (Erde) und "Che" (Mensch) zusammen. Die "Menschen der Erde" sprechen "Mapudungun" (die Sprache der Erde). In der Vergangenheit haben sich die Mapuche erfolgreich gegen Eroberungen und Assimilation gewehrt. 1475 drangen die Inkas ins Mapuchegebiet ein, wurden jedoch zurückgedrängt. Ebenso erging es 1536 den Spaniern. Dank ihrer unermüdlichen Gegenwehr erreichten die Mapuche, dass die Spanier mehrere Abkommen mit ihnen abschlossen, welche ihnen ein unabhängiges Gebiet südlich des Bío- Bío garantierten.

Die Entstehung des unabhängigen Staates Chile bedeutete das Ende der Freiheit für die Mapuche. Viele wurden getötet, ihre Kultur wurde missachtet, ihre Traditionen und ihre Sprache verboten. Ihr Territorium wurde größtenteils enteignet; ihnen blieb nur noch ein Bruchteil ihres Bodens, aufgesplittert in "reducciones", in denen sie gewaltsam angesiedelt wurden. Im 20. Jahrhundert wurde diese Politik fortgesetzt. Zwischen 1920 und 1964 verloren die Mapuche weitere 30.000 ha des ihnen verbliebenen Landes. In den sechziger Jahren begannen die Mapuche, ihr Land zurück zuverlangen; 1970 unterstützen sie die Kandidatur von Salvador Allende, der ihnen Reformen zusagte.

Als 1973 Pinochet die Macht gewaltsam an sich riss, erlebten die Mapuche die schlimmste Unterdrückung; er verkündete: "Es gibt keine Indigenen, wir sind alle Chilenen." Außerdem machte Pinochet, der bis 1988 an der Macht war, die von Allende begonnene Landreform rückgängig und übergab das Mapucheland an Großgrundbesitzer oder direkt an Holzunternehmen. Mit dem Ende der Diktatur verbesserte sich die Lage, doch die Lebensbedingungen der Mapuche sind noch immer schwierig. Die wirtschaftliche Situation Chiles ist gut, doch die Unterschiede innerhalb der Bevölkerung sind gewaltig. Die meisten Mapuche leben nach wie vor in großer Armut, für viele haben auch die Verfolgungen nie wirklich aufgehört. Seit dem Ende der Pinochet-Diktatur kämpfen mehrere Mapuche-Organisationen um die Rückgabe ihres Landes mit Besetzungen und Straßenblockaden. Die Proteste richten sich gegen die Staudämme am Bío-Bío und gegen die großen Forstunternehmen, die sich rund um Temuco angesiedelt haben. Diese haben das Ökosystem durch den Anbau von schnellwachsenden Bäumen, wie Eukalyptus, radikal verändert. Die protestierenden Mapuche werden wie Terroristen behandelt.

Aus pogrom-bedrohte Völker 233 (5/2005)


Siehe auch:
* www.gfbv.it: www.gfbv.it/2c-stampa/2006/060516de.html | www.gfbv.it/3dossier/ind-voelker/mapuche.html | www.gfbv.it/3dossier/ind-voelker/mapuche-de.html | www.gfbv.it/3dossier/ind-voelker/lota2003.html | www.gfbv.it/3dossier/ind-voelker/georgi.html | www.gfbv.it/3dossier/ind-voelker/dekade.html

* www: www.fidh.org/article.php3?id_article=3289 | www.mapuche-nation.org | www.universidadmapuche.org | www.mapuche.info | www.mapuexpress.net | www.nodo50.org/azkintuwe | www.hrw.org/spanish/informes/2004/chile1004/ | www.koyaktumapuche.net

Letzte Aktual.: 22.6.2006 | Copyright | Suchmaschine | URL: www.gfbv.it/3dossier/ind-voelker/mapu-mergen.html | XHTML 1.0 / CSS / WAI AAA | WEBdesign: M. di Vieste; E-mail: info@gfbv.it.

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