Uri Avnery
Bozen, 8. November 2004
In Israel spricht im Augenblick jeder über
den nächsten Krieg. Im populärsten Fernsehkanal
läuft darüber sogar eine ganze Serie. Nicht über
noch einen Krieg gegen die Araber. Nicht über die nukleare
Bedrohung aus dem Iran. Nicht über die fortdauernde blutige
Auseinandersetzung mit den Palästinensern. Man spricht
über einen bevorstehenden Bürgerkrieg. Vor nur wenigen
Monaten hätte dies absurd geklungen. Auf einmal wird dies
nicht nur denkbar, sondern eine sehr reale Möglichkeit. Es
ist nicht eine weitere aufgebauschte Mediensensation. Es sind
keine weiteren politischen Manipulationen Ariel Sharons. Nicht
nur ein weiterer Erpressungstrick der Siedler - sondern eine
reale Angelegenheit. Man spricht darüber bei
Kabinettstreffen und in der Knesset, bei Fernseh-Talkshows, in
Leitartikeln und auf den Nachrichtenseiten. Der General-Stabschef
hat öffentlich davor gewarnt, die Armee könne aus
einander fallen. Einer der Minister sagt, sogar die Existenz
Israels stehe auf dem Spiel. Ein anderer Minister prophezeit ein
Blutbad wie im Spanischen Bürgerkrieg.
Mal still, mal weniger still bereitet sich der Geheimdienst (Shin
Bet) mit Vorbeugemaßnahmen vor. Der
Gefängnisverwaltung ist befohlen worden, Einrichtungen
für Massenverhaftungen vorzubereiten. Die Armeeführung
plant, zehntausend Reservesoldaten einzuziehen, und denkt nach,
welche Schritte im Fall eines Falles unternommen werden
müssten. Es ist tatsächlich eine sehr ernste Bedrohung.
Auf den ersten Blick hin, mag es aussehen, als käme sie aus
dem Nirgendwo. Doch wer Augen hat, die sehen, wusste, dass dies
früher oder später eintreten werde. Die Saat für
einen Bürgerkrieg wurde gesät, als die erste Siedlung
in den besetzten Gebieten errichtet wurde. Damals sagte ich zum
Ministerpräsidenten in der Knesset: "Sie legen eine
Landmine. Eines Tages werden Sie sie demontieren müssen. Als
früherer Soldat möchte ich Sie davor warnen, denn das
Demontieren von Landminen ist ein sehr unangenehmer Job." Seitdem
sind Hunderte von Minen gelegt worden. Und noch immer werden die
Minenfelder ausgeweitet.
Der Prozess wurde von religiösen Spinnern angeführt.
Ihr erklärtes Ziel sei es - so sagten sie damals und werden
nicht müde, dies zu wiederholen - alle Araber aus dem Land
zu treiben, das uns Gott versprochen hat. Und das uns von Gott
verheißene Land ist, woran uns neulich wieder einmal einer
von ihnen im Fernsehen erinnerte, nicht das "Palästina" des
britischen Mandats - nein, das Land der Verheißung
schließt Jordanien, den Libanon und Teile von Syrien und
den Sinai mit ein. Ein anderer zitierte aus der Bibel und
erklärte, wir seien in dieses Land gekommen, nicht nur um es
zu erben, sondern um andere zu enterben, sie zu vertreiben und
ihren Platz einzunehmen. Seitdem der damalige
Verteidigungsminister, Shimon Peres Kedumim, die erste Siedlung
mitten in die palästinensische Bevölkerung auf der
Westbank eingepflanzt hat, breiten sie sich aus. Jede Siedlung
hat nach und nach das Land und Wasser der benachbarten
palästinensischen Dörfer gestohlen, ihre Bäume
entwurzelt, ihre Straßen blockiert und neue Straßen
gebaut, die für Palästinenser gesperrt sind. Fast alle
Siedlungen haben Ableger auf den benachbarten Hügeln
angelegt. Dies hat sich bis heute fortgesetzt. Nachdem Sharon
Präsident Bush feierlich versprochen hat, einige dieser
"Außenposten" aufzulösen, sind Dutzende neue aus dem
Boden gesprossen. Alle Ministerien helfen den Außenposten,
die offiziell als "illegal" definiert werden. Die Armee
verteidigt sie nicht nur - und setzt so ihre Soldaten Gefahren
aus - tatsächlich sagt sie der selbsternannten
"Hügeljugend" sogar, wo sie ihre Außenposten hinsetzen
soll und berät sie insgeheim.
Als wir vor der Gefahr warnten, wurde uns gesagt, wir sollten
dies nicht so ernst nehmen. Nur eine Minderheit der Siedler seien
fanatische Freaks, beruhigte man uns: "Die sind wirklich
verrückt und sie werden jedem Versuch, sie zu entfernen,
gewaltsam Widerstand leisten. Aber das wird kein großes
Problem sein, weil der größte Teil der israelischen
Bürger sie verabscheut und sie für eine Sekte von
Spinnern hält." Die meisten Siedler seien keine Fanatiker,
wurde uns gesagt. Sie gingen dorthin, weil ihnen die Regierung
teure Villen geschenkt hat, die sie sich in Israel selbst nicht
mal im Traum hätten vorstellen können. Sie suchten
"Lebensqualität". Wenn die Regierung ihnen sagen werde, sie
sollen weggehen, werden sie ihre Kompensationen nehmen und
wegziehen.
Das ist natürlich eine gefährliche Täuschung. Wie
Karl Marx sagte, wird das Bewusstsein der Leute von ihrer
Situation bestimmt. Die guten Sozialdemokraten, die von der
sozialdemokratischen Regierung (Awodah) auf die Westbank und in
den Gazastreifen verpflanzt wurden, reden und benehmen sich jetzt
wie die schlimmsten Jünger der faschistischen Lehren des
Meir Kahane. Außerdem wurde uns gesagt: "Sogar die irren
Typen erkennen die israelische Demokratie an. Keiner wird seine
Hand gegen die Soldaten der israelischen Armee erheben. Wenn die
Regierung und die Knesset entscheidet, die Siedlungen
müssten geräumt werden, dann werden sie gehorchen. Sie
werden wohl Radau machen und eine Show des Widerstandes abziehen,
wie sie es bei der Räumung der Siedlungen im Nordsinai 1982
machten, aber letzten Endes werden sie nachgeben.
Schließlich hat sich auch im Sinai kein einziger Siedler zu
guter Letzt geweigert seine Entschädigungen
anzunehmen.
Aber diese Geringschätzung der Siedler ist nicht weniger
gefährlich als die Geringschätzung der Araber. Was die
ganze Zeit verborgen gehalten wurde, ist nun deutlich geworden:
Den Siedlern sind die Demokratie und die Institutionen des
Staates völlig egal. Ihr harter Kern legt es
folgendermaßen aus: Wenn die Resolutionen der Knesset der
Halachah - dem jüdisch religiösen Gesetz -
widersprechen, dann hat die Halachah Priorität. Die Knesset
bestünde schließlich nur aus einer Bande korrupter
Politiker. Und welchen Wert haben säkulare Gesetze, ein
Abklatsch der Goyim (Nicht-Juden), im Vergleich zum Wort Gottes:
Gelobt sei sein Name? Viele Siedler reden noch nicht so offen und
tun so, als wären sie beleidigt, wenn man ihnen diese
Haltung vorwirft. Tatsächlich aber werden sie vom harten
Kern mitgezogen, der schon alle Masken hat fallen lassen. Sie
fordern nicht nur die Politik der Regierung heraus, sondern auch
die israelische Demokratie als solche. Sie erklären offen,
ihr Ziel sei es, den Rechtsstaat zu stürzen und an seine
Stelle den Staat der Halachah einzusetzen. Der Rechtsstaat ist
dem Willen der Mehrheit unterworfen, die die Gesetze erlässt
und, wenn notwendig, ändert. Der Staat der Halachah ist der
nationalreligiösen Lehre und ihrer Auslegung der Torah
unterworfen, die angeblich ein für alle Mal so am Berg Sinai
zu verstehen war und unveränderlich ist. Nur eine sehr
kleine Anzahl von herausragenden Rabbinern hat die
Autorität, die Halachah auszulegen. Das ist das Gegenteil
von jüdischer Diskussionskultur und natürlich auch von
Demokratie. In einem anderen Land würde man diese Leute
Faschisten nennen. Dass sie sich gerne eine religiöse
Färbung geben, ändert nichts daran.
Die religiös-rechten Rebellen sind stark motiviert. Viele
von ihnen glauben an die Kabbala - nicht die modische Kabbala von
Madonna, sondern an "die wirkliche". Diese besagt, die heutigen
nicht-orthodoxen Juden seien Amalekiter, denen es nach dem Auszug
aus Ägypten gelungen sei, sich in das Volk Israel
einzuschleichen [ * ]. Gott selbst hat - wie jeder weiß -
den Befehl gegeben, die Amalekiter vom Antlitz der Erde zu
vertilgen. Kann es eine vollkommenere Ideologie für einen
Bürgerkrieg geben? Warum ist dies zu diesem Zeitpunkt eine
Bedrohung geworden? Es ist noch nicht klar, ob Sharon wirklich
beabsichtigt, die wenigen Siedlungen im Gazastreifen zu
räumen. Aber so, wie die Siedler es sehen, ist allein der
Gedanke, eine einzige Siedlung zu räumen, ein casus belli.
Dies würde alles angreifen, was ihnen heilig ist. Sharon
versucht, sie zu überzeugen, dies sei nur ein Trick - ein
paar kleine Siedlungen zu opfern, um all die anderen zu retten.
Vergeblich. Die Siedler haben, um ihre große Rebellion
vorzubereiten, ihr Potential aufgedeckt. Die bekanntesten
Rabbiner der "religiös zionistischen Bewegung" haben
erklärt, die Evakuierung einer Siedlung sei eine Sünde
gegen Gott und die Soldaten aufgerufen, sich den Befehlen zu
widersetzen. Hunderte von Rabbinern, einschließlich der
Rabbiner der Siedlungen und der religiösen Armeeeinheiten,
haben sich diesem Aufruf angeschlossen. Die Stimme der wenigen
Opponenten ist im Lärm untergegangen. Sie zitieren den
Talmud und sagen "Das Gesetz des Königreichs ist Gesetz".
Das heißt, man muss der Regierung des Staates gehorchen.
Aber wer hört jetzt noch auf diese "moderaten Rabbiner"? [ ** ]
Längst ist die Armee von innen erobert worden. Die
"Vereinbarung" mit den Yeshivot Hesder, religiöse Akademien,
die in der Armee als getrennte Einheiten ihren Dienst tun, hat
einem riesigen trojanischen Pferd erlaubt, einzudringen. Bei
jeder Auseinandersetzung zwischen ihren Rabbinern und den
Armeekommandeuren werden die Soldaten der Yeshivot den Rabbinern
gehorchen. Es ist aber noch schlimmer: seit Jahren sind die
Siedler systematisch in die Ränge des Offizierskorps
eingedrungen, wo sie nun sogar ein noch größeres
Trojanisches Pferd darstellen.
Die Verweigerung derjenigen vom rechten Flügel, Befehlen zu
gehorchen, hat nichts mit der Verweigerung der vom linken
Flügel zu tun, die aus Gewissensgründen verweigern. Die
Verweigerung der Linken ist persönlich. Die Verweigerung der
Rechten ist eine kollektive Meuterei. Bei den Linken sind es nur
ein paar Hundert, die sich weigern, der Besatzung zu dienen. Auf
der Rechten sind es viele Tausend, sogar zehntausend, die den
Befehlen ihrer Rabbiner gehorchen. Wie der Generalstabschef
gewarnt hat, kann sich die Armee aufspalten. Alle zusammen
mögen die Siedler mit ihren engsten Verbündeten in
Israel einschließlich den Yeshivot-Studenten etwa eine
halbe Million Leute sein - eine mächtige Phalanx der
Rebellion. Bis jetzt benutzen die Siedler diese Drohung nur als
Instrument der Erpressung und Abschreckung, um von Anfang an
jeden Gedanken über die Räumung von Siedlungen und
Gebieten abzuwürgen. Aber wenn die Erpressung keinen Erfolg
hat, wird die große Rebellion nur eine Frage der Zeit
sein.
Übersetzung des Artikels von Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert.
Notes
[ * ] Bei Kabbala-Forscher
Seffi Rachlewski: "Der Esel des Messias" (hebr)
nachzulesen.
[ ** ] Anm. haGalil: Ein von
National-Religiösen immer wieder in's Feld geführtes
eindeutiges Verbot, auf Teile des Landes Israel zu verzichten,
existiert überhaupt nicht. Wenn sich ein Verzicht empfiehlt
um Leben zu retten, Frieden zu schaffen oder um andere Teile des
Staates zu stärken, kann ein Verzicht durchaus geboten sein.
In den Heiligen Schriften sind zahlreiche Beispiele bekannt,
angefangen bereits bei Awraham, der Lot die Hälfte des
Landes gab. Aber auch spätere Beispiel sind erwähnt:
König Salomo übergab zwanzig Städte an Hiram, den
König von Tyrus. Yochanan Ben Zakai verzichtete auf
Jerusalem und bat "Bringt mir Yavneh und Weise". Es gibt ein von
national-religiösen immer wieder angeführtes Gebot, im
Land Israel zu leben. Andere Autoritäten widersprechen der
Gültigkeit dieses Gebots, zumindest habe es nach
halachischer Definition nicht die gleiche Bedeutung wie die
Kaschruth oder die Einhaltung des Schabath. Der frühere
Vorsitzende "Meimad"-Bewegung, Rabbiner Yehuda Amital
erklärte, dass die Halacha überhaupt kein legitimes
Werkzeug sei, das man sich in Sachen Siedlungsaufgabe zu nutze
machen könne. "Das ist keine halachische Frage", so Amital,
"die Halacha hat entschieden, dass man sich zu Gunsten des
Staates Gedanken machen soll, und was für den Staat gut ist,
das definieren verschiedene Menschen aus verschiedenen Nöten
heraus, hier geht es also um eine politische
Meinungsverschiedenheit, und die Halacha hat hier überhaupt
keinen Status".
Ressourcen
Bewegung der Befürworter des Abzugs aus
Gaza: Die Vertreter www.hagalil.com/archiv/2004/10/abzug.htm
der stillen Mehrheit
Eine neue Bewegung möchte die die Mehrheit des Volkes davon
überzeugen, dass sie tatsächlich die Mehrheit des
Volkes - und um Himmels willen kein bisschen links ist - tfu,
tfu, tfu!...
Umsetzung des Abkopplungsplans:
Er www.nahost-politik.de/israel/regierung/mandat.htm
hat ein Mandat
Angesichts der Drohungen und der politischen Agitation, die wie
ein Hurrikan über das Land ziehen, gibt es nichts
gefährlicheres als die Behauptung, Sharon habe kein Mandat
für die Umsetzung des Abkopplungsplans...
National-Religiöse fordern
Referendum:
Zweifel am www.hagalil.com/archiv/2004/10/siedler.htm
Geisteszustand des Ministerpräsidenten
Das Zentralorgan der National-Religiösen Partei, die in
erster Linie die Interessen der Siedler vertritt, kontert die
Kritik von Generalstabschef Ja'alon...
Die Vorzüge des Referendums:
Ein Lehrstück www.hagalil.com/archiv/2004/10/gazah.htm
zum Thema Götzendienst
Es wird ein Referendum geben. Der Sharonsche Bulldozer wird immer
zu einem Weichei, wenn er auf harte Substanzen stößt.
Ein Bulldozer ist er nur bei Schwachen. Bei
Flüchtlingshäusern in Gaza z.B. Wenn sich ihm
entschlossene Faktoren entgegen stellen, dann zieht er den
Schwanz ein...
Hochspannung in Jerusalem:
Sharon kennt www.hagalil.com/archiv/2004/10/gaza.htm
seine Pappenheimer
Der "schicksalhafte Dienstag", der Tag der Abstimmung über
die Loslösung, rückt näher. Die Angst vor
gewalttätigen Ausschreitungen in der Knesset nimmt zu. Im
Regierungsviertel wurden bereits beispiellose
Absicherungsmaßnahmen getroffen...
Ein Viertel der Israelis:
"Kahana www.hagalil.com/archiv/2004/10/kahana.htm
hatte recht" Viele Israelis sehen gesteigerte Aussichten auf
einen weiteren politischen Mord und knapp 60% der Israelis
zwischen 18 und 22 Jahren befürworten den Transfergedanken -
die Vertreibung der Araber aus Israel...
Kampf um Leben und Tod:
Die
www.hagalil.com/archiv/2004/10/wiedergutmachungsabkommen.htm
Historie und die Hysterie Anfang 1952, genau sieben Jahre nach
der Niederlage Nazideutschlands, beschloss David Ben-Gurion, es
müsse ein Entschädigungsabkommen mit Deutschland
unterzeichnet werden, um die Masseneinwanderung
aufzunehmen...