von Rupert Neudeck
Bozen, 7. Mai 2002
Die Reise nach Bethlehem bedeutet für mich eine Art von
"farewell". Ich muss einfach Abschied nehmen von alten, sehr
liebgewordenen Vorstellungen. Wir hofften, dass die Pause, die in
dem Zirkel von Selbstmordattentaten und Vergeltung eingetreten
war, unserer Reise zu Gute gekommen wäre. Aber es war genau
umgekehrt. Der erste Blick, den wir aus dem Fenster des
Palästinenserhauses tun konnten, war auf den Berg Har Hona,
der im Arabischen Abu Ghneim heißt. Früher war das ein
kräftig grüner und bewaldeter Berg, auf den zu blicken
von der Grabeskirche oder dem Hotel Ararat in Beit Sahour den
Augen wohlgefällig und angenehm war.
Jetzt ist der Berg kahl und bebaut mit furchterregenden
mehrstöckigen festungsähnlichen Bauungetümen. Auch
dort ist eine neue Siedlung entstanden, die nicht nur die Umwelt
verschandelt, sondern den hier lebenden Palästinensern noch
einmal zeigen soll, was eine Harke ist. Und wer die Macht hier
hat, über alles zu bestimmen. Die Gegend ist von
verschiedenen solcher Settlements belagert. Und Israel hat diese
Form der Landschaftsgliederung durchgehalten - das einzige
Vorbild, das ich kenne: Das Südafrika der Apartheid.
Furchtbar sind die Schläge, die Israel versetzt werden. Als
wir auf dem Weg zurück aus Palästina sind, den
besetzten Gebieten, gibt es die tägliche Nachricht, auf die
jedermann in Israel und der Welt schon mit Schaudern wartet. Wir
fahren den Berg von Jerusalem herunter und sind auf dem Weg nach
Jaffur. Das Radio meldet den neuesten Selbstmordanschlag, ebenso
furchtbar wie der vergangene in Natanya. Die erste Nachricht aus
Haifa, wo die Terroristen jetzt auch zugeschlagen haben: Neun
Tote, dann elf, dann dreizehn, dann fünfzehn. Ebenso viele
Verletzte. Wir sind am Nachmittag noch bei einem Ehepaar, das aus
Lemberg gebürtig, mit List und Glück den Holocaust
überlebt hat. Da plötzlich stöhnt unser Mitfahrer
auf. Die Nachrichten sagen, es seien bei diesem Anschlag zwei
vollständige Familien getötet worden.
So sehr wir immer
erwarten, dass die Palästinenser sich einhellig von diesen
Terroraktionen distanzieren, habe ich manchmal fast den Eindruck,
sie schaffen das nicht mehr. Sie sind nicht durchtrieben, sie
sagen: ja, es wäre uns ja lieber, es gäbe so etwas
nicht, und töten würde man - wenn überhaupt -
ausschließlich Kombattanten. Aber sie schaffen es nach so
viel Jahren der Demütigung, nach fast drei Jahrzehnten
(genau: 27 Jahren) nicht nur der Vertreibung, sondern auch der
Verfolgung und der Demütigung. Besuch beim
palästinensischen Tourismus-Minister mitten in Bethlehem.
Während wir am Karsamstag den Aufzug in der Arab Bank von
Bethlehem unterhalb der Nativity Church in den vierten Stock
fahren, sind wir einem Minister gegenüber, der das
klassische Bild des 'Königs ohne Land' bietet. Mitri Abu
Aita ist "Minister of Tourism and Antiquities", aber er hat
nichts mehr zu vergeben oder zu verwalten.
Über seinem Schreibtischsessel thront ein sehr kühnes
Porträt von Jassir Arafat, von dem wir stündlich
erwarten, dass er ermordet wird. Deshalb bekommt der Minister
alle 30 Minuten einen Zettel in die Hand, auf dem der Zustand des
Chairman aufgezeichnet ist. Sonderbare Stimmung, wir sitzen hier
mit dem Minister eines Kabinetts, dessen Premier aktuell vom
israelischen Militär bei Brot, Wasser und Taschenlampenlicht
gefangen gehalten und abgrundtief gedemütigt wird. Ich habe
ja schon viele imaginäre Tourismus-Minister erlebt. Hier
aber gibt es den Tourismus-Minister zu Recht, er hat mit den
israelischen Partnern den Tourismus hoch-gebracht. Es gab 1999 -
so erzählt er, während er eine Marlboro nach der
anderen voller Nervosität raucht - eine Million (!)
Touristen in Palästina. Man hatte nach Oslo (1994) begonnen,
Hotels zu bauen, wie überhaupt der Oslo-Boom immer noch zu
besichtigen ist, im Dreieck Bethlehem, Beit Sahour und Beit Jala.
6.000 Betten und Zimmer stehen als touristische Kapazität
zur Verfügung. Nur, der Minister zeigt mit leerer Hand und
enttäuschtem Gesicht auf die Gegend unter dem Bankenturm:
Diese 6.000 Hotelbetten und Zimmer sind alle leer. Dabei fing
doch alles ganz gut an. Seit 1999 konnte die Palastinian
Authority auch den Namen "PALÄSTINA" auf al-len
TourismusMessen und Ausstellungen nennen und nicht mehr
ExPalästinensische Gebiete unter Israels Besatzung.
Dass Ariel Sharon den Zevi zum Minister für Tourismus
ernannte, der eigentlich eine besondere Art von Tourismus
vorbereitete, nämlich die Vertreibung der Palästinenser
nach Jordanien, Libanon und Syrien vorbereiten sollte, macht den
Zynismus der Leute um Scharon besonders deutlich. Mitri Abu Aita
erzählt, mit dem damaligen Tourismus-Minister von Israel
habe er sehr oft gemeinsame Pressekonferenzen gemacht. Am 25.
Februar 2001 gab es das letzte Meeting mit dem israelischen
Tourismus-Minister, ab dann kam der neue Tourismus-Minister, der
sich sofort mit Erklärungen profilierte, die zeigten: Dieser
Mann hat nichts mit Tourismus am Hut, wie man in aller Welt
dieses Reise und Urlaubs-Gewerbe versteht. Er will die
Palästinenser einfach aus der Westbank und dem Gaza-Streifen
vertreiben. Und dafür großzügig die
Transportmittel stellen, vielleicht auch ein paar
Entschädigungen. Das nennt er makaber Tourismus. Die
Verluste sind jedenfalls gewaltig. Jeden Monat 25 Mio. US Dollar,
seit dem Anfang der Intifada, also seit 18 Monaten, insgesamt ca.
500 Mio US Dollar. Wir gehen zu der Familie des kleinen
17-jährigen Johnny Jousef George Thaljeh, der am 20. Oktober
2001 auf dem Platz vor der Grabeskirche erschossen wurde. Ich
hatte so viele Erschießungen mitbekommen, die von ganz
glaubwürdigen Zeugen, nicht nur Palästinensern, auch
von Ausländern, die dort arbeiten, gehört, dass ich
unbedingt einem Fall nachspüren musste. Der Verdacht nagte
in mir: Diese israelische Tsahal-Armee, die einst auf ihre Moral
so besonders stolz war und auf die "Education" der Armee, die
wahrscheinlich weltweit ihresgleichen suchte, hat ihre alten
unbedingten Standards verloren. Es geschehen jetzt
Erschießungen, Exekutionen, standrechtliche
Erschießungen, Gewalt ohne jedes Motiv.
Dieser 17-Jährige, eines von fünf Kindern einer klugen
Frau, die wir sprechen nebst ihrem Mann, erzählt uns noch
einmal den Tathergang. Johnny ging an diesem 20. Oktober (ein
Samstag) um 14.30 Uhr die Kirche, er kam dann zurück, hielt
das Kind eines Verwandten auf dem Arm, dann ging er weiter, in
dem Moment krachte aus der Richtung des Israel-Militärlagers
Hindaza Hill ein Schuss - Johnny wurde getroffen und war sofort
tot. Die Eltern des 17-Jährigen waren der festen
Überzeugung, der Platz vor der Geburtskirche sei ein
heiliger Platz, ein "holy place", also sicher. 23 Personen wurden
in der Gegend um Bethlehem in zwei Wochen getötet. Ein
Israelischer Soldat habe hier vier Personen getötet, da habe
man von der Armee gesagt, der sei "mentally ill" gewesen. Am
31.3. hält Ariel Sharon seine Rede an sein Volk, etwa um
19.30 Uhr israelischer Zeit, es ist gerade mal vier Stunden nach
dem neuen Attentat von Haifa mit den, wie wir jetzt hören,
15 Ermordeten. Wir befinden uns im Krieg, sagt Sharon. Der Terror
werde nur von einem Menschen gemacht, der heiße Jassir
Arafat. Diese Person sei ein "Feind Israels und eine Gefahr der
ganzen westlichen Welt. Gegen den Terror kämpfen wir ohne
Kompromiss". Am nächsten Tag - in Deutschland ist es
Ostermontag, ein Feiertag - gibt es ein alternatives Statement
vom bekannten Sohn des ehemaligen Innenministers Burg - Abraham
Burg: Jeder Staat habe das Recht, auf Terror angriffe zu
reagieren. Zweifellos. Aber Reaktion um der Reaktion willen?
"Wohin führt eine Reaktion, ist eine Frage, die zuvor
gestellt werden sollte. Wie sieht das Kriegsziel aus? Das Volk
weiß es nicht. Es befindet sich in einer Lage, die so
verwirrend ist wie sie gefährlich ist". Schon einmal
hätten die Israelis einen Krieg im Libanon geführt und
im Nachhinein festgestellt, dass er überflüssig war.
"Sollten wir uns da jetzt nicht im Vorhinein fragen, wohin uns
dieser Krieg führen soll?"
Ein Krieg ohne Ziel ist auch ein Krieg ohne Öffnung, ohne
jede Aussicht auf Dialog. Noch stärker und fester bricht
Abraham Burg in die Festung der geliebten Vorurteile aller
Palästinenser ein: "Wir haben uns in die Dummheit der
Palästinenser verliebt. Auch wenn das alles stimmen sollte,
dass sie unfähig sind zu verhandeln - selbst dann
müssen wir uns immer noch fragen: Zwingt uns das, in diesen
Kreislauf einzuspringen? Wir sind das starke Element in dieser
Region. Ein erster Schritt zur Zerschlagung des Kreislaufs der
Gewalt muss von uns kommen." Die Moral ist eine andere geworden.
Der alte Stolz Israels war es immer, dass alle Reporter und
Humanitären dabei sein können. Das wurde bei diesem
Feldzug gegen das Hauptquartier von Arafat zum ersten Mal
durchbrochen.
Auch eine andere berichtete und erlebte Geschichte macht mich
besorgt: Es wird von unseren Gastgebern erzählt, man sammle
die Jugendlichen oft auf der Straße ein, sie müssten
sich hinlegen, die entwürdigende aber schon normal gewordene
Prozedur hinnehmen. Dann werden sie nach ihrer Religion gefragt:
Die Christen dürfen dann immer gleich verschwinden, werden
also freigelassen, die Muslime nicht. Das erinnert mich so stark
an die verderbliche, aber Gott und Allah sei Dank - vergebliche
Taktik der serbischen Spezialpolizei im Kosovo 1998 und 1999: Die
wenigen monochristlichen Dörfer wurden von der serbischen
Militärdampfwalze intakt gelassen, alles drumherum wurde
plattgemacht. Bei den Serben war das die Vorstellung, die dabei
die Operation leitete: Es ist schon an sich und in sich schlimm
genug, ein Shiptar, ein Albaner zu sein. Aber wenn sich das noch
mit dem zweiten Te ufelsmal vereinigt, dem Beelzebub des Islam,
die Gleichung Albaner plus Moslem ist die verderblichste.
In Tel Aviv auf der Ben Jehuda Straße gehen wir in einen
Buchladen mit Antiquariat. Hier erwischt mich wieder meine
Vergangenheit. Dieser Buchladen lebt von den vielen deutschen
Erstausgaben, die Überlebende des Holocaust hier weggeben,
zu billigen Preisen: Bücher des Franz Werfel: "Das Lied der
Bernadette" und andere noch altmodisch und schön
eingebundene Werke von Stefan Zweig, Thomas und Heinrich Mann,
Jakob Wassermann, Schopenhauer und Wundt, Sven Hedin und Carl
Einstein. Das, was ich mich noch nicht traue zu sagen und
einzuschätzen, das letzte Wort in diesem kleinen Artikel
überlasse ich gern der Israelischen Kollegin Amira Hass
"Drinking the Sea at Gaza" Untertitel: "Tage und Nächte in
einem Land unter dem Belagerungszustand" (Owl Book New York
2000). Every Gazan - schreibt sie und sie hatte sich
entschlossen, als Reporterin das zu tun, was kein Israeli zu tun
wagt, unter den Messerstechern von Palästinensern zu leben -
"every Gazan regardless of religion, sex, age, became suspect, a
person capable of committing and act of terror. But like every
occupation force before it, Israel had still not learned that
resistance and terror are responses to occupation itself and to
the form of terror embodied by the foreign ruler".
Sie hatte die Schreie und die unterdrückten Tränen der
Palästinenser vom Gaza-Streifen immer wieder erlebt,
gehört, gefühlt. Wer wenn nicht die israelische
Journalistin Amira Hass konnte den Schrei dieser Menschen nach
einem "offenen Horizont jenseits des Eretz Chekkpoints" besser
verstehen?: "Nach Gesprächen mit anderen über anderes
als Ausreise-Genehmigungen, nach Freiheit, einfach Meilen und
Meilen ohne Stacheldraht und Roadblock zu fahren. Ich wusste
besser als alle, wie man den destruktiven Konsequenzen dieses
Eingeschlossenseins entkommen konnte. Tag für Tag sah ich
mit eigenen Augen, wie meine Freunde ihre Spontaneität und
ihre Impulse verloren, ja selbst manchmal ihre Sehnsucht,
irgendetwas zu tun und irgendwohin zu gehen, aus keinem anderen
Grund, als dazu Lust zu haben." Amira Hass zitiert einen Freund,
Ihabal-Ashqar: "Der Ärger mit Euch Israelis ist, dass ihr
glaubt, ihr wäret aus anderem Holz gemacht als wir
Palästinenser". Ständig hatte sie als Journalistin mit
Ausreise-Genehmigungen für Israel allein schon für
dringliche medizinische Fälle zu tun. Sie kann es auch dem
großen Idol der Israelis und dem sogenannten liberalen
israelischen Premierminister Yitzhak Rabin nicht ersparen. Sie
zitiert am Ende eines Kapitels den Schrei- und Bittbrief eines
palästinensischen Menschenrechts-Aktivisten, Hadas Ziv: Das
Leben von Muhammad Barud sei in der Tat nicht in unmittelbarer
Gefahr, "aber die Lebensqualität dieser Kinder wird jeden
Tag reduziert und weiter angegriffen, wenn die Behandlung jetzt
verweigert wird". Oft, so schrieb die Aktivistin, sei das Leben
eines Patienten nicht unmittelbar bedroht, aber die
Verzögerung einer Behandlung ende in einem
immerwährenden Leiden und reduziere manchmal die Chancen auf
eine volle Wiederherstellung. Hadas Ziv ist keine Unbekannte, das
heißt, ihre Stimme hat schon Gehör. "In any case
neither Rabin nor his spokespeople replied to the letter".
03. April 2002 / Rupert Neudeck
Aus pogrom-bedrohte Völker 211 (1/2002).