Bozen, Göttingen, Berlin, 25. April 2006
Am 26. und 27. April 2006 findet in Tomsk ein
deutsch-russisches Gipfeltreffen statt, auf dem der russischen
Gasmonopolist GAZPROM mit dem deutschen Chemiekonzern BASF einen
Vertrag abschließen wird, wonach dessen Tochterfirma
Wintershall (Kassel) mit 35% am wirtschaftlichen Erfolg des
Gas-Feldes Juschno Russkoje beteiligt wird. Auch der deutsche
Energiekonzern E.ON ist an dem Riesengeschäft mit 15%
beteiligt. Wintershall und E.ON sind beim geplanten Bau der
Ostsee- Pipeline GAZPROM-Partner. Allen Beteiligten ist seit
Monaten bewusst, dass die geplanten Großprojekte auf der
westsibirischen Halbinsel Jamal katastrophale Folgen für die
dort lebende indigene Gruppe der Jamal-Nenzen haben werden.
Altbundeskanzler Gerhard Schröder stattete dem "Autonomen
Bezirk der Jamal-Nenzen" Ende März 2006 in seiner neuen
Funktion als Aufsichtsratsvorsitzender des
Ostseepipelinekonsortiums einen Besuch ab, ließ sich
erklären, wie dort Gas gefördert wird und besuchte eine
Schule in Nowy Urengoi und ein Nomadenzelt.
Doch solche Freundschaftsbesuche können nicht darüber
hinwegtäuschen, dass die mit deutscher Beteiligung geplanten
Projekte Juschno Russkoje und Nowy Urengoj die Existenz der
Nenzen nachhaltig bedroht. Die meisten Nenzen leben im Autonomen
Kreis der Nenzen, im Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen und im
Autonomen Kreis Taimyr; insgesamt zählt diese
Nationalität 41.302 Angehörige. Bis heute bewahren sie
eine einzigartige, auf der Haltung großer Rentierherden
beruhende Lebens- und Wirtschaftsweise. Auf der Halbinsel Jamal,
wo 61% der russischen Gas- und 15% der Ölreserven lagern,
leben ca. 4.700 Nenzen als Nomaden. Hier gibt es für die
Rentiere intakte Winterweiden und eine hohe Artenvielfalt. Im
Winter treiben die Nenzen ihre Herden in Richtung Süden, um
in den Wäldern Schutz vor den kalten Winden der Tundra zu
suchen. Im Frühling ziehen sie zurück in die Mitte der
Halbinsel, wo die jungen Rentierkälber geboren werden. Im
Sommer halten sie sich an der Küste auf, da hier der Wind
die Mückenschwärme vertreibt. Die Rentierherde gibt den
Jamal-Nenzen Nahrung und Kleidung. Sie ist ihre
Existenzgrundlage.
Doch heute gleicht die Situation der Nomaden einem Wettlauf mit
der Zeit. Täglich müssen sie ihre Herden auf neue immer
kleiner werdende Weidegründe führen. Seit Jahren kommt
es bedingt durch den Klimawandel vermehrt zu Niederschlägen,
die gefrieren und das Rentiermoos - die Hauptnahrungsquelle der
Rentiere - unter Eisschichten verschwinden lassen. Die Errichtung
von Naturparks und Schutzgebieten führte zur weiteren
Reduzierung des verfügbaren Weidegrunds, ebenso
Änderungen der Rechtsgrundlage, die die Landfrage und den
Zugang zu Ressourcen regelt. Die nun geplante Ausbeutung der
Erdgasfelder würde zur weiteren Reduzierung der
Weideplätze führen. Bereits die Erkundungsarbeiten
richteten ungeheure ökologische Schäden an - dabei
wurden riesige Flächen von Rentiermoos beschädigt. Da
es sich dabei um eine ausgesprochen empfindliche Pflanze handelt,
die nur ca. 1 mm im Jahr wächst, ist die Regeneration der
beschädigten Flächen ein langwieriger Prozess mit vagen
Erfolgsaussichten.
Eine weitere große Gefahr für das Überleben der
Rentierherden und somit der Jamal-Nenzen stellt der geplante Bau
einer Eisenbahnstrecke auf der Jamal-Halbinsel dar. Sie soll die
wichtigsten Gasfelder mit den teils schon bestehenden, teils
geplanten Pipelines verbinden. Entlang der Eisenbahnstrecke
sollen künftig acht Pipelines verlaufen, die Anschluss an
bereits bestehende Erdgasleitungen weiter im Süden bzw. in
der Barentsregion gewährleisten, damit das Erdgas von der
Jamal-Halbinsel bis nach Westeuropa geliefert werden kann. Auch
in die deutsch-russische Ostseepipeline soll dann Gas aus Jamal
eingespeist werden. Die geplante Eisenbahnstrecke wird die
Winterweiden der Rentiere wie eine breite Schneise von den
Sommerweiden trennen. Der Bau der Eisenbahnstrecke und der
Pipelines wird Weidegrund beschädigen und den Zug der
Rentiere über die Halbinsel für mindestens zehn Jahre
unterbinden. Ein zusätzliches Problem ist die Bodenerosion.
Die Vegetationsschicht ist in Taiga und Waldtundra - ähnlich
wie in den Regenwäldern - hauchdünn. Ein durch den Wald
fahrender Geländewagen hinterlässt Zerstörungen,
deren Regeneration vermutlich an die hundert Jahre dauern
würde. Allein durch die Raupenfahrzeuge einer einzigen
Probebohrung wurden auf der Jamal- Halbinsel 40 000 ha
Rentierweide unwiederbringlich zur Wüste.
In der aktuellen Situation entscheidend ist die Einbindung der
indigenen Völker in alle Vorbereitungs- und
Durchführungsprozesse der Öl- und
Gasförderprojekte, so dass sie eigene Entscheidungen treffen
und auf die Aktivitäten Einfluss nehmen können. Schon
heute liegt eine Schwierigkeit darin, dass die nun auch mit
deutscher Beteiligung abgeschlossenen Projekte, in Nowy Urengoj
etwa, strategisch in die Erschließung der gesamten
Halbinsel eingebunden sind. Pläne dafür wie die Zukunft
aus Sicht der Konzerne aussehen soll, sind jedoch nicht
öffentlich zugänglich. Daher wissen die Indigenen
nicht, was auf sie zukommt und können darauf auch nicht
entsprechend reagieren. Klar ist zum Beispiel, dass noch keine
Umweltverträglichkeitsgutachten durchgeführt wurden und
es auch noch keine konkreten Verhandlungen mit den Führern
der Indigenen gegeben hat.
Forderungen: