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Indigene in Sibirien

Der schwierige Weg zu Selbstorganisation und Selbstbestimmung

Von Theodor Rathgeber

Das eigene Überleben zu organisieren und zu garantieren, wird indigenen Völkern nirgends leicht gemacht; von der Weiterentwicklung eigener Vorstellungen zur Lebensführung ganz zu schweigen. In der Russischen Föderation scheint vieles davon noch schwieriger zu sein. Die beunruhigende Rückkehr zum autoritären Staat und Minderung zivilgesellschaftlicher Beteiligung an lebenswichtigen Entscheidungsprozessen, die rücksichtslose Durchsetzung bei der Privatisierung öffentlicher Güter wie Wald, Wasser, Land und Wohnung, oder die Auslagerung indigener Sprache und Geschichte aus dem öffentlichen Unterricht selbst in gutwilligeren Landsregierungen wie der karelischen Republik lassen indigene Völker in der Russischen Föderation politisch dort stranden, wo andere - etwa in Lateinamerika - vor ungefähr 35 Jahren zu kämpfen begonnen haben.

Das ist nicht als Wertung auf einer Fortschrittsskala indigener Kämpfe zu verstehen, sondern soll die enorme Herausforderung andeuten, vor der die Angehörigen indigener Völker in Russland stehen. Schon während des Zusammenbruchs der Sowjetunion, im März 1990, gingen die indigenen Völker daran, sich eine Dachorganisation zu schaffen, den Zusammenschluss der indigenen Völker des Nordens, Sibiriens und des Fernen Ostens (RAIPON). Nach einem erfrischenden Auftakt setzten sich allerdings vermehrt Personen an die Spitze der Organisation, die ihre Herkunft aus der früheren Nomenklatura nicht verleugnen konnten. Dies mag geholfen haben, die Dachorganisation überhaupt am Leben zu halten. Es lag ja viel Organisationserfahrung vor, und manche Kontakte von früher halfen wohl auch, gefährliche Klippen zu umschiffen, ohne dass die staatliche Sicherheit sich bedroht fühlen musste - insbesondere vor und nach dem Putschversuch eine heikle Angelegenheit.

Auch auf dem internationalen Parkett trug RAIPON einiges dazu bei, dass in der Russischen Föderation lebende indigene Völker im Ausland und bei den Vereinten Nationen überhaupt wahrgenommen wurden. Die strikte Verteidigung indigener Interessen gegenüber dem Staat blieb bei RAIPON jedoch eher unterentwickelt. Verhandlungen mit der Tendenz zum Kompromiss wurde der Vorrang vor der Mobilisierung indigener Gemeinschaften gegeben. Das muss nicht grundsätzlich schlecht sein. Einige indigene Gemeinschaften wurden jedoch angesichts einiger spürbarer Konsequenzen solcher Verhandlungen skeptisch. Der drohende Verlust der Identität, der eigenen Lebensführung und der dazu notwendigen lokalen, natürlichen Umgebung schien mit Verhandlungen allein nicht aufzuhalten zu sein; vor allem, wenn Landrechte oder die Ausbeutung von Bodenschätzen auf dem Spiel standen. So entstanden vor ungefähr zehn Jahren Initiativen und Organisationen in einzelnen Regionen und Gemeinden, die ihre eigenen Interessen vehementer zu vertreten begannen. Die meisten hielten zwar Kontakt zu RAIPON, brachten jedoch Konflikte selbständig entweder vor Gericht oder auf die Straße, errichteten Blockaden und forderten den Staat und seine Behörden heraus.

Mit dem Informations- und Ausbildungsnetzwerk Lauravetlan (LIENIP - Lauravetlan Information and Education Network of Indigenous People) entstand ab 1997 ein regionaler Verbund, der sich auf die Einhaltung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte konzentrierte. Mit der Zeit konnten drei Informations- und Trainingszentren in der karelischen Republik, im Krasnojarsk Krai und in der Republik Altai eingerichtet werden. Seit 2003 organisiert LIENIP Trainingseinheiten von sechs Wochen, an denen bevorzugt junge Angehörige indigener Völker teilnehmen. LIENIP ist außerdem dabei, ein Netzwerk mit verschiedenen lokalen Initiativen aufzubauen und die Zusammenarbeit zwischen diesen zu fördern.

Die Trainingskurse, Seminare und Konferenzen beinhalten eine Übersicht über nationale und internationale Rechte indigener Völker, die Möglichkeiten der Förderung kultureller Aktivitäten wie etwa die Einrichtung eines Kulturzentrums oder den Aufbau eines lokalen, an die Schule angegliederten Museums, die Darstellung der sozialen Situation einzelner indigener Gemeinschaften durch die Kursteilnehmenden, die vereinzelte Hilfestellung zur Überwindung einer sozialen Krise in einer Familie, oder die Ausarbeitung gerichtsverwertbarer Informationen in Landrechtsstreitigkeiten (um nur einige Beispiele zu nennen). Die Teilnehmenden sollen in die Lage versetzt werden, die Interessen ihrer Gemeinschaft aktiv zu vertreten, zunächst vor allem gegenüber den lokalen und regionalen Behörden. Manche behördlichen Repräsentanten zeigen durchaus Sympathie für die Existenz indigener Völker. Sie benötigen jedoch die entschiedene Einmischung solcher aktiven Vertreter indigener Interessen, um sich bei den Planungen für die Region nicht in den Fallstricken eines rein industriellen Entwicklungsleitbildes zu verstricken.

Diese Förderung der lokalen Fähigkeiten und Möglichkeiten ist von grundlegender Bedeutung. Wer in der Bevölkerung Russlands je die Verzagtheit, Hoffnungslosigkeit und gleichzeitige Erwartungshaltung an den Staat erlebt hat, wird die enorme Leistung solcher Initiativen abschätzen können, den Menschen wieder die Fähigkeit zu eröffnen, sich selbst zu organisieren und schlicht ein positives Selbstwertgefühl zu entwickeln. Das Vertrauen in die eigene Kraft - in den 1980er Jahren unter dem Begriff Self-Reliance und heutzutage als Empowerment befördert - erweist sich unter den aktuellen Bedingungen als unschätzbar für jegliches Ansinnen, die Zukunft mit eigenen kulturellen Leitbildern ausstatten zu wollen. Nebenbei bilden solche Initiativen auch den Humus einer demokratisch ausgerichteten Alternative für Russland. Damit dies auch für die Zukunft weiter entwickelt und ein selbst bestimmtes Leben geführt werden kann, brauchen solche Initiativen nicht nur Unterstützung sondern aktive Zusammenarbeit.

Möglichkeiten dafür bieten Projekte wie Dokumentation und Archivierung indigener Sprachen, um sie für den Schulunterricht späterer Generationen zur Verfügung zu haben, das Sammeln und Austauschen von guten Erfahrungen mit lokalem Wirtschaften oder mit Erdölkonzernen. Die Zukunft indigener Völker in der Russischen Föderation ist mit vielen Fragezeichen befrachtet. Einige optimistisch stimmende Antworten geben Organisationen wie das Informations- und Ausbildungszentrum Lauravetlan.

Aus pogrom-bedrohte Völker 235 (1/2006)


Siehe auch:
* www.gfbv.it: www.gfbv.it/3dossier/siberia/sibirien.html | www.gfbv.it/3dossier/siberia/sibirien-yb.html | www.gfbv.it/3dossier/siberia/sibiri-de.html | www.gfbv.it/3dossier/siberia/sakhal-de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/2005/050808de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/2005/050120de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/04-1/040601de.html | www.gfbv.it/2c-stampa/03-1/030414de.html

* www: www.indigenous.ru | www.raipon.org | www.pacificenvironment.org | www.globalresponse.org | www.npolar.no/ansipra/english/index.html | www.ilo.org/ilolex/english/newratframeE.htm | www.ilo.org

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